Y. Cheng: Creating the "New Man"

Cover
Titel
Creating the "New Man". From enlightenment ideas to socialist realities


Autor(en)
Cheng, Yinghong
Erschienen
Anzahl Seiten
265 S.
Preis
$ 65.00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Lorenz Erren, Deutsches Historisches Institut Moskau

Der Kommunismus war eine der einflussreichsten politischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts – nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt. Das bevölkerungsreichste Land der Erde wird bis heute von einer Partei beherrscht, die zumindest nominell kommunistisch geblieben ist und deren innere Struktur auf den Stalin-Adepten Mao Zedong zurückgeht – einen skrupellosen Tyrannen, dessen Lehre auch im demokratischen Westen erstaunlich viele Anhänger fand. Yingong Chengs Buch vom Ideologem des „Neuen Menschen“ ist ein Versuch, Kommunismusgeschichte aus einer globalen Perspektive zu schreiben.

Die ideologischen Ursprünge des „Neuen Menschen“ verortet der Autor bei europäischen Aufklärern wie Claude-Adrien Helvetius oder Jean-Jacques Rousseau, die an die unbeschränkte Macht der Erziehung glaubten und den Menschen Freiheit nicht nur gewähren, sondern notfalls auch aufzwingen wollten. Die Schreckensherrschaft Robespierres war ein erster Versuch, dieses Programm zu realisieren. Marx erklärte 1847 „die ganze Geschichte“ zur „fortgesetzten Umwandlung der menschlichen Natur“ (S. 13).1 1863 veröffentlichte Nikolai Tschernyschewski den Roman „Was tun?“, in dessen Hauptfigur Rachmetow Lenin und viele andere sozialistische Revolutionäre ein Vorbild sahen, dem sie auch persönlich nacheiferten. Für sie war der „Neue Mensch“ ein Revolutionär, der alle Bindungen abgestreift hatte. Als Einzelgänger hatte er weder eigene Interessen noch ein Familienleben. Er trieb Sport und liebte niemanden.

Nach 1917 versuchten die Bolschewiki, mit staatlichen Machtmitteln selbstlose Neue Menschen heranzuziehen, rückten aber von diesem Ziel bald wieder ab. Die Zäsur datiert Cheng auf das Jahr 1931, als Stalin die Rückkehr zu einer leistungsbedingten Lohndifferenzierung verkündete. Aus späterer chinesischer Sicht bedeutete gerade dies den Verzicht auf die Schaffung eines „Neuen Menschen“. Denn dieser würde nur aus selbstlosen Motiven arbeiten.

Die Absicht, einen Neuen Menschen zu schaffen, hatte für Mao Zedong ungleich höhere Bedeutung als für Stalin. Über 50 Jahre lang blieb sie zentrales Anliegen seiner Politik. Dabei konnte er zunächst an chinesische Intellektuelle wie Liang Qichao (1873-1929) anknüpfen, die einen Mentalitätswandel als Voraussetzung zur nationalen Selbstbefreiung ansahen. Doch bald entwickelte Mao eine eigene Vorstellung vom Neuen Menschen. Im selbstlosen Menschen, der sich von allen individuellen Egoismen befreit hatte, sah Mao den eigentlichen Endzweck der Revolution. Während des Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges erarbeitete die KPCh 1936-1947 in Yan’an eine neuartige Methodik der politischen Umerziehung namens „Gedankenreform“ (im Westen auch als „Gehirnwäsche“ bezeichnet), der eigene Kader wie auch einige gefangene Feinde unterzogen wurden. Den internierten Zöglingen wurde Aufrichtigkeit, Selbstkritik, Selbstverurteilung und Selbsterniedrigung abverlangt, was bei vielen zu Stress, zu Depressionen oder gar zum Suizid führte. Wer aber alle Prozeduren überstanden hatte, erhielt eine positive Abschlussbeurteilung und fühlte sich dann „wie neugeboren“. Cheng hält die „Gedankenreform“ für eine äußerst wirksame Umformungstechnik und einen Vorboten der Kulturrevolution (1966-1976). Sie stand zwar in der Tradition (neo-)konfuzianischer Erziehungspraktiken, war selbst aber Instrument zur Zerstörung des konfuzianischen Wertesystems, insbesondere der patriarchalischen Pietät. Viele junge Leute sagten sich von ihren Eltern öffentlich los, änderten ihren Familiennamen und brachen die Beziehungen ab.

Maos Selbstlosigkeitsideal wurde der Bevölkerung durch biographische Erzählungen nahegebracht, die modernen Heiligenlegenden ähnelten. Nicht nur im Krieg sollte der Neue Mensch sein Leben riskieren, sondern auch im Arbeitsalltag – etwa wenn er dadurch eine Maschine vor der Zerstörung retten konnte (S. 77). Er sollte aber nicht nur heroisch, sondern auch demütig sein wie der Soldat Lei Feng, der seinen schlafenden Kameraden nachts heimlich die Socken wusch. Im Gegensatz zu Stalin empfand Mao tiefen Hass auf die städtische Kultur. Er wollte nicht Bauern zu Facharbeitern ausbilden, sondern den urbanen Bildungsschichten ihren Dünkel austreiben. Darum verschickte er junge Städter in die Volkskommunen, wo sie genau so elend vegetieren sollten wie der Rest der Bevölkerung. Selbst das Zähneputzen war dort verpönt – weil die Bauern es ja auch nicht taten (S. 118). Vorübergehend waren die Volkskommunen auch darauf angelegt, die patriarchalische Familie durch eine kollektive Lebensweise zu ersetzen.

Die Kulturrevolution war laut Cheng eine Reaktion auf die „revisionistische“ Politik Nikita Chruschtschows. Mao befürchtete, dass seine künftigen Nachfolger an seinem Erbe einen ähnlichen „Verrat“ begehen könnten. Darum versuchte er in seinen letzten Lebensjahrzehnten, einen Generationswechsel der Kader und zugleich einen unumkehrbaren Kulturwandel zu forcieren.

Im letzten Teil des Buches hebt Cheng den Einfluss der maoistischen Ideologie auf die kommunistisch-revolutionären Bewegungen auf Kuba, Lateinamerika und Ostasien hervor.

Chengs Buch könnte westliche Zeithistoriker dazu anregen, dem Maoismus als Vergleichsmodell zum Stalinismus wieder mehr Beachtung zu schenken. In China wirken stalinistische Ideologeme bis heute fort. So wurde noch vor kurzem ernsthaft darüber diskutiert, wer der heutigen Jugend besser zum Vorbild tauge: Microsoft-Gründer Bill Gates oder Pawel Kortschagin, der Held des sowjetischen Romans “Wie der Stahl gehärtet wurde” (S. 36).

Viel mehr Gutes lässt sich über dieses Buch leider nicht sagen. Wer ein Thema wie dieses auf 260 Seiten abhandeln will, muss eine große Syntheseleistung erbringen. Mit einer allzu oberflächlichen Herangehensweise hingegen führt man den globalgeschichtlichen Ansatz ad absurdum.

Der Autor macht es sich zu einfach, wenn er zum Schluss konstatiert, dass die Schaffung des Neuen Menschen nirgendwo gelungen sei. Denn die “Natur des Menschen” mag per definitionem unveränderlich sein, gesellschaftliche Wertesysteme und Verhaltenserwartungen sind es nicht.2

Die heutige Geschichtswissenschaft hält viele methodische Ansätze bereit, die es erlaubt hätten, das Thema von dieser Seite her genauer zu untersuchen. Welche Bereitschaft zeigten die Bevölkerungen, neue Identitätsangebote anzunehmen? Worin „Selbstlosigkeit“ überhaupt besteht, versteht sich ja keineswegs von selbst. Daher ist es besonders traurig, dass Cheng kaum die Möglichkeit nutzt, die variierenden Typen des “Neuen Menschen” in den jeweiligen Kulturen zu vergleichen: In Pol Pots Kambodscha war dieser ein Waisenkind, das mit den Eltern auch die Bindung an den Kapitalismus verloren hatte – in Nicaragua hingegen ein Vater, der seinen Macho-Habitus ablegte und sich stattdessen um seine Familie kümmerte (S. 192-195).

Auch in handwerklicher Hinsicht unterschreitet das Buch übliche Standards. Im ersten Abschnitt über die Sowjetunion werden krasse Mängel deutlich. Cheng benutzt fast nur veraltete Literatur, während er maßgebliche Arbeiten von Sheila Fitzpatrick, Jochen Hellbeck, David Hoffmann und vielen anderen schlicht ignoriert. Dass zentrale Fragen der Stalinismusforschung (wie etwa das Verhältnis von revolutionärer Subjektivität und Terrorpolitik) gar nicht erst angesprochen werden, kann da nicht verwundern.

Aber auch beim Kapitel zu China erscheint die Literaturauswahl verdächtig dünn.3 Wie in den anderen Abschnitten fehlt auch hier eine Einführung in den Forschungsstand ebenso wie eine Beschreibung der Quellensituation. Da einige der von Cheng zitierten Erinnnerungsschriften erst kürzlich in China erschienen sind und offenbar nicht in westlichen Sprachen vorliegen, wäre letztere gerade auch für Nichtsinologen von Interesse gewesen. Die freundlichen Danksagungen des Autors an zahlreiche Personen (S. ix-x) im Vorwort können nicht darüber hinwegtäuschen, dass diesem Buch eine adäquate Betreuung durch einen Historiker gefehlt hat und es eher für Leute geschrieben wurde, die es vermutlich nicht so genau wissen wollen.

Der Rezensent möchte sich an dieser Stelle dafür aussprechen, in Deutschland zumindest einen ordentlichen Lehrstuhl mit klarer Ausrichtung auf die neuere und neueste Geschichte Chinas einzurichten.

Anmerkungen:
1 Vgl. Karl Marx, Das Elend der Philosophie, Stuttgart 1885; der Text ist zu finden unter <http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_063.htm> (30.03.2010).
2 Auch die von ihm selbst eingangs zitierte sechste Feuerbachthese von Marx, (der zufolge das menschliche Wesen in den sozialen Beziehungen besteht) hätte dem Autor diesen Gedanken näher bringen können.
3 Es fehlen selbst leicht zugängliche und von Stalinismus-Historikern oft zitierte Quellen wie die Erinnerungen von Yueh Sheng, Sun Yat-sen University and the Chinese Revolution. A personal account, Kansas 1971.

Redaktion
Veröffentlicht am
09.04.2010
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/