B. Willems u.a. (Hg.): A Transnational History of Forced Migrants in Europe

Cover
Titel
A Transnational History of Forced Migrants in Europe. Unwilling Nomads in the Age of the Two World Wars


Herausgeber
Willems, Bastiaan; Palacz, Michal Adam
Erschienen
London 2022: Bloomsbury
Anzahl Seiten
296 S.
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Maren Röger, Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO), Leipzig

Nachdem staatlich erzwungene Massenmigrationen über lange Zeit überwiegend im nationalstaatlichen Rahmen erinnert und beforscht wurden, oftmals den limitierten und national verengenden Termini folgend, hat die Forschung seit mindestens zwei Jahrzehnten den komparativen und negativ verbindenden Aspekt entdeckt. Darstellungen wie Norman Naimarks Fires of Hatred: Ethnic Cleansing in Twentieth-Century Europe1, Philipp Thers Die dunkle Seite der Nationalstaaten. „Ethnische Säuberungen“ im modernen Europa2 oder das Lexikon der Vertreibungen, herausgegeben von Detlef Brandes, Holm Sundhaussen und Stefan Troebst 3 bieten Überblicke über eine politische Praxis in Europa, die über mehrere Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts als probates Mittel zur politischen Raumordnung galt, meist als kleineres Übel zu andauernden ethnisch-national gedeuteten Konflikten. Bastiaan Willems und MichaƗ Adam Palacz, Historiker an britischen Universitäten, schließen mit dem hier zu besprechenden Band an die jüngere komparative Forschung an und bieten eine „transnational history of forced migrants in Europe“.

Der Begriff der „forced migrants“ (S. 1–10, hier S. 3), so lernen wir schnell in der Einleitung, wird aber ungleich weiter gefasst als in zahlreichen anderen Publikationen, wo damit Betroffene staatlich induzierter Massenmigration aufgrund ethnischer oder religiös-nationaler Zuschreibungen bezeichnet werden. In diesem Band umfasst er Personengruppen, die kriegerischen Konflikten entkommen wollten, wie sie die europäische Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Genüge sah. Er umfasst weitere Personen, die vor Verfolgung und politischen Umwälzungen flohen, so dass die Beiträge von der Umsiedlung von Bevölkerungsgruppen im Habsburger und Russländischen Reich über die ukrainische Emigration zur Zeit der Weimarer Republik und spanische Republikaner im französischen Exil während des Krieges bis hin zur Umsiedlung von Donauschwaben nach Brasilien reichen. All diese – und noch weitere – Personengruppen seien zu „unfreiwilligen Nomaden“ (S. 1) geworden, hätten jeweils das politische Klima des Landes geprägt und könnten als Sonde dienen, um politische Einstellungen in den Ländern freizulegen. Ob der Nomadenbegriff als übergeordneter Begriff weiterführt, bleibt nach der Lektüre offen. Er scheint hier als Ersatzbegriff für anderweitig als unbefriedigend eingeschätzte Begrifflichkeiten gesetzt, wobei Karl Schlögels prominent betitelter Essay Planet der Nomaden4 (2006) unerwähnt bleibt.

Ein „vierdimensionales Modell der Diaspora“ (S. 4f.) schlagen Willems und Palacz vor, um Flucht, Exil und Vertreibung als transnationale und europäische Verflechtungsgeschichte zu begreifen. Zu untersuchen seien die Dimensionen Aufnahmegesellschaft, Vaterland und Diaspora, die bereits wissenschaftlich eingeführt, aber oft zu homogenisierend untersucht worden seien. An dieser Stelle plädieren die Herausgeber für mehr Offenheit, die Anerkennung von Nicht-Verbindungen oder das Auflösen von Verbindungen. Als einen neuen Punkt in ihrem Modell führen sie die Interaktion mit anderen Diasporagruppen ein.

In den einzelnen Beiträgen wird das Modell aufgegriffen, tangiert oder ignoriert – wie es Sammelbände selbst bei intensivster Redaktionsarbeit eben an sich haben. In der Gesamtlektüre zeigt sich jedoch eindrücklich, dass das frühe 20. Jahrhundert schon ein „Europe on the move“ vorbrachte, wie es der Migrationshistoriker Eugene Kulischer für die unmittelbare Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg inzwischen klassisch formulierte.5 Zeitlich-kategorial bietet der Sammelband vier Schwerpunkte: erstens die Internierten und Evakuierten im Ersten Weltkrieg, zweitens die politischen Emigrant*innen in der Zwischenkriegszeit, drittens die Wanderungsbewegungen unter dem Eindruck faschistischer Politiken, viertens die Flüchtlinge im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei sehen die Autor:innen des ersten Teils, Serhiy Choliy und Egor Lykov, eine deutliche Zäsur im Ersten Weltkrieg, die vor allem die Transformation der Kriegsführung und die Affektion der Massengesellschaft betrifft. So sehr die nationalstaatliche Verengung in fast allen Beiträgen dieses – und der anderen – Teile zum Tragen kommt, wie sie auch in der oben angegebenen Literatur stark ausgeprägt ist, so wertvoll sind empirische Befunde, die Intersektionalität anzeigen. So arbeitet Lykov in seinem Beitrag zu den Internierten auf dem Gebiet des Habsburger Imperiums heraus, dass die Klassifizierung entlang ethnisch-nationaler und sozialer Kriterien vorgenommen wurde. Interessant sind auch seine Befunde zu den Grundlagen der Internierung: Bei der theoretischen Einordnung des 20. Jahrhunderts als Jahrhundert der Gärtnerstaaten, als Jahrhundert des ethnic and social engineering, in dem politische Entitäten versuchten, die Bevölkerung zu steuern und zu kontrollieren, mag mitunter übersehen werden, wie stark Fehlinformationen und Gerüchte in die Grundlagen der Kontrollpolitiken einflossen – mit direkten Folgen für zahlreiche Individuen.

Die Beiträge im zweiten Teil entwickeln dort ihre Stärke, wo sie komparativ argumentieren – so reißt Veronika Weisheimer die unterschiedlichen politischen Haltungen der Aufnahmeländer Deutschland, Polen und der Tschechoslowakei an und arbeitet die (negative) Verflechtung zwischen unterschiedlichen diasporischen Gruppen heraus. An den benannten Leerstellen, etwa dem Abwenden von Diasporaaktivität, kann meines Erachtens die allgemeine Migrationsgeschichte weitermachen: Wie kann das Nicht-Einschreiben in diasporische Gemeinschaft, politische Unsichtbarkeit und individuelle Ignoranz konzeptualisiert werden?

Der Band ist insgesamt von politikgeschichtlichen Zugängen dominiert, die ihren Blick auf staatliche und/oder Gruppenpolitiken richten. Entsprechend sticht der Beitrag von Jill Meißner-Wolfbeisser heraus, die eine Person – Stefi Kiesler – in den Fokus stellt, die durch ihre bibliothekarische Tätigkeit im New Yorker Exil zur intellektuellen und darüber auch persönlichen Beheimatungsinstanz vieler erzwungener Migrant*innen werden konnte. Sie zeigt an diesem Beispiel die sinn- und gemeinschaftsstiftende Tätigkeit von Bibliotheken in der Migrationssituation auf, was dazu inspirieren könnte, die Forschung zu Wissen und Wissensproduktion stärker mit migrationsgeschichtlichen Forschungsansätzen zu verschränken.

Insgesamt zeigt der Band durch die dichten Einzelstudien eindrücklich auf, dass erzwungene Migration ein zentrales und – in negativer Verflechtung – verbindendes Merkmal der neueren und neuesten Geschichte Europas ist. Damit kann er eine ohnehin dichte Forschungslandschaft erneut bereichern. Auf methodischer Ebene hält er einige interessante neue Anregungen zur Untersuchung der Verflechtung der Diasporagruppen und vor allem zur Skalierung ihrer Aktivität bereit. Gerade die Nicht-Aktivität scheint eine in der Migrationsforschung ausbaufähige Perspektive zu sein.

Anmerkungen:
1 Norman M. Naimark, Fires of Hatred. Ethnic Cleansing in Twentieth-Century Europe, Cambridge 2001.
2 Philipp Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten. »Ethnische Säuberungen« im modernen Europa, Göttingen 2011.
3 Detlef Brandes / Holm Sundhaussen / Stefan Troebst (Hrsg.), Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts, Wien 2010.
4 Karl Schlögel, Planet der Nomaden, Berlin 2006.
5 Vgl. Eugene Kulischer, Europe on the Move. War and Population Changes, 1917–47, New York 1948.

Redaktion
Veröffentlicht am
08.11.2024
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/