Cover
Titel
Transcultural Things and the Spectre of Orientalism in early modern Poland-Lithuania.


Autor(en)
Grusiecki, Tomasz
Erschienen
Anzahl Seiten
264 S.
Preis
£ 85.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Jagodzinski, Abteilung Handschriften und Sondersammlungen, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

Noch eine Monografie über Transkulturalität1, handelnde Dinge2 und den Orientalismus des frühneuzeitlichen Polen-Litauens3? Auf den ersten Blick erscheinen diese Themen – zumindest aus Sicht einer Kunsthistorikerin mit Schwerpunkt Vormoderne und östliches Mitteleuropa – bereits recht erschöpfend behandelt. Jedoch weist ein zweiter Blick auf den Buchtitel auf die Neubewertung hin, die Tomasz Grusiecki unternimmt: In seiner Publikation geht es um „the Spectre of Orientalism“ – also das „Phantom“ oder „Schreckgespenst“ des Orientalismus. Und schon hier fragt man sich, welche dieser unterschiedlichen Konnotationen sich abzeichnen wird. Bedeutet „Phantom“ doch eher eine Negierung des Phänomens, drückt „Schreckgespenst“ stärker das Unbehagen darüber aus.

Tomasz Grusiecki lehrt an der Boise State University im Fachgebiet Frühneuzeitliche europäische Kunst und materielle Kultur. Die Leitfrage seiner Monografie ist, wie Zeugnisse der materiellen und visuellen Kultur im Prozess der Kreierung einer eigenen Identität bei den heterogenen Eliten der polnisch-litauischen Adelsrepublik wirkten und wie ursprünglich fremdländische Dinge es schafften, als ureigene, lokale wahrgenommen zu werden und damit Gemeinschaft zu stiften. Der Schwerpunkt seines Interesses liegt auf der Suche nach „Wegen statt Wurzeln“ (S. 19) – also der Entwicklungsfähigkeit von Gebrauch und Konnotation anstelle fixer Zuordnungen.

Grusiecki bewegt sich in einem in (Ostmittel-)Europa viel, im angloamerikanischen Raum weniger beackerten Feld und ordnet seine Studie wohlüberlegt in diese Forschungslandschaft ein. Dabei beginnt er mit dem Pionier der polnischen Orientalismusforschung, Tadeusz Mańkowski, der als erster die außergewöhnliche Rolle des Orients in der polnisch-litauischen Kultur und das Phänomen „Sarmatismus“ beschrieben hat. Er würdigt Mańkowskis Verdienste und widmet ihm sogar das Buch, stellt aber das seit ihm gültige Forschungsparadigma von der Selbstorientalisierung des polnisch-litauisch-ruthenisch-preußischen Adels mitsamt der daraus folgenden Stellung zwischen Europa und Asien auf den Prüfstand.

Der Verfasser berücksichtigt die Vorarbeiten unter anderem von Claire Farago, Jan Białostocki und Thomas DaCosta Kaufmann sowie Larry Wolff und Maria Todorova, die zum einen die Beweglichkeit und Wirkung von Kulturobjekten in die Debatte, zum anderen die Kulturgeschichte Ostmitteleuropas samt der Orientalisierungsproblematik in den anglophonen Forschungsraum gebracht haben. Deutliche Berührungspunkte gibt es mit den neuesten Untersuchungen zum Thema des globalen (Objekt-)Transfers in der Frühen Neuzeit. Hier ist in erster Linie das DFG-Schwerpunkt-Programm „Transottomanica. Eastern European-Ottoman-Persian Mobility Dynamics“ (2017–2023) zu nennen, das circa 30 Projekte mit Forschungsfragen zur Mobilität von Ideen, Personen und Dingen sowie deren Auswirkungen beinhaltete.4

Die handlungsleitende und identitätsprägende Bedeutung von Dingen ist für Grusiecki zentral. Die Kulturobjekte und mit ihnen verknüpften Prozesse analysiert er für seine Fragestellung in vier Kapiteln anhand von vier Erscheinungsformen der materiellen Kultur, die das Image Polen-Litauens der Frühen Neuzeit nach innen wie nach außen geprägt haben: 1. Landkarten, 2. Kleidung, 3. Gesandtschaftsdarstellungen, 4. die sogenannten Polnischen Teppiche. Diese Zusammenstellung wirkt zunächst etwas disparat, aber sie erhellt prägnant unterschiedliche Aspekte der Selbst- und Fremdidentifizierung.

Im ersten Kapitel legt Grusiecki überzeugend dar, dass der mittels der Kartografie gepflegte Ursprungsmythos des Adels der Rzeczpospolita, der sich auf das im heutigen Iran zu verortende „Sarmatien“ bezog, nicht als Ausdruck von Orientalisierung zu sehen ist. Viel wesentlicher als die geografische Lokalisierung der gedachten Vorfahren seien bei der Begründung der eigenen Herkunft – wie bei allen anderen frühmodernen Entitäten Europas – Alter und Mythos gewesen. Mit der Schaffung eines solchen legendären Ursprungs reihten sich die Eliten der Adelsrepublik gleichwertig in den Völkerreigen ein und bewiesen laut Grusiecki eher ihre Europäizität.

Am Beispiel der polnisch-litauisch-ruthenischen Adelstracht wird im zweiten Kapitel die Frage virulent, wie deren exotisches Aussehen widerspruchslos als heimisch adaptiert und Ausdruck einer sich okzidental bekennenden Kleidertradition werden konnte. Nach Grusiecki entsprang die Tracht aus der losen Adaption osmanischer Modelle. Er erklärt dies mit der außergewöhnlich langen Koexistenz verschiedenster Kleiderstile in Polen-Litauen, die erst spät amalgamierten und eines von mehreren möglichen Mustern dominant herausbildeten. Grundlage war, dass es sich bei der Rzeczpospolita nicht um ein ethnisch oder religiös, sondern auf rechtlicher Basis begründetes Gemeinwesen handelte, sodass äußerlich weitgehende Vielfalt ohne Exklusions- oder Assimilationsmechanismen möglich war.

Das dritte Kapitel analysiert Selbst- und Fremdwahrnehmung der Vertreter der Rzeczpospolita. Hierfür legt Grusiecki die in Stichfolgen und Berichten bekannt gewordenen Gesandtschaftseinzüge von Jerzy Ossoliński (1633) und Łukasz Opaliński (1645) in Rom und Paris zugrunde. Für die Imageprägung waren diese besonders maßgeblich, weil sie am weitesten verbreitet wurden. Mit der auffälligen Kleidung und Haartracht, zahlreichen Kriegstrophäen aus dem Osmanischen Reich und betont viel Prunk habe man aktiv das Bild eines Siegers und des Exotischen evoziert und stolz den westlichen Nationen entgegengesetzt. Die äußerliche Andersartigkeit („distinctiveness“) nahm man gegenseitig wahr und betrachtete einander mit einer Mischung aus Bewunderung sowie Abschätzigkeit. Selbst- und Fremdwahrnehmung waren dabei nicht deckungsgleich. Während die Adligen der Rzeczpospolita sich selbst als „anders“, „althergebracht“, aber zugleich „europäisch“ sahen, wurden sie von den westeuropäischen Zeitgenossen als „nicht-so-europäisch“, „rückständig“ oder gar „barbarisch“ interpretiert.

Im vierten Kapitel wird das Thema transkultureller Dinge in seinem Kern getroffen. Die sogenannten Polnischen Teppiche waren entweder iranischer Herkunft oder nach iranischen Vorbildern in Polen-Litauen gefertigt und unabhängig von Aussehen oder Fertigungsort in ganz Europa bis ins 19. Jahrhundert hinein als „polnisch“ bezeichnet worden. Sie gehörten somit gleichzeitig mehreren Welten an, in denen ihnen unterschiedliche Bedeutungs- und Funktionszusammenhänge zukamen. Dadurch seien die Teppiche, so Grusiecki, nicht länger als Ausdruck von Verflechtung, sondern von Verschmelzung („merge“) beziehungsweise Transkulturalität zu betrachten.

Indem Grusiecki die Gültigkeit von „Orientalismus“ und „Orientalität“ als Analysemodell hinterfragt, betrachtet er – anders als zu Mańkowskis Zeit, in der man das Konzept von Transkulturalität noch nicht kannte, – die Faktoren Beweglichkeit, Verhältnismäßigkeit („commensurability“, S. 137) und Simultanität mit, statt in eher statischen und binären Kategorien zu argumentieren. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die visuellen und materiellen Zeugnisse der frühneuzeitlichen polnisch-litauisch-ruthenischen Adelskultur weder von Orientalität noch von Selbstorientalisierung zeugen (also ein Phantom!), sondern eine Manifestation lokaler Normalität seien, die deshalb ohne Paradoxon zugleich exotisch und lokal waren (S. 199) – eben transkulturell. Dies gründete auf komplexen, „aufgeschichteten“ Identitäten, bei deren Analyse monokulturelle, eindimensionale Erklärungen nicht weiterhelfen. Ein „Schreckgespenst“ ist hingegen nicht zu erblicken.

Am Ende steht das Postulat, dass transkulturelle Dinge dazu anregen, über binäre Denkmuster hinauszugehen. Angesichts der wiedererstarkenden Tendenzen bereits früher verbreiteter dogmatischer Nationalismen mit teils aggressiven Exklusionsnarrativen kann mit Grusiecki nicht genug betont werden, dass die Einzigartigkeit einer Gruppe viel häufiger aus der sukzessiven Adaption, Aufnahme und Neuvermischung verschiedener Elemente als aus deren Ablehnung entsteht.

Lesenswert ist Grusieckis Studie sowohl für (Kunst-)Historiker:innen und Forschende im Bereich visueller und materieller Kulturen sowie transkultureller Studien, für welche die alte Adelsrepublik geografisch, zeitlich, thematisch oder sprachlich noch terra incognita ist. Aber besonders für die Ostmitteleuropa-Community lohnt das Buch uneingeschränkt als frischer Impuls, überkommene Deutungsmuster einmal neu zu überdenken.

Anmerkungen:
1 Im deutschsprachigen Raum seit den 1990er-Jahren etabliert: Wolfgang Welsch, Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen, in: Irmela Schneider / Christian W. Thomson (Hrsg.), Hybridkultur. Medien, Netze, Künste, Köln 1997, S. 67–90. Seit 2010 erscheint in Heidelberg das „Journal of Transcultural Studies“. Außerdem sind mittlerweile verschiedene Einführungen erschienen, zum Beispiel Andreas Langenohl / Ralph Poole / Manfred Weinberg (Hrsg.), Transkulturalität. Klassische Texte, Bielefeld 2015.
2 Das Thema kam Anfang der 2000er-Jahre unter anderem in der Ethnologie, Archäologie und Kunstwissenschaft auf: Vgl. zum Beispiel Lieselotte E. Saurma-Jeltsch / Anja Eisenbeiß (Hrsg.), The power of things and the flow of cultural transformations. Art and Culture between Europe and Asia, Berlin 2010; Janet Hoskins, Agency, biography. And objects, in: Christopher Tilley u.a. (Hrsg.), Handbook of Material Culture, London 2006, S. 74–84. Vgl. als Beispiel für eine jüngere Veröffentlichung: Antoni Ziemba / Jan Burzyński, The Agency of Art Objects in Northern Europe, 1380–1520, Frankfurt am Main 2021.
3 Mit Überschneidungen waren die Themen Orientalismus und Sarmatismus naturgemäß in der polnischen Forschung dominant. Dies begann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter anderem mit Tadeusz Chrzanowski sowie Tadeusz Mańkowski und erhielt Aufschwung mit dem Jubiläum um den Entsatz von Wien 1683, zum Beispiel Ełżbieta Karwowska (Hrsg.), Orient i orientalizm w sztuce, Kraków, grudzień 1983, Kraków 1986. Um die Jahrtausendwende wurden die Themen erneut diskutiert: Hans-Jürgen Bömelburg, Sarmatismus – Zur Begriffsgeschichte und den Chancen und Grenzen als forschungsleitender Begriff, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 57 (2009) 3, S. 402–408; Magdalena Długosz / Piotr O. Scholz (Hrsg.), Sarmatismus versus Orientalismus in Mitteleuropa / Sarmatyzm versus Orientalizm w Europie Środkowej, Berlin 2012.
4 Vgl. zum DFG Priority Programme Transottomanica: https://www.transottomanica.de/de (11.06.2024). Von den Publikationen sei exemplarisch genannt: Arkadiusz Blaszczyk / Robert Born / Florian Riedler (Hrsg.), Transottoman Matters. Objects Moving through Time, Space, and Meaning, Göttingen 2021.

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13.09.2024
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