D. Heller-Roazen: Der Feind aller

Title
Der Feind aller. Der Pirat und das Recht


Author(s)
Heller-Roazen, Daniel
Published
Frankfurt am Main 2010: S. Fischer
Extent
352 S.
Price
€ 22,95
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Andreas Lotz, Humboldt-Universität zu Berlin

Eine im Juni 2010 vorgestellte Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung kam zu dem Ergebnis, dass der Kampf gegen die Piraterie vor der Küste Somalias geringe Erfolgsaussichten habe, weil an diesem Geschäft zu viele Beteiligte ein vitales Interesse zeigen. Das für gelöst erklärte Problem der Seeräuberei hat sich demnach keineswegs erledigt, sondern liegt mit einer neuen Dringlichkeit vor. Die Tatsache, dass die tot geglaubte Figur des Piraten erneut aktuell ist, wirft Fragen auf. Einige davon bilden den Ausgangspunkt für Überlegungen in Daniel Heller-Roazens Untersuchung, die er als eine Genealogie der Idee, dass der Pirat ein „Feind aller“ sei, versteht.

Er gibt einleitend an, die verschiedenen rechtlichen, politischen und philosophischen Bedingungen bestimmen zu wollen, die zur Entwicklung dieser Idee beitrugen. Wenig überraschend ist der Umstand, dass seine Herangehensweise an die Giorgio Agambens erinnert – schließlich übersetzte der vergleichende Literaturwissenschaft lehrende Heller-Roazen dessen Bücher ins Englische. In seiner ersten auf Deutsch vorliegenden Publikation befasste er sich weder mit politischen noch rechtsphilosophischen Fragen, sondern reflektierte über das Vergessen der Sprache1, um sich nun im zweiten, ins Deutsche übertragenen Buch dem „Pirat als Paradigma“ zuzuwenden.

Den Ausgangspunkt hierfür bildet die ins Paradoxe abgleitende Formulierung Ciceros, dass der Pirat als „gemeinsamer Feind aller“ (communis hostis omnium) 2 kein Teil der – vom römischen Denker eigentlich als ‚unermesslich‘ beschriebenen – Gemeinschaft des Menschengeschlechts sei. Denn, obwohl der Pirat als sprach- und vernunftfähig anerkannt werde, befinde er sich jenseits aller Grenzen der Pflicht, da mit ihm weder Treueverhältnis noch Einbindung durch Eid möglich seien. Bevor Heller-Roazen die nicht widerspruchsfreien Ursprünge des Piratenwesens – vor allem begrifflich – beleuchtet, befasst er sich mit dessen zeitgenössischem Comeback. Wie er anschließend zeigt, ist in der Antike das Verhältnis von politisch-etablierter Macht zur Seeräuberei keinesfalls kohärent, wie das Institut der sanktionierten Kaperei verdeutlicht. In dieser Epoche verbleibend, befasst er sich im nächsten Schritt mit dem juridischen Status des fließenden Wassers, wobei er die Grenze zwischen Land und Meer als eine Art Schwelle herausarbeitet, die den Übergang von einem Rechtsbereich in einen anderen markiert. Wie der Autor feststellt, folgen daraus einige rechtliche Fragen bezüglich dessen, was auf See transportiert wird (Gegenstände, Menschen). Die begriffliche Differenzierung zwischen illegitimem Plündern und legitimem Raub auf See, trotz des vollkommenen Bewusstseins dieser Unterscheidung, bildet sich erst relativ spät auf der Basis einer förmlichen Befugnis zum Kapern durch eine souveräne Macht aus. Daran anknüpfend zeichnet Heller-Roazen den zwielichtigen Einsatz solch einer Sanktionierung durch etablierte Machthaber sowie die schrittweise Abschaffung dieser Art von Legitimierung nach.

Als nächstes erörtert er die verschiedenen Bedeutungen der Bezeichnung „Feind“ und die entsprechenden rechtlichen Einordnungen, wobei der Autor auch hier auf die entscheidende Wirkung souveräner Macht stößt, welche über die Unterscheidung zwischen einem anerkannten Feind und einem Banditen bestimmt. Anschließend werden die Diskussion bezüglich der strittigen Rechtsfrage nach der Hoheit über Meere und die juridische Theorie der Schiffe und Prinzipien der rechtlichen Zuständigkeit auf See nachgezeichnet, gefolgt von einem Exkurs über den Einsatz von Unterseeboten und die daraus erwachsenden Auswirkungen auf das Kriegsrecht.

Dass „Menschheit“ erst allmählich zu einem entscheidenden Begriff des Völkerrechts geworden und somit historisch gesehen keine Selbstverständlichkeit ist, wird von Heller-Roazen anschaulich dargestellt, bevor er sich mit Carl Schmitts Versuch auseinandersetzt, der sich bemüht – vom „völkerrechtlichen Gegensatz vom Land und Meer“ ausgehend –, den Partisanen mit dessen „tellurisch-terranem Charakter“ 3 vom Piraten zu trennen. Dem gegenüber versucht der Autor – unter anderem mit dem Verweis auf Luftpiraterie – darzulegen, dass der zeitgenössische Pirat nicht mehr durch den maritimen Handlungsraum definiert wird. Gegenwärtig sei vielmehr der Pirat derjenige, durch den ein Gebiet zum Bereich der Piraterie erklärt wird. Dieses Postulat, der Aktionsraum des Piraten sei mithin strukturell autonom, stellt einen eigentümlichen Bruch in Heller-Roazens historischen Ausführungen dar. Die abschließende, reichlich erzwungene Kant-Interpretation, welche den Königsberger Philosophen zum Apologeten eines ewigen Krieges „im Namen des unmöglichen Friedens“ (S. 248) erklärt, wirkt ebenfalls wenig überzeugend, zumal hiermit das Buch recht abrupt endet.

Heller-Roazen hat ein gelehrtes und materialreiches Buch geschrieben. Seine, vom Piraten als rechtliche Konstruktion ausgehende, Kompilation überzeugt insbesondere beim Aufzeigen des Kunstgriffes souveräner Macht, welche die Adressaten der eigenen Rechtsüberschreitung exkludiert, um potentielle, außerrechtliche Übergriffe zu legitimieren. Seine Behandlung des Piraten als Protagonisten des Ausnahmezustandes, als Paradigma oder sogar Schlüsselfigur für das Verständnis des Politischen, wirkt jedoch überzogen und deutet auf die Verengung seiner Perspektive hin, bedingt durch die Einseitigkeit der leitenden These. Dadurch werden geopolitische und ökonomische Zusammenhänge als notwendige Erklärungsvariablen ausgeblendet. Ohne sie kann es aber nur ein sehr eingeschränktes Verständnis für beispielsweise Piraterie vor dem Horn von Afrika geben. Darüber hinaus ist es ein wenig verwunderlich, dass in Heller-Roazens ansonsten sehr ausführlichem Literaturverzeichnis der 2005 erschienene Aufsatz „The Dread Pirate Bin Laden“ von Douglas R. Burgess Jr. 4 fehlt. Denn Burgess geht in seinem Essay nicht nur von der anfangs erwähnten Formulierung Ciceros aus, sondern betont unter anderem die Korrelation zwischen Pirat und Terrorist: „With their vengeful practices, pirates were the first and perhaps only historical precedent for the terrorist cell“ 5. Hierauf deutet Heller-Roazen in seinen Ausführungen ebenfalls hin. Vieles von dem, das Burgess behandelt, findet sich in „Der Feind aller“ wieder, jedoch ohne jeden Hinweis auf den amerikanischen Juristen, der nicht nur ein Jahr vor Heller-Roazens Publikation in der New York Times Piraterie mit Terrorismus verglichen hatte 6, sondern auch ein Buch über Seeräuberei verfasste.7

Trotz solcher Unklarheiten bzw. Mängel lohnt es sich, Heller-Roazens flüssig geschriebenes Buch zu lesen. Vor allem wegen der darin enthaltenden Warnung, dass bei einer Konfrontation mit Piraten stets die Gefahr droht, diesen gleich zu werden, oder mit Friedrich Nietzsche gesprochen: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“.8

Anmerkungen:
1 Daniel Heller-Roazen, Echolalien. Über das Vergessen der Sprache, Frankfurt am Main 2008.
2 Marcus Tullius Cicero, De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln, Stuttgart 2007, III. Buch, 107.
3 Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, 4. Aufl. Berlin 1995, S. 17.
4 Douglas R. Jr. Burgess, The Dread Pirate Bin Laden. How thinking of terrorists as pirates can help win the war on terror, in: Legal Affairs, Juli-August (2005).
<http://www.legalaffairs.org/printerfriendly.msp?id=851> (05.10.2010)
5 Ebd.
6 Douglas R. Jr. Burgess, Piracy is Terrorism, in: The New York Times, 5.12.2008, S. A 33.
<http://www.nytimes.com/2008/12/05/opinion/05burgess.html> (05.10.2010)
7 Douglas R. Jr. Burgess, The Pirates’ Pact. The Secret Alliances Between History’s Most Notorious Buccaneers and Colonial America. New York u.a. 2009.
8 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, 10. Aufl. München 1999, S. 98.

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11.03.2011
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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