Mit der vorliegenden Studie leistet der Autor einen wertvollen Beitrag, der verschiedene Bereiche moderner Geschichtsschreibung konstruktiv verknüpft. Dies umfasst sowohl die Sozialgeschichte des Bundes als Arbeiterbewegung in Osteuropa und Nord- sowie Südamerika, den Ansatz der Migrationsgeschichte, bei dem der Bund ein mehr als anschauliches Beispiel transnationaler Geschichte darstellt, als auch die detaillierte praxishistorische Ausarbeitung der kulturellen Praktiken des Bundes. Dies wird mit einem reichen Quellenmaterial in unterschiedlichen Sprachen belegt, das in bei einer Recherche in Archiven in Argentinien, den USA, Deutschland, Russland, Ukraine und Israel erschlossen wurde. Dabei bezieht sich Wolff für den Ausgangspunkt seiner Analyse auf die Netzwerke transnationaler sozialer Einheiten, die zur Entstehung transnationaler sozialer Räume führten. Um die transatlantische Migrationsgeschichte der jüdischen Arbeiterbewegung Osteuropas nachzuzeichnen, beginnt Wolff mit der Darstellung des Bunds in seinem Ursprungskontext, der sich in vielfacher Weise auf die Emigration auswirkte und somit die Verständnisgrundlage bildet.
Der 1897 in Litauen gegründete Allgemeine Jüdische Arbeiterbund beeinflusste als Zusammenschluss vor allem gewerkschaftlicher Organisationen als Teil der marxistischen Arbeiterbewegung auch die Entwicklung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands. Der Bund war zudem in Polen aktiv und baute in Osteuropa eine breite kulturelle Infrastruktur, inklusive Schulen, Vereinen, Kulturverbänden und Gewerkschaften auf. Dabei verband der Bund nach Wolff Aspekte der sozialistischen Arbeiterbewegung mit denen der jiddischen Kultur, unter anderem durch die Kommunikation in Wort und Schrift auf Jiddisch, zu einer identitätsstiftenden Kategorie als Bundistsein. Diese Identitätskonstruktion wirkte über Parteien- und Landesgrenzen hinaus und basierte auf eben diesen kulturellen Praktiken, in der Autorezeption als Doikayt wahrgenommen.
Im zweiten Teil seiner Studie stellt Wolff sinnvolle Überlegungen zur Verortung des Bundes als soziale Bewegung mitsamt relevanter Handlungsmuster und Bezugsrahmen zur Masse der Bewegung an. Diese Untersuchung zum Kontext ist dabei eine wichtige Verständnisgrundlage, um zu erkennen, welche grundlegenden Handlungsmuster durch die Migrationsprozesse transferiert wurden. Dabei trennt der Autor nach Aktivitäten des Bundes, wie Versammlungen, Publizistik, Parteiarbeit, Bildungsarbeit, Arbeitskampf, bewaffnete Militanz, Jugendaktivismus und Fundraising, in Russland und Polen. Ein besonderes Augenmerk der Studie liegt in der Darstellung der verschiedenen Aspekte der Publizistik, die anhand der Relevanz des Erinnerns für die Bundische Identität analysiert wird. Dabei konstatiert Wolff, dass Erinnern als aktivistische Praktik für die Identitätskonstruktion zu einer transnationalen Erinnerungskultur führte. Hierzu unternahm er eine komparative inhaltliche Analyse der verschiedenen Zeitungen des Bundes in der Heimat, beispielsweise der „Arbeter shtime“ als Organ des Zentralkomitees und in der Emigration wie die Zeitung „Avangard“ aus Buenos Aires, die allesamt wichtige Bausteine einer gemeinsamen Erinnerungskultur durch Austauschprozesse darstellten. Tatsächlich transnational wird seine Studie durch die Einbeziehung von Zeitungen aus Argentinien, den USA und Osteuropa, die im Zeitraum von 1899 bis 1968 verglichen werden. Einen wichtigen Anteil der transnationalen kollektiven Erinnerungskultur stellte die bundische Autobiographik dar, die aufgrund ihrer zentralen Rolle in der bundischen Identitätskonstruktion eingehend behandelt wird.
Bezugnehmend auf die aktuelle theoretische Verortung dieser Quellengattung untersucht Wolff auch, inwieweit nicht nur führende Persönlichkeiten sich an dieser Praxis beteiligten, sondern auch eher unbekannte und ungebildete Aktivisten und Frauen zu diesem Baustein der kollektiven Identitätskonstruktion beitrugen. Dafür entwickelte er einen kreativen methodischen Ansatz, der der „Vermessung des autobiographischen Netzwerks“ diente und mit dem er 532 Texte statistisch auswertete. Möglich war das, da der Bund sich der Bedeutung dieser Praxis durchaus bewusst war und autobiographische Wettbewerbe veranstaltete. Wolff wirft in seiner Analyse auch einen kritischen Blick in die Forschung, u.a. indem er darauf hinweist, dass aus der Vielzahl an Biographien zumeist die gleichen neun untersucht wurden, ergänzt um die Aufzeichnungen einiger berühmter Führungspersönlichkeiten. Damit aber lässt sich die breite und intensive Partizipation der einfachen Bundisten nicht erfassen, die die Bewegung prägten. Aufgrund der breiten Erfassung dieses Quellenbestands konnte auch eine Periodisierung dieser Praxis erstellt und festgestellt werden, dass sich die Erinnerungskultur nach dem Zweiten Weltkrieg nicht auf eine Bewältigungsstrategie des Holocaust reduzieren lässt.
Insgesamt gelangte der Autor zu aufschlussreichen Erkenntnissen, etwa relativiert er die Bezeichnung des Bunds als Arbeiterbewegung und ordnet ihn als Arbeitermobilisierungsbewegung ein. Belegt ist dies unter anderem damit, dass eine bekannte und propagandistisch wertvolle Biographie einer Arbeiterin von einem führenden Bundisten erfunden wurde. Die Studie von Wolff zeichnet auch dadurch aus, dass er der Praxis im Rahmen von Migrationsprozesse nachgeht, beispielsweise den verwendeten Sprachen, Erscheinungsorten und inhaltlichen Bezüge. Desweiteren zeigt er auf, wie aus den individuellen Biographien eine kollektive Erinnerung konstruiert wurde, die er als Ansätze bundischer Kollektivbiographik bezeichnet. Hierzu erstellte der Bund eigene Fragebögen zur Erfassung der Erinnerung seiner Mitglieder, als Praxis nach dem zweiten Weltkrieg wohl durchaus berechtigt. Diese Form der Erfassung, mit dem Ziel Wissen über die Mitglieder zu erwerben, begann jedoch bereits in den USA 1923, und hielt bis in die 1960er-Jahre an. Diese Fragebögen lassen viele erkennen, so etwa wichtige Eintrittsjahre in die Bewegung, oder die Altersstruktur.
Im dritten Teil behandelt Wolff die Übertragung und Anpassung der Praktiken des Bundes in der Emigration, die sich stets auch auf den Bund in Osteuropa bezogen, auf den die Identitätskonstruktion beruhte. Durch diese Anpassungsprozesse entstanden transkulturelle Formen, in dem die osteuropäischen Praktiken nach Argentinien oder die USA übertragen wurden, wie die Art und Weise Versammlungen als Teil des öffentlichen Lebens zu organisieren, die sich dann an die Muster in den Aufnahmeländern anpasste. Aus Geheimtreffen im Wald wurden Picknicks im Park, einer gewichtigen Freizeitgestaltung der Arbeiterbewegungen in den Einwanderungsländern Amerikas.1 Interessant sind auch die transatlantischen Verbindungen des Bundes in der Kulturarbeit, die Wolff anhand der Organisation der jüdisch-säkularen Schulen aufzeigt. Das Identitätskonzept der yidishkayt führt die Studie für die Bereiche Arbeiterorganisation und transnationale Finanzierung aus.
Insgesamt handelt es sich um eine überaus lesbare und gut fundierte Studie, die besonders für die Auseinandersetzung mit der transatlantischen Sozial-, Kultur- und Migrationsgeschichte wichtig ist, da sie eindruckswohl demonstriert, das transnational nicht binational bedeutet.
Anmerkung:
1 Picknicks waren eine zeitgenössische, allgemein beliebte Freizeitgestaltung und wurden von allen gesellschaftlichen Schichten in Nord- wie Südamerika veranstaltet. Die Arbeiterbewegungen schlossen sich diesem Trend an und bis 1920 fanden regelmäßig Arbeiterpicknicks statt, wie zahlreiche Aufrufe in Zeitungen der Arbeiterbewegung belegen. Die Veranstaltung galt daher auch als subversiv, So enthielt in dem Buch des Polizeioffiziers Michael Schaak Anarchy and Anarchists. A History of the Red Terror and the Social Revolution in America and Europe …(Chicago 1889) auf S.453 eine Abhandlung samt Zeichnung über ein Picnic of the Reds.