Die Entwicklung von Industriestädten im 20. Jahrhundert hat in den letzten Jahren verstärkt Beachtung in der Geschichtswissenschaft gefunden.1 In diesen Trend reiht sich der gelungene Konferenzband ein und setzt mit der Erforschung von „Autostädten“ einen neuen Schwerpunkt. Wie andere neuere stadthistorische Veröffentlichungen rückt er die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Vordergrund. Die Herausgeber Martina Heßler und Günter Riederer wollen aber über die häufig eingenommene Perspektive des „Rise and Fall“ hinausgehen. Einige Beiträge, unter anderem derjenige von Wulf Tessin und Esther Meier, widersprechen explizit diesem vereinfachten, „häufig kolportierte[n] Bild“ (S. 24).
Das Buch besteht aus einer zweiteiligen Einführung und vier Abschnitten mit zehn Beiträgen, die jeweils die Entwicklung einer Autostadt und den Umgang der Stadtverwaltungen mit Wachstums- und Krisenphasen fokussieren. Darüber hinaus werden die Beziehungen zwischen Werk und Stadt erforscht und auch beim Strukturwandel verlierende Bevölkerungsgruppen berücksichtigt. Den Untersuchungsgegenstand definiert Heßler als zumeist exklusiv von dem Industriezweig beherrschte „Orte der Autoindustrie“ mit einer durch das Automobil beeinflussten Kultur, Sozial- und Wirtschaftsstruktur (S. 20f.). Im Vergleich zu anderen Betrieben seien Automobilwerke seltener verlagert oder aufgegeben worden. Im internationalen Kontext kam es allerdings häufiger zu Werksschließungen, so bei Renault-Billancourt, Citroën-Grenelle und Rover-Birmingham. Die Forschung zu Autostädten sei normativ aufgeladen; sie gälten bis zum Ende des westeuropäischen Wirtschaftswunders als Symbole für „Wachstum, Wohlstand und Modernität“ (S. 19), während sie seit den 1970er-Jahren häufig als Beispiel für den Niedergang industrieller Städte in der Postmoderne herangezogen würden.
Im Abschnitt „Werk – Stadt: Zum Verhältnis von Autoindustrie und Kommune“ werden vier deutsche und ein französischer Automobilstandort in den Blick genommen. Der auf zahlreichen Studien fußende Beitrag des Soziologen Tessin führt die enge Verflechtung der Großstadt Wolfsburg mit Volkswagen bis heute vor Augen. Allerdings habe die Einwirkung des Unternehmens auf die Kommune im Laufe der Zeit abgenommen. Infolge des Abbaus von Arbeitsplätzen bei Volkswagen erlebte Wolfsburg in den frühen 1990er-Jahren eine Krise. Sie konnte überwunden werden, da der Automobilhersteller seinen deutschlandweit einzigartig großen Standort aufrechterhielt, sich beide Akteure unter anderem durch die 1999 gegründete Wolfsburg AG um eine Zusammenarbeit bemühen und die Stadt als Marke „Autostadt“ zu etablieren suchen. Im Vergleich zum Konzernsitz Wolfsburg fiel es der Mittelstadt Rüsselsheim schwerer, das zum amerikanischen Unternehmen General Motors gehörige Opelwerk an sich zu binden, wie Clemens Zimmermann schildert. Eine institutionalisierte Zusammenarbeit der Kommune mit dem Werk fand nicht statt. Im Jahr 2002 sicherte die Entscheidung von Opel, einen bedeutenden Neubau in Rüsselsheim zu errichten, den Standort. Infolge der Lage in der wirtschaftlich starken Rhein-Main-Region konnte Rüsselsheim wie Wolfsburg trotz eines Beschäftigungsrückgangs beim Automobilhersteller den Höchststand der Bevölkerung annähernd halten. Die Deindustrialisierung treffe kleinere Städte durch die Abhängigkeit von einem Unternehmen häufig stärker als wirtschaftlich diversifizierte Großstädte, so Zimmermann.
Thomas Schlemmer konstatiert, dass Ingolstadt, der Unternehmenssitz der heutigen Audi AG, „keine gewachsene Automobilstadt wie Stuttgart oder keine industrieinduzierte Neugründung wie Wolfsburg“ sei (S. 69). Aus Sachsen kam die Auto-Union als „Flüchtlingsbetrieb“ hierhin; lange war unklar, ob der neue Standort bestehen bleiben würde. Dadurch waren die Beziehungen zwischen dem Unternehmen und der Kommune wenig institutionalisiert, doch diese versuchte dem „wichtigsten Arbeitgeber entgegenzukommen“ (S. 77). Konfliktreich waren Jean-Louis Loubet zufolge hingegen die Beziehungen zwischen Renault und der Stadtverwaltung Billancourt, wo fast 100 Jahre lang der Hauptbetrieb von Renault und Wohnort vieler Beschäftigter direkt neben dem gutsituierten Pariser Vorort Boulogne lag. Nach seiner Verstaatlichung 1945 wurde Renault trotz seines sozialen Entgegenkommens unter anderem durch Streiks zu einem „nationalen Krisenherd“ (S. 101). Auf Verlagerungen in den 1970er-Jahren folgte 1989 die endgültige Schließung des Standorts. Von den vorherigen Beiträgen hebt sich Christoph Bernhardts und Harald Englers Analyse Eisenachs als Standort der Wartburg-Produktion ab, da Werk und Unternehmen stärker im Fokus stehen als die Stadt. Eisenach sei eine untypische sozialistische, da traditionsreiche Autostadt, in der es zu einer „Überformung überlieferter Industrie- und Stadtstrukturen“ (S. 126) kam.
Eine Integration des Beitrags zu Eisenach in das Kapitel „Planung, Aufbau und Repräsentationen von Autostädten“, das die Entstehung einer bislang wenig erforschten sowjetischen und einer chinesischen Autostadt in den Blick nimmt, hätte sich angeboten. Changchun kann Susanne Stein zufolge als eine der ersten Autostädte des aufstrebenden Automobillandes China betrachtet werden. Bereits in den 1950er-Jahren begann dort die Produktion von LKWs der Marke Jiefang. Typisch für chinesische Automobilstandorte sei die Nähe zu einer existierenden Großstadt. Erst 1969 begann die Geschichte des von Esther Meier untersuchten Lastwagenwerks KamAZ in Naberežnye Celny im russischen Tatarstan, das für die Einrichtung des Automobilbetriebes umfassend umgebaut wurde. Die Stadt Tol’jatti diente als Modell für die strukturierte Planung. Bis in die 1970er-Jahre wanderten viele Menschen zu; ab den 1990er-Jahren nahm die Einwohnerzahl ab. Zu Höchstzeiten arbeiteten hier 120.000 Beschäftigte. 1981 war der Bau von KamAZ abgeschlossen, viele zivile Bauten wie Theater allerdings nicht.
Städtisches Krisenmanagement steht im Fokus des Abschnitts „Schrumpfung und Niedergang von Automobilstädten“. Anne Volkman und Uwe-Jens Walther analysieren den Niedergang amerikanischer Automobilstädte am Beispiel von Flint, wo neben dem 80 Prozent aller Arbeitsplätze stellenden General Motors auch Chrysler und Ford angesiedelt waren. Als GM in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seine Beschäftigtenzahl verringerte, halbierte sich die Zahl der Bürger, in der Innenstadt verfielen Häuser, die Kriminalität nahm stark zu. Versuche von Flint, sich touristisch attraktiv zu machen, scheiterten. Als insgesamt erfolgreichen Umgang mit der Schließung des Rover-Standorts Birmingham bewerten hingegen fünf Autoren die Aktivitäten der 2005 aus verschiedenen Institutionen gebildete MG Rover Task Force. Im Kapitel „Zukunftsvisionen von Automobilstädten“ schildert John Gallagher die sozialen Unterschiede im heutigen Detroit. Englischsprachige Abstracts und Biographien runden den Sammelband ab.
Zumeist waren die untersuchten „Autostädte“ von einem einzelnen Arbeitgeber abhängig, eine Folge der Größe von Automobilbetrieben. Daher verwundert es nicht, wenn diese den Kommunen Bedingungen diktieren konnten. Auch wenn sie ökonomische Schwierigkeiten hatten, bekamen dies die Standorte zu spüren. Das Diktum „Wenn VW hustet, bekommt Wolfsburg eine Grippe“, im Französischen gebräuchlich für Renault und Frankreich (S. 100), beschreibt dies anschaulich. Aus der Bedeutung des Automobils für die moderne Gesellschaft leitet Heßler einen besonderen Stolz der Automobilarbeiter ab (S. 22); fraglich ist, ob sich diese Identifikation mit dem Arbeitgeber grundlegend von der in anderen Großbetrieben wie Bayer2 unterscheidet.
Für die vergleichende Untersuchung von Kommunen, die vom gleichen Wirtschaftszweig geprägt wurden, spricht vieles. Der Sammelband führt eine Vielzahl von Studien zu Städten aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, USA, Russland und China zusammen. Eine Repräsentativität der Standorte ist kaum zu erreichen; dennoch wäre ein Beitrag zum prägenden Automobilherstellerland Japan (bei der Tagung wurde Toyota berücksichtigt) zu wünschen gewesen, da der Schwerpunkt eher auf der Automobilindustrie in Westeuropa und den USA liegt. Der isolierte Beitrag von Gallagher hätte durch ähnlich gelagerte eingerahmt werden sollen. Infolge der Definition wurden kaum wirtschaftlich diversifizierte Kommunen berücksichtigt, doch zeigt der gegenüber der Tagung neue Beitrag über Ingolstadt die Fruchtbarkeit des Vergleichs mit solchen Städten. Eine stärkere Fokussierung der Fragestellungen und die Typologisierung von Autostädten könnten die Einordnung von Fallstudien erleichtern. Kaum ins Gewicht fallen kleinere Fehler wie das „Peugeot-Werk“ Billancourt (S. 15) oder das Fehlen von Abschnittsüberschriften. Den positiven Gesamteindruck trüben diese Anmerkungen nicht.
Anmerkungen:
1 Siehe u.a. Friedrich Lenger / Klaus Tenfelde (Hrsg.), Die europäische Stadt im 20. Jahrhundert. Wahrnehmung – Entwicklung – Erosion, Köln 2006; Anne Power u.a., Phoenix cities. The fall and rise of great industrial cities, Bristol 2010; Ondřej Ševeček / Martin Jemelka (Hrsg.), Company Towns of the Baťa concern. History, Cases, Architecture, Stuttgart 2013; Clemens Zimmermann (Hrsg.), Industrial Cities. History and Future, Frankfurt am Main 2013.
2 Markus Raasch, „Wir sind Bayer“. Eine Mentalitätsgeschichte der deutschen Industriegesellschaft am Beispiel des rheinischen Dormagen (1917–1997), Essen 2007.