Im Anschluss an das Kolloquium „L’Europe et ses Autres“1 veröffentlichten die Professoren Christine de Gemeaux und Amaury Lorin einen Großteil der Beiträge in dem Sammelband „L’Europe coloniale et le grand tournant de la Conférence de Berlin“. Der Fokus liegt auf der Frage nach der Homo- und Heterogenität des europäischen Diskurses zur Kolonialpolitik. Gab es ein „europäisches Kolonialreich?“ („un empire colonial européen“, S. 7) fragen die Herausgeber bewusst provokant in ihrer Einleitung. Anders gesagt: War die Berliner Kongo-Konferenz, auf der man sich über Interessensphären in Afrika einigte, der Ausgangspunkt für ein gemeinsames imperiales Projekt in Afrika? Oder waren die afrikanischen Kolonien ganz im Gegenteil nur ein Nebeneinander von rivalisierenden Mächten? Um eine Antwort auf diese Fragestellung zu finden, vereint der Band in einem komparatistischen Ansatz 13 Artikel zu den verschiedenen Kolonialmächten, insbesondere zu England, Frankreich, Deutschland, Belgien und Portugal.
Der erste Teil handelt von der Vorgeschichte der Konferenz. So sieht D. Baric etwa Parallelen zwischen dem Berliner Balkan-Kongress (1878) und der Kongo-Konferenz (November 1884 bis Februar 1885). Dabei analysiert sein Artikel sowohl die österreich- und deutschfeindlichen Tendenzen als auch die Solidaritätsbezeugungen mit den Balkan-Staaten in Frankreich. Weiterhin verweist er auf die Differenzen zwischen dem Habsburger Diskurs zu den unterworfenen Provinzen im Balkan einerseits und dem kolonialen Diskurs zu Afrika andererseits. Schließlich skizziert er die österreichische Rolle in der Entdeckung und Eroberung Afrikas. Im zweiten Artikel schreibt de Gemeaux über die bismarcksche Meinungsänderung zu Kolonialismus in den 1880er-Jahren. Hierbei widmet sie der Rolle der deutsch-französischen Zusammenarbeit im Hinblick auf die Konferenz eine besondere Aufmerksamkeit. M. Spensky schließlich untersucht die britische Zeitschrift „Anti-Slavery Reporter“, das Presseorgan der „British and Foreign Anti-Slavery Society“. Dessen scharfe Kritik an Portugal, Frankreich und am osmanischen Reich, die Sklavenhandel weiterhin erlaubten, wurde gegen die selbigen Rivalen im ‚Scramble for Africa‘ teils politisch instrumentalisiert. So wurde der Antisklaverei-Diskurs paradoxerweise zu einem wichtigen Argument für die englische Kolonisierung in Afrika.
In einem zweiten Teil werden die konvergierenden oder divergierenden Interessen der verschiedenen diplomatischen Akteure näher vorgestellt. Muriel E. Chamberlain unterstreicht, dass die englisch-französische Konkurrenz im Kongo und hier insbesondere die Makkoko-Verträge wichtige Beweggründe für die Organisation der Konferenz waren. Sie geht außerdem auf die Bedeutung des bismarckschen Wunsches nach einer deutsch-französischen Annäherung sowie auf die Rolle Portugals ein. Alvaro Nobrega führt dies weiter aus, indem er die Sicht Portugals, der ältesten Kolonialmacht, auf die afrikanische Aufteilung in Berlin beschreibt. Trotz der Hoffnung auf ein „neues Brasilien“ („new Brasil“, S. 135) waren die Portugiesen angesichts ihres außenpolitischen Machtverlusts von einem Gefühl der „Dekadenz“ („a feeling of decadence“, S. 142) übermannt. Letztendlich konnten die portugiesischen Diplomaten in Berlin aber den Schaden begrenzen und die Würde ihrer Nation wahren. Auch Nadia Vargaftig beschäftigt sich mit Portugal und prägt hier den interessanten Begriff der „Peripherie des Zentrums“ („périphérie du centre“, S. 163). Die Kongo-Konferenz habe für Portugal im Zentrum einer „kolonialen Lernphase“ („éducation coloniale“, S. 178) und einer kolonialen Erneuerung gestanden, die mit den neuen Machtverhältnissen in Europa zusammenhing. Im Gegensatz zu Portugal sei Leopold II. der große Gewinner der Konferenz gewesen, so Valérie Piette. Der belgische König galt als modern. Sei es, dass er wissenschaftliche Konferenzen zu Afrika organisierte, sei es, dass er durch sein Eintreten für den Freihandel beeindruckte oder dass er humanitäre Beweggründe in den Vordergrund stellte, er wurde als fortschrittlich angesehen und war zu dieser Zeit beliebt. Der humanitäre Aspekt war auch in Frankreich eines der Hauptargumente für den Nutzen von Kolonien. Jean-Jacques Tatin-Gourie untersucht in diesem Zusammenhang die Rolle und Bedeutung des Kongo-Reisenden Savorgnon de Brazza, der als Inbegriff einer humanistischen, als französisch gesehenen Kolonisierung galt. Lorin schließlich sucht eine Antwort auf die schwierige Frage, ob die Berliner Konferenz eine Beschleunigung der französischen Kolonialpolitik herbeigeführt hat.
Der dritte Teil widmet sich der zeitgenössischen Rezeption der Konferenz und den Transferphänomen weltweit. Isabelle Hémont betrachtet die antikolonialistischen Reaktionen in Frankreich und Deutschland, indem sie zwei Reden von August Bebel und Georges Clémenceau vergleichend analysiert. Die drei letzten Artikel gliedern sich in den anspruchsvollen Ansatz der Global History ein. Rémy Port argumentiert für eine Beschleunigung der kolonialen Militärgeschichte nach 1884–1885. Sein hervorragender Artikel bezieht sich hierbei auf sämtliche Kolonialtruppen weltweit. Dabei stützt er sich hauptsächlich auf die Zahlen der Kolonialtruppen, die nach 1884 anwachsen. Dieser Zahlenvergleich erlaubt ihm eine größere Objektivität bei der Behandlung des ehrgeizigen Themas. Der togolesische Forscher Adjaï P. Oloukpona-
Yinnon interessiert sich für Reaktionen der einheimischen Bevölkerung auf die deutsche Schutzherrschaft in Togo. Er unterstreicht, dass der Begriff der ‚Musterkolonie Togo’ zum Teil ein Mythos war und dass die Deutschen mit viel Widerstand zu kämpfen hatten. Im letzten Artikel zeigt Alfredo Gomez-Muller, dass die Berliner Aufteilung Afrikas auch in Kolumbien rezipiert wurde. In einem Presseartikel über die Kongo-Konferenz von 1891 nahm der dortige Präsident Rafael Nùñez für Kolonialismus Stellung. Dieser sei nämlich die Bedingung für eine Besserung der ‚Rasse’, einer der Hauptaspekte seines eigenen politischen Programms namens „Regeneración“.
Der Sammelband darf für seinen anspruchsvollen, transnationalen Ansatz gelobt werden. Ein wichtiger Punkt muss allerdings kritisiert werden, nämlich der Titel des Buches und diejenigen mancher Aufsätze. So ist der Titel „Die große Wende der Berliner Konferenz“ („le grand tournant de la conférence de Berlin“) leicht irreführend. In der Einleitung wird nämlich klargestellt, dass die Kongo-Konferenz keinen Bruch in der europäischen Afrikapolitik darstelle, sondern eine Beschleunigung, also eine Fortsetzung und Intensivierung der bisherigen Politik. Diese Beschleunigung wird hier als Wende verstanden. Man hätte sich gewünscht, dass diese Nuance im Titel deutlicher hervortritt, so dass man eben nicht „Wende“ mit „Bruch“ gleich setzt. Weiterhin spiegelt dieser Titel die Originalität des Sammelbandes nicht wieder, denn die Berlin Westafrika-Konferenz als solche ist ein recht bekanntes Thema. Ein anderer Titel wie etwa „Ein europäischer Kolonialismus ? Vergleichende Diskursanalysen am Beispiel der Berliner Kongo-Konferenz“ hätte der komparatistischen Herangehensweise besser entsprochen. Die Wahl der Berliner Konferenz als Beispiel für eine Histoire croisée ist letztendlich ja durchaus gerechtfertigt, weil es mithin das einzige Ereignis dieser Zeit ist, an dem alle Kolonialmächte Afrikas teilnehmen. Somit können hier die jeweiligen Ansichten auf ein selbiges Ereignis gut beschrieben und verglichen werden.
Trotz dieser Kritikpunkte ist der Sammelband wegen seines innovativen Ansatzes wichtig für die Forschung. Die Berliner Kongo-Konferenz war nämlich bisher nicht in vergleichender und transnationaler Hinsicht erforscht worden. Überhaupt sind komparative – insbesondere deutsch-französische – Kolonialstudien bisher eher selten.2 Der einzige deutsch-französische Sammelband zu Kolonialgeschichte war bisher der von Chatriot und Gosewinkel; der vorliegende Band greift noch weiter aus und vergleicht die Blickpunkte fast aller Kolonialmächte auf ein spezifisches Ereignis. Natürlich gibt es schon allgemeine Studien zu europäischem Kolonialismus, aber diese geben nur in groben Zügen die wichtigsten Daten der nationalen Kolonialgeschichten wieder.3 Hier hingegen wird die Berliner Kongo-Konferenz als kristallisierendes Moment herausgestellt. Es wird danach gefragt, inwiefern die europäischen Kolonisten zwar mit verschiedenen Argumenten und Interessen an diese Konferenz herantraten, in welchem Maße ihre Zusammenkunft aber zu einer gewissen Homogenisierung der kolonialen Diskurse führte. Der Sammelband stützt sich also auf sehr moderne historische Methoden wie Komparatistik, Histoire Croisée und Global History. Ferner ist es vielleicht das erste Mal, dass Forscher aus so vielen Ländern (Frankreich, Schottland, Belgien, Portugal und Togo) und aus so verschiedenen Forschungsfeldern4 zu so zahlreichen kolonisierenden und kolonisierten Nationen5 einen gemeinsamen Band veröffentlichen.
Anmerkungen:
1 „L’Europe et ses Autres: discours officiels et discours critiques (1878–1914)“, organisiert von Christine de Gemeaux, Universität François-Rabelais, Tours, 21–23. Oktober 2010.
2 Zu deutsch-französischer Kolonialgeschichte vor 1914: Alain Chatriot / Dieter Gosewinkel (Hrsg.), Koloniale Politik und Praktiken Deutschlands und Frankreichs 1880–1962, Stuttgart 2010; Henri Brunschwig, Le partage de l'Afrique noire, Paris 1971. Zu deutsch-englischer und französisch-englischer Kolonialgeschichte gibt es mehr Arbeiten, wie z.B.: Ulrike Lindner, Koloniale Begegnungen. Deutschland und Großbritannien als Imperialmächte in Afrika 1880–1914, Frankfurt am Main 2011; Berny Sèbe, Heroic Imperialists in Africa. The Promotion of British and French Colonial Heroes 1870–1939, Manchester 2013; Véronique Dimier, Le gouvernement des colonies, regards croisés franco-britanniques, Brüssel 2004.
3 Z.B. Rudolf von Albertini / Albert Wirz, Europäische Kolonialherrschaft 1880–1940, Zürich 1976.
4 Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft, Sozialwissenschaften, Militärgeschichte, Germanistik, Anglistik, Hispanistik.
5 Nämlich die Kolonialmächte England, Frankreich, Deutschland, Portugal, Belgien; sämtliche Kolonien insbesondere in Afrika, aber teils auch in Asien und Lateinamerika; ferner die Drittmächte Kolumbien und Österreich.