‚Postkoloniale Schweiz’ als Titel für einen Sammelband zu wählen, stellt in vielerlei Hinsicht eine Provokation dar: Die Schweiz in Verbindung mit Kolonialismus zu stellen, entspricht kaum einem allgemeinen Verständnis der Rolle der Schweiz. Der Titel bringt aber auf den Punkt, was der Band als Ganzes aufzeigt: Die Schweiz war und ist Teil des europäischen (post-)kolonialen Unternehmens. Damit rüttelt der Sammelband am Selbstverständnis der Schweiz als neutralem Staat und stellt das Selbstbild einer egalitären, solidarischen und humanitären Nation in Frage.
Eine Einbettung in (post-)koloniale Zusammenhänge mag für einen Nationalstaat, der weder kolonisiert wurde noch Kolonien besaß, irritierend wirken. Allerdings ist dieser Perspektivenwechsel längst überfällig. (Post-)koloniale Diskussionen werden – wie die höchst informative und umfassende Einleitung zeigt – in anderen europäischen Ländern seit Jahren geführt. Mit etwas Verzögerung kommt sie nun auch in jenen Ländern an, die nicht als Kolonialmächte wahrgenommen werden. Doch gerade aus einer postkolonialen Perspektive ist es durchaus notwendig, auch diese Nationen in die Diskussionen einzubeziehen. Während frühere Publikationen die ökonomischen Verflechtungen der Schweiz in koloniale Unternehmen in den Vordergrund gestellt haben, konzentriert sich dieser Sammelband auf die Teilhabe an der kolonialen Episteme und richtet den Fokus vor allem auf kulturelle und diskursive Elemente. Mit den 15 Beiträgen zeichnen sich zahlreiche Ansatzpunkte eines solchen Perspektivenwechsels ab und wird eine imposante Breite deutlich. So thematisieren die Beiträge beispielsweise die zwischen 1880 und 2000 erschienenen Memoiren von Schweizern, die sich als Söldner der französischen Fremdenlegion verpflichtet haben (Christian Koller), genauso wie (post-)kolonial-historische Verflechtungen der aktuellen Schweizer Asylpolitik (Francesca Falk). Falk geht der Funktion und den historischen Kontexten von Ausschaffungslagern nach und bringt gegenwärtig zirkulierende negative Stereotypen über männliche Nigerianer mit ökonomischen Verflechtungen zwischen der Schweiz und Nigeria in Verbindung. Dies erlaubt ihr, die Argumentationslogik des umgekehrten Rassismus zu untersuchen, wonach die Schweiz von Nigerianern kolonisiert würde. (Post-)koloniale Einsätze im Alltäglichen ortet der Beitrag von Martin Mühlheim im Zürcher Geschnetzelten, einem Schweizer Kinderbuch und einer Porzellanfigur über den Menschenhandel, deren Interpretation die Ambivalenz zwischen der Kritik an der europäischen Beteiligung am Sklavenhandel und dem Von-Sich-Weisen der Schuld verdeutlicht. Inwiefern sich die gegenwärtige Schweizerliteratur in die condition postcoloniale einschreibt, zeigt der Beitrag von Alexander Honold. Diese habe Migration und Multikulturalität als Themengebiete entdeckt und sei mit dieser Themenwahl in der Weltliteratur angekommen (S. 154). In Bezug auf den ganzen Sammelband lässt sich daran anschließen: Auch der Schauplatz Schweiz ist in der (post-)kolonialen Weltordnung angekommen. Die Schweiz kann sich der Einordnung in globale Machtkonstellationen und der Zuordnung zum (post-)kolonialen Westen nicht entziehen und gerade der Blick auf die „diskursiven, semantischen und imaginären Ausformungen kolonialer Projekte“ (Purtschert, Lüthi und Falk, S. 17, Herv. i. O.) verdeutlicht, dass in diesem (post-)kolonialen Rahmen in Abgrenzung zu ‚Anderen’ machtvolle Prozesse der Selbstvergewisserungen des ‚Schweizerischen’ geschehen. Diese Selbstvergewisserung wie auch Momente von Kritik an diesem Prozess werden im Band anhand unzähliger Beispiele und aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven deutlich.
Insgesamt löst der Band das Versprechen, dass durch den Perspektivenwechsel neue Sichtbarkeiten und Erinnerungsräume eröffnet werden, rundum ein: Der Band schafft es deutlich zu machen, dass die Aufnahme der Schweiz in die (post-)kolonialen Diskussionen überfällig ist und ein großer Nachholbedarf herrscht. Die Perspektiven und Kritikpunkte zu einem einheitlicheren Bild zu bündeln und stärker zu systematisieren wäre ein weitergehender, wünschenswerter Schritt.
Hier setzt ein anderer Aspekt der Provokation ein. Denn während aus einem Alltagsverständnis heraus das Postulat des (Post-)kolonialen in Bezug auf die Schweiz irritiert, so liegt die Provokation aus einer postkolonialen Perspektive eher in der Beschränkung des Untersuchungsraums auf den Nationalstaat Schweiz. Den Herausgeberinnen ist durchaus bewusst, mit ‚Schweiz’ einen Bezugspunkt gewählt zu haben, der spätestens seit dem Konzept der entangled histories1 prekär wurde. So rechtfertigen sie ihre Wahl damit, dass Nationalität und Transnationalität in einem komplexen Wechselspiel stehen, das auf keine Seite hin aufgelöst werden soll (S. 32). Wie auch Christof Dejung in seinem Beitrag betont, stand die Herausbildung des Konzepts der ‚Nation’ in engem Zusammenhang mit der kolonialen Weltordnung (S. 334f.). Die Fokussierung auf eine Nation birgt dennoch die Gefahr, dass eine nationalstaatliche Einheit als Ausgangsfrage in eine epistemische Verengung mündet. Gerade der Beitrag von Dejung über die Welt- und Landesausstellungen macht den Balanceakt deutlich, der hier nötig ist: Die Schweiz ist zwar Teil des hegemonialen Westens, der aber seinerseits nicht als homogene Einheit gefasst werden kann, ohne dass mit einer solchen Homogenisierung die unterschiedlichen Arten und Ausprägungen der Integration der jeweiligen Staaten in diesem Machtgefüge negiert werden. So stellt sich nach der Lektüre des Bandes die Frage: Welche Elemente lassen sich nun als spezifisch schweizerisch (post-)koloniale identifizieren?
Letztlich vermag der Sammelband keine explizite Antwort darauf zu geben – was paradoxerweise dem exklusiven Fokus auf die Schweiz geschuldet sein mag. Denn Zuschreibungsprozesse von ‚schweizerisch’ und ‚weniger-schweizerisch’ bezogen auf weiße und nicht-weiße Körper, die bei Miss- und Mister-Schweiz-Wahlen in Massenmedien verhandelt werden (Christine Bischoff), sind kaum als Spezifikum der Schweiz zu sehen. Wenn jedoch Mythen wie jene, dass „die Schweiz aus einem freiheitsliebenden, frommen Volk von Bauern und Hirten hervorgegangen sei“ (Bernhard C. Schär, S. 315) in Verbindung mit kolonialen Settings gebracht werden, wird es einsichtiger, dass hier spezifisch schweizerische Vorstellungen der imagined community dekonstruiert werden. Mit Gaby Fierz, welche die Produktion von ‚Afrika’ durch den Schweizer Fotografen, Reiseschriftsteller und Filmer René Gardi analysiert, kann argumentiert werden, dass ein „authentisches Afrikabild“ gerade dann als solches hergestellt werden kann, wenn afrikanische Gesellschaften mit dem gleichen Vokabular wie Bewohnerinnen der Alpen geschildert werden (S. 362) – und damit einen schweizerischen Touch erhalten. Diese Beiträge machen die komplexen Verflechtungen von Fremd- und Eigenkonstruktionen fassbar. Die kritische Untersuchung der Neutralität, ein zentraler Aspekt des schweizerischen Selbstverständnisses, im Beitrag von Daniel Speich Chassé zeigt, dass globalgeschichtliche Verflechtungen nicht nur trotz der Neutralitätsmaxime, sondern auch durch Neutralität ermöglicht wurden (S. 226). So wurde insbesondere die Entwicklungshilfe nach dem Zweiten Weltkrieg als technische neutrale Unterstützung und somit politikfreier Bereich konzipiert. Damit erfolgten tiefe Eingriffe in innenpolitische Verhältnisse anderer Staaten (S. 233f., s. auch Beiträge von Sara Elmer und Konrad J. Kuhn). In diesen Auseinandersetzungen zeichnet sich eine der prägnantesten Thesen ab: Gerade weil die Schweiz keine Kolonialmacht war, konnten die offizielle Schweiz wie auch Schweizer Unternehmen nach der Dekolonisierung resp. nach dem Zweiten Weltkrieg in der sich neu bildenden internationalen Gesellschaft als unverdächtige Partner gegenüber ehemaligen Kolonien auftreten (vgl. u.a. Purtschert, Lüthi und Falk, S. 16; Speich Chassé S. 226).
Dieser Ansatzpunkt macht besonders deutlich, inwiefern für die Schweiz der etwas schematische Bruch zwischen den Perioden der Kolonisation und der großflächigen Dekolonisation nicht gilt und sich dennoch Verbindungen zu diesem Bruch ausmachen lassen. Damit erhält das Präfix ‚post’ in (post-)kolonial, das bereits auf die Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Bruch in der Dekolonisationsbewegung hinweisen soll, eine weitere Ambivalenz. Eine Spur einer spezifisch schweizerischen Diskontinuität findet sich im Beitrag von Rohit Jain. Er geht den Implikationen der Comedyfigur ‚Rajiv Prasad’ nach, die von Victor Giacobbo in seiner populären Late-Night-Show zwischen 1998 und 2002 wiederholt verkörpert wurde. Die Popularität dieser Figur stützt auf keine soziale Referenz oder Geschichte, da es zu diesem Zeitpunkt nur wenige in der Schweiz lebende Personen indischer Herkunft gab und auch Stereotype über betrügerische indische Männer nicht gängig waren (vgl. S. 176). Dennoch dient die Figur, die sich aus einem transnationalen Repräsentationsarchiv schöpft, als Verkörperung der ‚Anderen’ der Selbstvergewisserung des schweizerischen Selbst (vgl. S. 187). Damit lässt sich für die Schweiz ein komplexes Bild erahnen – geprägt von verschiedenen Ungleichzeitigkeiten, gespiesen aus transnationalen, globalen Verflechtungen, die sich mit nationalen Kulturen und auch innerschweizerischen Ungleichzeitigkeiten verzahnen. Vor diesem Hintergrund wären eine ausführliche Reflexion und der Einbezug der unterschiedlichen Sprach- und Kulturregionen der Schweiz für den Band eine weitere wertvolle Denkachse gewesen.
Alles in allem stößt der Band spannende Diskussionen an und eröffnet Fragen, die hoffentlich in Zukunft weiter erforscht werden: Erfordert der Ausgangspunkt einer ‚postkolonialen Schweiz’ ein Überdenken von (post-)kolonialen Analysekonzepten? Wie verzahnen sich kulturelle, diskursive mit ökonomischen Momenten? Und auf den zahlreichen Analysen des Bandes aufbauend: Wie könnte eine Dekolonisierung des Kolonialismus ohne Kolonien aussehen?
Anmerkung:
1 Shalini Randeria / Sebastian Conrad, Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002.