In der Nachkriegszeit setzte sich in westlichen Gesellschaften definitiv die Annahme durch, dass Demokratie und Kapitalismus eine Traumhochzeit auf dem Weg zum Fortschritt eingegangen waren. Der Kapitalismus schien die ideale Wirtschaftsform individueller Partizipation zu sein; umgekehrt schienen demokratische Strukturen Wachstum und Wohlstand für eine breite Bevölkerungsschicht zu garantieren. Evidenz für diese Annahme lieferten die kommunistische Welt hinter dem Eisernen Vorhang und die Zustände in den erodierenden Kolonien, die sich gerade auf den steinigen Weg zum Nationalstaat nach europäischem Vorbild machten. Auch in der Sozialgeschichte ging man nicht so weit, grundsätzlich am liberalen Fortschrittsmodell zu zweifeln. Im Gegenteil: Das Modernisierungsnarrativ, gemäß dem die industrielle Revolution einen sozialen Wandel in Gang setzte, der wesentlich im Vorangehen einiger Pioniergesellschaften und dem Anpassungsdruck auf die Nachzügler bestand, erlaubte erst das Fokussieren auf die gesellschaftlichen Folgen von Industrialisierung, Verstädterung und Konsum.1
Mit seinem Opus Magnum "King Cotton: Eine Geschichte des globalen Kapitalismus"2 lässt der an der Harvard University lehrende Historiker Sven Beckert diese eurozentrische Modernisierungslogik weit hinter sich. Er tut es, ohne seine Untersuchung von einer bestimmten Forschungstradition abzugrenzen oder sie in eine "Forschungslücke" einzupassen. "King Cotton" ist ein dezidiertes Bekenntnis zur Empirie und zum grenzüberschreitenden Blick. Beckert rückt die kapitalistische Wirtschaftsweise in den globalen Rahmen, in dem sie von Anfang an stattgefunden hat, und zwar am Beispiel der Geschichte jenes Rohstoffes, der wie kein anderer für die Transformation von Wertschöpfungsketten steht: die Baumwolle. Aufbauend auf Archivmaterial aus fünf Kontinenten macht er Zusammenhänge sichtbar, wo bisher Divergenz angenommen wurde. Entstanden ist ein Buch von großer intellektueller Autonomie, erzählerischer Radikalität und politischer Dringlichkeit.
Im ersten Kapitel zeichnet Beckert den Aufstieg der Baumwolle zum globalen Rohstoff nach. Vor 1000 Jahren war die Produktion von Baumwolltextilien in Asien, Afrika und Südamerika bereits die größte verarbeitende Industrie. Im indischen Gujarat und in Bengalen, in Peru und in Mali, in China und in Anatolien waren Spinner und Weber ländlicher Regionen über das Verlagssystem mit städtischen Kaufleuten verbunden, welche die in heimischen Manufakturen hergestellten Stoffe auf entfernten Märkten vertrieben. Die hochwertigen Produkte indischer Weber dominierten den interkontinentalen Handel. Ab dem 12. Jahrhundert entstand auch in Norditalien und später in den Städten Süddeutschlands eine bedeutende Baumwollindustrie.
Mit dem globalen Kapitalismus, dessen Ausbreitung Beckert in den Kapiteln 2 bis 8 beschreibt, hatten diese überregionalen Netzwerke allerdings noch nichts zu tun. Den Kapitalbesitzern fehlten der Wille und die Macht, Territorien, Bauern und Arbeiter ganz ihren Interessen zu unterwerfen. Das änderte sich ab 1600 mit dem bewaffneten Handel, der Entwicklung von Rechtssystemen zugunsten einer europäischen Elite und der Einführung neuer Finanzinstrumente. Nach dem Vorbild der British East India Company entstanden moderne Kapitalgesellschaften mit weitreichenden quasistaatlichen Kompetenzen. Die Regierungen verliehen ihnen das Recht, Krieg zu führen, Verträge zu schließen und Land in Besitz zu nehmen. In seiner "Geschichte des Kapitalismus" schreibt Jürgen Kocka: "Der Übergang zwischen kapitalistischem Geschäft und Kriegführung war fließend. Es gab Jahre, in denen die Gesellschaft [die niederländische Vereinigte Ostindische Kompanie] offenbar den größten Teil ihrer Einnahmen aus dem Kapern konkurrierender bzw. feindlicher Schiffe bezog."3
Beckert macht den Zusammenhang zwischen Staatsmacht und kapitalistischer Expansion noch viel deutlicher. Es ging nicht in erster Linie um das Kapern fremder Schiffe, sondern um eine revolutionäre Integration bisher unabhängiger Produktions- und Vertriebsnetzwerke: Durch militärische Macht wurden die asiatische Textilherstellung, das europäische Kapital und die amerikanische Rohstoffproduktion Teil ein und desselben Wirtschaftssystems. Das Herzstück dieses Systems war die Sklaverei. Mit indischen Textilien wurden an der westafrikanischen Küste Sklaven gekauft, mit denen man in Amerika Baumwollplantagen betreiben konnte, deren Erzeugnisse wiederum die europäische Ressourcenknappheit zu überwinden halfen. Das europäische Kapital war durch Garantien auf Rohstofflieferungen oder durch Hypotheken auf Sklaven abgesichert. Dieses präzedenzlose, unipolare System verdiene einen eigenen Namen: "Kriegskapitalismus" (S. 51).
Erst vor diesem Hintergrund wird die europäische Industrialisierung überhaupt erklärbar. Man hatte Zugang zu billigem Rohstoff, während die hohe Qualität und der geringe Preis indischer Baumwollprodukte gleichzeitig einen Innovationsdruck auf die Produzenten ausübten. Technische Neuerungen erlaubten eine Produktionssteigerung bei sinkenden Preisen und trieben die britischen Spinner und Weber aus ihren Heimwerkstätten in die neuen Fabriken. Um 1830 war in England jeder sechste Arbeiter in der Baumwollindustrie beschäftigt. Ganze Familien verarbeiteten dort Baumwolle, die in der Karibik, in Brasilien und in den amerikanischen Südstaaten von Sklaven angebaut wurde. Kriegskapitalismus und Industriekapitalismus stützten sich gegenseitig.
Es gab nur ein Land auf der Welt, das sowohl eine bedeutende Industrie hatte als auch eine auf Sklavenarbeit basierende Rohstoffproduktion: die USA. Mit dem amerikanischen Bürgerkrieg und der Abschaffung der Sklaverei brach das wirtschaftliche Zusammenspiel divergierender Rechtslagen auseinander. In den Kapiteln 9 bis 13 beschreibt Beckert den Umbau des Baumwollimperiums nach dem Sezessionskrieg, der 1861 die erste globale Rohstoffkrise auslöste und in Europa hunderttausende Textilarbeiter arbeitslos machte. Nach Kriegsende waren auf den amerikanischen Plantagen Repression und Zwangsarbeit im alten Stil auch gegen Lohn nicht mehr durchzusetzen. Es etablierte sich die Teilpacht von Parzellen.
Der weitreichendste Umbau der Produktion fand allerdings nicht in den USA statt, sondern im globalen Süden. Die Suche nach neuen Rohstoffquellen und die Expansion des Industriekapitalismus, das heißt das Eindringen europäischer Produkte und europäischen Kapitals in entfernte Märkte, führten in Asien und Afrika zu einer Welle der Deindustrialisierung und zu einer radikalen Umgestaltung der Landwirtschaft. Millionen von Menschen gaben die Handspinnerei und -weberei auf, die seit Jahrhunderten ihre Gesellschaft geprägt hatte. Europäische Handelshäuser traten an die Stelle lokaler Vertriebsnetzwerke.4 Und imperiale Staaten trieben die Baumwoll-Monokultur in Gegenden voran, die sie zunehmend formell kolonialisierten. Zahlreiche Kleinbauern, die Baumwolle bisher zusätzlich zur Subsistenzwirtschaft angebaut hatten, wurden nun von den Preisschwankungen auf dem globalen Markt abhängig.
Gleichzeitig veränderten sich im Westen die Verhältnisse zwischen Staat, Kapital und Arbeit. Die starken Staaten, die den Aufbau der Baumwollindustrie gestützt hatten, ermöglichten nun auch den Kampf für bessere Arbeitsbedingungen. Neue Arbeitsgesetze, Lohnerhöhungen und eine zunehmende Besteuerung der Unternehmen führten zu sinken Arbeitszeiten, steigenden Produktionskosten und geringeren Profiten. Mit der Niedriglohnkonkurrenz aus Asien begann eine Verlagerung der Textilproduktion zurück in den globalen Süden.
Soweit der weit gespannte Bogen, den Beckert mit der Dekolonisation und einem Ausblick auf die jüngste Vergangenheit schließt. Das Radikale dieses Buches liegt nicht in einer handlichen These oder in der Präsentation völlig neuer Gegenstände, sondern im Korrelieren zeitlich und geografisch weit auseinanderliegender Prozesse und Ereignisse. Es ging Beckert darum, die "Einheit des Verschiedenartigen" aufzuzeigen (S. 16). Diese scheinbar einfache Bewegung resultierte in einer Neuinterpretation des Verhältnisses von Kapital und Arbeit, von Industrialisierung und Deindustrialisierung, von politischer und ökonomischer Macht. Der tautologisch gewordene Begriff "Globalisierung" erhält in diesem Buch seine Historizität zurück. Die "Great Divergence" wird in einen neuen Zusammenhang gestellt. Und der Kapitalismus, von dem hier die Rede ist, ist kein Modernisierungsinstrument, sondern eine unheimlich kreative Kraft, die globale Ordnungen immer wieder ihrer schöpferischen Zerstörung unterwirft. Wer sich auf die Lektüre einlässt, riskiert den Verlust alter Gewissheiten und wird mit einem justierten Weltbild belohnt.
Anmerkungen:
1 Vgl. auch Timothy Mitchell, The Stage of Modernity, in: Ders. (Hrsg.): Questions of Modernity, Minneapolis 2000, S. 1–34.
2 Die hier besprochene Übersetzung erschien parallel zum amerikanischen Original: Sven Beckert, Empire of Cotton. A Global History, New York 2014.
3 Jürgen Kocka, Geschichte des Kapitalismus, München 2014, S. 50.
4 Vgl. auch Christof Dejung, Die Fäden des globalen Marktes. Eine Kultur- und Sozialgeschichte des Welthandels am Beispiel der Handelsfirma Gebrüder Volkart 1851-1999, Köln 2013.