Mit Russlands Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 und der sukzessiven Radikalisierung dieses Krieges scheint Russlands außenpolitische Machtdemonstration vorläufig einen neuen Kulminationspunkt erreicht zu haben. Die Entscheidung für den Angriffskrieg hat sich den jüngsten Kosten-Nutzen-Kalkulationen der meisten politikwissenschaftlichen Beobachter:innen entzogen und damit eine Diskussion um die Beweggründe für Russlands Invasion entfacht. Manche außenpolitische Analyst:innen sehen darin den Versuch, „neo-imperalistische Ziele“ zu erreichen.1 Doch welche Erklärungskraft besitzt die Perspektive neo-imperialer Politik für Russlands Krieg in der Ukraine?
Auf der Suche nach Antworten auf diese Frage bietet Martin Aust mit seinem Buch „Schatten des Imperiums. Russland seit 1991“ einen historisch fundierten Deutungsversuch. Zwar ist der Band bereits 2019 erschienen, erlangt aufgrund seiner historischen Aufklärungskraft aber aktuell besondere Bedeutung. Der Osteuropa-Historiker der Universität Bonn geht darin den Folgen von Russlands doppeltem imperialen Erbe von Zarenreich und Sowjetunion für die gegenwärtige Politik des Landes nach, wobei der Schwerpunkt auf den geschichtlichen Hinterlassenschaften der UdSSR liegt. Aust zufolge befindet sich Russland seit 1991 in einer „postimperialen Konstellation“ (S. 14). Die Frage nach dem politischen und gesellschaftlichen Umgang mit den imperialen Erbschaften sei noch nicht geklärt.
Der Autor setzt sich zum Ziel, die Erkenntnisse der jüngeren Geschichtsforschung zu Imperien für die Analyse der politischen Entwicklungen Russlands der letzten 30 Jahre fruchtbar zu machen und möchte die öffentliche Diskussion um Russland und Imperien damit um einen „wissenschaftlich informierten Beitrag“ bereichern (S. 14). Insofern als deutschsprachige Ausführungen zur Politik Russlands seit 1991 mehrheitlich politikwissenschaftliche oder journalistische Perspektiven einnehmen, sind zeithistorische Analysen wie die von Aust eine willkommene Erweiterung in dieser Debatte.
Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel. Eingangs geht der Historiker auf den emotional aufgeladenen Russland-Diskurs in Deutschland ein und problematisiert die Fokussierung auf die Person Putins, die zu einer Überschätzung der Handlungs- und Entscheidungsmacht des Präsidenten führe. Ausgangspunkt für ein fundiertes Verständnis von Russland, so wirbt Aust, sei der Blick auf sein vielschichtiges imperiales Erbe, der neben historischen und strukturellen Zusammenhängen auch politische Eliten und öffentlich-gesellschaftliche Debatten mit einbinden müsse.
Was jedoch ist ein Imperium? Im Gegensatz zu der oft wertenden Nutzung des Begriffs in der medial-politischen Debatte versucht der Autor ihn analytisch für ein besseres Verständnis der Entwicklung Russlands nach 1991 nutzbar zu machen. Aust verbindet geschichts- mit politik- und sozialwissenschaftlichen Ansätzen zu einer Imperiumsdefinition, der zufolge imperiale Handlungen in verschiedenen räumlichen Dimensionen zu verorten seien – etwa in der Nachbarschaft des Imperiums, im Gesamtstaat selbst oder in einzelnen Regionen innerhalb des Imperiums – und die danach fragt, „wie das imperiale Zentrum die Machtressourcen Politik, Militär, Infrastruktur, Ökonomie und Kultur einsetzt“ (S. 29). Zu Russlands Postimperium gehörten sein Hegemonieanspruch im postsowjetischen Raum, seine Rolle in den eingefrorenen Konflikten der Region, sein internationaler Großmachtanspruch sowie der Aufbau einer präsidentiellen Machtvertikale.
Eine in Deutschland verbreitete Vorstellung, so Aust, sei, dass das Ende eines Imperiums ein punktuelles Ereignis darstelle. Der Untergang eines Imperiums und der Umgang mit seinem Erbe könnten indes ein längerer Prozess sein, „der sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt und Phasen beinhaltet, in denen Versuche zum Erhalt von Teilen des Imperiums sowie postimperiale und neoimperiale Phasen sich überlappen” (S. 41). Dies veranschaulicht der Historiker mit vergleichenden Betrachtungen der postimperialen Konstellationen Frankreichs, Großbritanniens, Deutschlands und Russlands, denen das dritte Kapitel gewidmet ist. Im Unterschied zu Japan und Deutschland nach 1945 sei mit dem Ende der Sowjetunion nicht auch zeitgleich ein Imperium verschwunden, sondern eine Phase eingetreten, in dem das Land nach dem Umgang mit seinen imperialen Hinterlassenschaften suche. Anhand der Beispiele Frankreichs und Großbritanniens im 20. Jahrhundert illustriert Aust, dass Russland in dieser Hinsicht kein Sonderfall ist: zum postimperialen Repertoire der Übergangsphase gehörten ebenso Reformbemühungen wie Gewalt und Krieg als letztes Mittel. Schließlich brauche es Zeit, „bis imperiale Politik in den Köpfen der politischen Elite eines Landes keine Option mehr darstellt“ (S. 44-45).
Im vierten Kapitel widmet sich der Autor dem Ende der Sowjetunion und speziell der Rolle Michail Gorbatschows, der aufgrund seines gescheiterten Versuchs, die Teilrepubliken der UdSSR mit einem neuen Unionsvertrag zusammenzuhalten als „Erblasser wider Willen“ bezeichnet wird (S. 47). Neben den politischen und ökonomischen Folgen der Transformation wirke das imperiale Erbe auch in Teilen der Gesellschaft fort, die durch den „gemeinsamen transnationalen Erfahrungsraum“ (S. 57) der Sowjetunion geprägt seien.
Im darauffolgenden, mit Abstand umfangreichsten Kapitel richtet sich das Augenmerk auf den Umgang Russlands mit seinen imperialen Erbschaften nach 1991. Dazu gehört die Gestaltung der Zentrum-Peripherie-Beziehungen, die seit Putin stark hierarchisch organisiert sind, dabei aber Schwächen der staatlichen Zentralisierung und Lenkung erkennen lassen, wie Aust etwa am Fall Tschetscheniens als Staat im Staat verdeutlicht. Darin schreibe sich sowohl das zarische Erbe „als überregulierte und unterverwaltete Monarchie“ als auch das sowjetische „als eines Staates an den Grenzen des Planbaren fort“ (S. 88). Auch das noch nicht gänzlich geklärte Verhältnis Russlands zur multinationalen Gesamtbevölkerung spiegele eine Dimension imperialer Hinterlassenschaft. Aust zeigt, dass die Geschichte des Zarenreiches und der Sowjetunion in jüngeren russischen Imperiumsvorstellungen – wie sie sich in publizistischen, literarischen und politischen Deutungsangeboten widerspiegeln – durchaus präsent ist. Insofern greife die symbolische Herrschaftsinszenierung Putins durchaus Erwartungshaltungen der politischen Elite und der Bevölkerungen auf.
Schließlich geht es um Russlands Außenpolitik. Der Autor arbeitet heraus, wie sich Russlands Beziehungen zu den 14 anderen ehemaligen Sowjetrepubliken über den Zeitverlauf verändert haben. Die Anspruchshaltung, den postsowjetischen Raum als russische Interessensphäre zu betrachten, habe sich seit den 1990er-Jahren sukzessive verstärkt und mit der Annexion der Krim 2014 eine neue Eskalationsstufe erfahren. Ab Mitte der 2000er-Jahre habe neben einem zunehmend klar formulierten Großmachtanspruch auch die Vorstellung der „russischen Welt“ (russkij mir) als eigene „zivilisatorische Mission“ an Gewicht gewonnen, die über Grenzen hinweg all jene in Abhängigkeit von oder in den Bestand der Russischen Föderation bringen soll, die Russisch sprechen und sich der russischen Kultur verbunden fühlen. Austs These, Russlands Außenpolitik unter Putin sei „von der Politik eines Systemeintritts in die Strukturen des Westens zur Politik der Systemänderung übergegangen“ (S. 102), scheint vor dem Hintergrund der aktuellen Geschehnisse treffender denn je.
Der Historiker schließt mit einem Ausblick auf Russlands Zukunft. Dabei identifiziert er mehrere Herausforderungen für die weitere politische Entwicklung Russlands, darunter der Umgang des Landes mit seiner Multiethnizität, die Beziehungen zwischen föderalem Zentrum und den Regionen und nicht zuletzt Russlands Positionierung in der Welt. Von Russlands Zeitgeschichte leitet der Autor drei Szenarien ab: eine „neoimperiale Entfaltung“, eine Phase der Stagnation und reduzierten weltpolitischen Rolle, oder eine mögliche „Unordnung beim Machttransfer in die Post-Putin-Zeit“ (S. 133). Aus heutiger Sicht scheint Austs erstes Modell, das die Expansion in den postsowjetischen Raum miteinschließt, am zutreffendsten zu sein.
Eine der größten Stärken von Austs Arbeit liegt im nüchternen Ton seiner Analyse, die einen wertvollen Beitrag zu der oft hitzig geführten öffentlichen Diskussion über Russland leisten kann. Das Buch ist in verständlicher Sprache verfasst, womit es einer über das akademische Fachpublikum hinausgehenden Leserschaft zugänglich ist. Eine weitere Stärke liegt in dem von Aust gewählten Imperiumsansatz und den vergleichenden Ausführungen zu den oft schwierigen und langwierigen Prozessen postimperialer Transformation. Denn dieser Blick in den historischen Rückspiegel lenkt den Fokus auf langfristige, in der historischen Kontinuität des Imperiums stehenden Strukturen, welche die Politik des gegenwärtigen Russlands beeinflussen und auch über Putin hinaus noch prägend sein werden. Diese Perspektive verdeutlicht, dass Erklärungen der außenpolitischer Aggression Russlands, die primär auf Kränkungserfahrungen, äußeren Entscheidungen oder den personalistischen Charakter des Regimes abstellen, zu kurz greifen. Insofern ist dem Autor zuzustimmen, wenn er es schon 2019 für fahrlässig hielt, „zu denken, dass das Ausscheiden Putins aus dem Amt das Land schlagartig verändern wird und alle jetzigen Fragen im Verhältnis Russlands zu Europa sich von allein lösen werden“ (S. 136).
Bei aller Kenntnis des Osteuropa-Historikers ist sein Beitrag nicht frei von Schwächen. Zu bedauern ist, dass Austs Ausführungen über den Verlauf des Buches in ihrer argumentativen Stärke abnehmen. Dies äußert sich im eigentlich zentralen fünften Kapitel, welches die Beziehungen zwischen Russland und seinen Nachbarstaaten nachzeichnet, dabei in Teilen aber eher narrativ als analytisch wirkt. Politikwissenschaftlich informierte Leser:innen mag zudem irritieren, dass das politische System Russlands der späten 2010er-Jahre als „gelenkte Demokratie“ (S.93) bezeichnet und damit eine Anfang der 2000er-Jahre durch die russischen Machthaber genutzte Selbstzeichnung verwendet wird, anstatt den von Aust bereits in früheren Abschnitten des Buches erläuterten autoritären Charakter des Regimes auch typologisch entsprechend abzubilden.
Das ändert jedoch nichts daran, dass Martin Aust insgesamt eine sehr lesenswerte Analyse von Russlands postimperialer Situation gelungen ist, welche die heutige Bestandsaufnahme der durchaus komplexen russischen Außenpolitik um historische Tiefe bereichert.
Anmerkung:
1 Sabine Fischer, Außen- wie innenpolitische Machtdemonstration, in: Laura von Daniels u.a., Russischer Angriff auf die Ukraine: Zeitenwende für die euro-atlantische Sicherheit. SWP-Kurz gesagt, 28.02.2022 <https://www.swp-berlin.org/publikation/zeitenwende-fuer-die-euro-atlantische-sicherheit> (13.03.2022).