Nach Erhard als Rivale Adenauers um das Kanzleramt1 und als „naiver Ökonom“, selbstgefällig-missionarischer Wirtschaftspolitiker und gescheiterter Kanzler2 nun Erhard als Pionier der Globalisierung: Reinhard Neebe, durch mehrere Veröffentlichungen zur westdeutschen Außenwirtschaftspolitik bestens ausgewiesen, zeichnet in seiner Bielefelder Habilitationsschrift ein von Sympathie zu seinem Protagonisten grundiertes Bild des langjährigen Bundeswirtschaftsministers und kurzzeitigen Kanzlers. Gewonnen hat er dieses Bild in erster Linie aus einer dem transnationalen Ansatz in der Politikwissenschaft verpflichteten Analyse der „Weltmarktpolitik Erhards in ihrem theoretischen und historischen Gesamtzusammenhang“ und einer Abklärung ihres „Stellenwerts für die Reintegration Deutschlands und Europas in die Weltwirtschaft sowie die Globalisierung nach 1945“ (S. 31). Es sei nicht zuletzt das Verdienst des Bundeswirtschaftsministers gewesen, so eine Hauptthese Neebes, „wenn die überkommenen Denkmuster hegemonialer Welten und gegeneinander gerichteter Staatenkoalitionen im Deutschland der Adenauer-Ära dauerhaft abgelöst“ worden seien durch das „Paradigma des Handelsstaates“ (S. 18). Dieses Verdienst erscheint umso größer, als Neebe völlig zu Recht von der „relativen Offenheit“ (S. 21) des Reintegrationsprozesses ausgeht – ein Aspekt, der in der Forschung bisher übersehen oder zumindest unterbewertet worden sei. Der Autor verspricht also neue Erkenntnisse und Interpretationen zu einem Thema, das nicht gerade als „unterforscht“ gelten kann.
Gegenstand und Ansatz entsprechend stützt sich Neebe auf Akten sowohl aus staatlichen bzw. halbstaatlichen als auch aus Verbands- und Unternehmensarchiven. Zu ersteren zählen das Bundesarchiv Koblenz – hier vor allem die Bestände des Wirtschaftsministeriums und des Kanzleramtes –, das Politische Archiv des Auswärtigen Amts, der Nachlass Erhard in der gleichnamigen Stiftung, das Historische Archiv der Deutschen Bundesbank, die National Archives in Washington sowie verschiedene Presidential Libraries; zu letzteren die Bestände des Bundesverbands der Deutschen Industrie, des Vereins Deutscher Maschinenbau-Anstalten, der Wirtschaftsvereinigung Stahl und der Gutehoffnungshütte. Zwölf wichtige Dokumente, überwiegend von Erhard verfasste Schriftstücke, sind im Anhang des Buches abgedruckt. Angesichts dieser breiten Quellenbasis mag der Hinweis auf das Fehlen französischer Akten zunächst überzogen anmuten; allerdings birgt eine Rekonstruktion der französischen Politik auf der Grundlage deutscher und amerikanischer Akten die Gefahr der Verzerrung: Neebe übernimmt denn auch ziemlich unkritisch den insbesondere von Erhard strapazierten Protektionismus-Vorwurf an die französische Adresse.
Die Darstellung setzt im Jahr 1944 mit der Kontroverse über den „Morgenthau-Plan“ ein, dem Neebe, wohl um seine These von der Offenheit der Entwicklung zu untermauern, mehr Beachtung schenkt, als der Plan aufgrund seines episodenhaften Charakters eigentlich verdient. Demgegenüber handelt er den Marshallplan als ersten Schritt zur Integration Westdeutschlands in den Weltmarkt und Ausgangspunkt der Liberalisierung des Handels ziemlich kurz ab, und für die behauptete „Schlüsselrolle“ Erhards (S. 81) in diesem Prozess bleibt er überzeugende Beweise schuldig. In den nächsten Kapiteln geht es um die weiteren außenwirtschaftspolitischen Etappen in Richtung Weltmarkt: den Beitritt der Bundesrepublik zum „General Agreement on Tariffs and Trade“ (GATT), das Londoner Schuldenabkommen und die Wiedergutmachungsregelung mit Israel, die Verteidigung der marktwirtschaftlichen Ordnung während der Korea-Krise und die deutschen Versuche, die strukturelle Asymmetrie im Handel mit dem Dollarraum abzubauen. Neu ist dabei vor allem der Nachweis einer „Schlüsselrolle“ Erhards (S. 122) als Verbündeter des Kanzlers im innenpolitischen Streit um die Widergutmachung, wenngleich Neebe einräumt, dass die Entschlossenheit Adenauers letztlich den Ausschlag für den Abschluss eines Abkommens gegeben habe (S. 126).
Das folgende Kapitel handelt von der Moskauer „Weltwirtschaftskonferenz“ im April 1952, die Neebe zu Recht als „einen ersten wichtigen Wendepunkt in der Ära des Kalten Krieges“ und Übergang zu „einer ersten Phase relativer Entspannung“ deutet (S. 228). Anschließend wendet er sich wieder der westlichen Hemisphäre zu und schildert die Entwicklung der transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen mit der Exportoffensive insbesondere in Lateinamerika, ehe er die Anfänge der „kleineuropäischen“ Integration und den integrationspolitischen Streit zwischen „Funktionalisten“ und „Institutionalisten“ sowie den Einsatz Erhards und der westdeutschen Industrie für eine alle Mitgliedsländer der „Organization for European Economic Co-operation“ (OEEC) umfassende Freihandelszone analysiert. Dabei übergeht er allerdings den Schwenk des Bundeswirtschaftsministers vom Kritiker zum Anhänger der lange Zeit ungeliebten OEEC. Danach thematisiert Neebe das Verhältnis zwischen der „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) und der „European Free Trade Association“ (EFTA) einschließlich des erfolgreichen Widerstands Erhards und des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) gegen den Plan des EWG-Kommissionspräsidenten Hallstein, vorzeitig einen gemeinsamen Außenzolltarif einzuführen und den Abbau der EWG-internen Zölle zu beschleunigen. Neebe sieht den Bundeswirtschaftsminister deshalb „zum ersten Mal als Sieger die Kampfarena“ verlassen (S. 369) – ein Urteil, das angesichts der nur geringfügigen Modifikation des Beschleunigungsplans der Kommission allerdings etwas deplatziert wirkt.
Die letzten drei Kapitel befassen sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit dem Spannungsverhältnis zwischen „europäischer“ und „atlantischer“ Orientierung in der Außen- und Außenwirtschaftspolitik, insbesondere mit dem handelspolitischen Streit zwischen der Bundesrepublik und den USA über den Agrarprotektionismus der EWG und der Anfang der 1960er-Jahre aufflammenden außenpolitischen Kontroverse zwischen „Atlantikern“ und „Gaullisten“ in der Bundesrepublik. Den Erfolg der deutschen „Atlantiker“ schreibt Neebe der „immer mächtiger werdenden Querachse“ (S. 473) aus den Spitzenverbänden der Wirtschaft, dem Bundeswirtschaftsministerium und dem Auswärtigen Amt unter der entschlossenen Führung Erhards zu. Im Gegensatz zu Adenauer und de Gaulle, die mit ihrem Projekt eines deutsch-französischen Zweibunds „konzeptionell zur überkommenen Großmachtpolitik des 19. Jahrhunderts zurückkehren wollten“, habe der Wirtschaftsminister „,europäische Interessenpolitik’ im besten Sinne des Wortes“ betrieben, „indem er die Globalisierung der Märkte richtig antizipierte und zur Grundlage seiner Überlegungen und Entscheidungen“ gemacht habe (S. 503f.). Mit diesem Fazit bricht die eigentliche Darstellung überraschend im Jahr 1963 ab, so dass der Eindruck entsteht, als ende die „Ära Ludwig Erhard“ – falls man von einer solchen überhaupt sprechen kann – bereits vor dessen Rücktritt vom Amt des Kanzlers im November 1966.
Die Studie besticht durch eine dichte Rekonstruktion der zwischen „europäischer“ und „atlantischer“ Orientierung wechselnden Außenwirtschaftspolitik der Bundesrepublik und der damit verbundenen Integration Westdeutschlands in den von den USA dominierten Weltmarkt – eine beachtliche und verdienstvolle Leistung. Grundlegend neue Erkenntnisse bietet das Buch indes nicht: Dass es beispielsweise keinen Automatismus in Richtung Westintegration gegeben habe, stellt ebenso wenig eine Neuentdeckung dar wie der Hinweis auf den langjährigen integrationspolitischen Richtungsstreit oder die wichtige Rolle der Wirtschaftsverbände. Und gewiss wurden in diesen Jahren die Weichen in Richtung „Handelsstaat“ gestellt, doch hat sich Neebe in dem Bemühen, Erhard gegen seine Kritiker und eine Adenauer glorifizierende Geschichtsschreibung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, dazu hinreißen lassen, den Anteil seines „Helden“ an dieser Entwicklung überzubewerten.
Anmerkungen:
1 Koerfer, Daniel, Kampf ums Kanzleramt. Erhard und Adenauer, Stuttgart 1987.
2 Hentschel, Volker, Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, München 1996.