R. Habermas u.a. (Hgg.) Interkultureller Transfer

Cover
Titel
Interkultureller Transfer und nationaler Eigensinn. Europäische und anglo-amerikanische Positionen der Kulturwissenschaften


Herausgeber
Habermas, Rebekka; von Mallinckrodt, Rebekka
Erschienen
Göttingen 2004: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Gangolf Hübinger, Vergleichende Kulturgeschichte, Europa-Universität Frankfurtan der Oder

Welche Erwartungen weckt ein Buch, das unter diesem gewichtigen Titel in die gegenwärtige Konjunktur der global history und ihrer interkulturellen Beziehungsgeschichten hinein veröffentlicht wird? Der vorliegende Band nimmt die inzwischen wieder umstrittene Position ein, dass Wissenschaften nicht mehr mit Max Weber idealtypisch an einer Unterscheidung von wahr und falsch ausgerichtet sind, sondern, mit Bruno Latour gesehen, nur als „spezifisch andere Orte von Wissensproduktion“ gelten können (S. 9). Mit dieser Vorgabe stellen die Beiträge exemplarische Kulturtheorien vor. Sie sollen Anstöße zu einer neuen Wissenschaftsgeschichte liefern, in der die kontinentaleuropäischen und anglo-amerikanischen Wechselbeziehungen umgeschrieben werden.

In bewährt sicherem Überblick steckt Otto Gerhard Oexle im ersten Aufsatz den problemgeschichtlichen Rahmen ab. Oexle fordert wissenschaftsgeschichtliche Tiefenschärfe und erinnert einmal mehr an die Entstehung und die bis heute unabgegoltenen Problemstellungen der „Historischen Kulturwissenschaft um 1900“ mit ihrem erkenntniskritisch versierten „Kultur-Begriff“ sowie an den schwierigen aber unvermeidbaren Dialog von Kultur- und Naturwissenschaft. Es ist ein Plädoyer, die von Ulrich Beck erst für das Ende des 20. Jahrhunderts ausgemachte „reflexive Moderne“ bereits mit dem Beginn dieses kurzen Jahrhunderts der Extreme einsetzen zu lassen. Kann Oexle damit eine Brücke bauen und Anschlussfähigkeit für die theoretischen Interessen der jungen WissenschaftlerInnen der Max Planck Research School erzeugen, die im Folgenden mit 11 Beiträgen vertreten sind?

Gleich der erste Beitrag, in dem es um die Konjunktur von Homi Bhabas postkolonialer Hybriditätstheorie geht, macht deutlich, dass ein solcher Anschluss bzw. Transfer in postmoderne Debatten nicht gelingt und mit den hier vorgeführten Positionen ein Neustart intendiert ist. Ein politisch-wissenschaftliches Doppelinteresse der „neuen“ Kulturwissenschaften richtet sich auf Hybridität („Rassenvermischung“) als „eine Praxis der kulturellen Subversion im kolonialen Diskurs“ sowie als „Bestandteil einer postkolonialen Kulturtheorie“. Im selektiven Einbau in den deutschsprachigen Kulturalismus sei die bei Bhaba intendierte subversive Machtkritik verloren gegangen (Kien Nghi Ha). Eine andere Transferperspektive eröffnet die Sprach- und Begriffsgeschichte in ihren politisch-sozialen Kontextualisierungen. Der hierzu gern gezogene Vergleich zwischen Reinhart Kosellecks historischer Semantik und der Schule von Pocock und Skinner lässt am Ende jedoch offen, wie die zwischen deutschem Geist und Westeuropa konkurrierenden Theorieangebote nun tatsächlich auf amerikanische Deutungen des Verhältnisses von Sprache und Geschichte (Jörn Leonhard) gewirkt haben. Erkennbarer an den Botschaften zwischen alter und neuer Welt ist der Beitrag über Stephen Greenblatt und den New Historicism orientiert (Claudius Sittig). Hubertus Büschel vermutet, dass die Historiografie der Emotionen die amerikanische Debatte um Psychoanalyse und Geschichtswissenschaft wie schon einmal in den 1970er-Jahren wieder nach Deutschland tragen wird. Wenn Nadezda Shevchenko die Rezeption des sowjetischen Zeichentheoretikers Jurij M. Lotman in der postsowjetischen Kulturwissenschaft mit der im neu vereinigten Deutschland vergleicht, ein zweifellos interessanter Aspekt, drängt sich die Titelfrage auf, welcher Transfer in welchen interkulturellen und namentlich transatlantischen Dimensionen denn hier angesprochen werden soll. Ähnliches gilt, wenn Stefan Schweizer in seiner Dokumentation der Aby-Warburg-Renaissance sehr allgemein von „der angelsächsischen Welt“ spricht und im Wesentlichen London meint. Auf einen wichtigen Aspekt der mit diesem Band intendierten Positionsbestimmungen weist am Ende die Mitherausgeberin Rebekka von Mallinckrodt in ihrer Interpretation des französischen Kulturhistorikers, des Jesuiten Michel de Certeau hin, auf die asymmetrischen und marktgesteuerten Eigenwege nationaler Rezeptionen. Sie verfolgt die Rolle, die der in seinem Heimatland Frankreich zum Klassiker avancierte Certeau bei der Institutionalisierung der amerikanischen „cultural studies“ spielte und bedauert im Gegenzug, dass weder im intellektuellen Grenzverkehr der europäischen Nachbarstaaten, noch über den amerikanischen Umweg Certeau für den deutschen Kulturdiskurs Bedeutung erlangte.

Am Ende des Buches dürften nicht wenige Leser das Bedürfnis verspüren, noch einmal die Einleitung zu konsultieren. Was war zeit-räumlich mit „interkulturellem Transfer“ angesprochen und was als „nationaler Eigensinn“ ausgemacht? Stimmt es, dass gleich ganze „Wissensysteme“ zwischen Europa und dem englischsprachigem Amerika in bislang nicht beachteter Dynamik ausgetauscht werden (S. 15, 23)? Eine „neue Wissenschaftsgeschichte“ wird eingefordert, welche die dynamischen Prozesse zwischen der kognitiven Struktur von Theorien, dem praktischen Forschungsalltag von WissenschaftlerInnen sowie drittens den Verlagen, Museen und Zeitschriften als relevanten Medien der Wissensdistribution rekonstruiert. Wäre doch dieses dreipolige Analyseraster tatsächlich an Homi Bhaba, Lotman, Koselleck, Warburg und den anderen Genannten transfergeschichtlich ausgetestet worden. Der Band hätte wegweisend sein können. So liest er sich zum einen wie eine Verabschiedung der von Oexle eingangs umrissenen Wissenschaftskultur unter der Devise, es gibt nichts Wahres, nur Neues. Zum anderen üben sich eine Reihe von Beiträgen weniger in der Transferforschung, wie sie methodisch reflektiert und empirisch gehaltvoll etwa von Jürgen Osterhammel seit langem praktiziert wird, sie bevorzugen vielmehr die gute alte Rezeptionsgeschichte.

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Veröffentlicht am
10.12.2004
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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