Mit dem besprochenen Band legt der renommierte Hannoveraner Osteuropa- und Universalhistoriker Hans-Heinrich Nolte ein Werk vor, welches auf 544 Seiten eine kompakte Übersicht der über tausendjährigen Geschichte Rußlands darbietet. Wie auch in einer ihm 2003 gewidmeten Festschrift gewürdigt wurde, begnügt Nolte sich „als einer der wenigen Generalisten unter den deutschen Historikern“ in seinen wissenschaftlichen Forschungsgebieten nicht mit historischem Spezialismus, und hat sich dementsprechend insbesondere auf dem Gebiet der Globalgeschichte, unter anderem als Herausgeber der „Zeitschrift für Weltgeschichte“, hervorgetan.1 Dem steht das anhaltende öffentliche Interesse an komprimierten Darstellungen von Nationalgeschichten gegenüber, wie bereits in einer in der Süddeutschen Zeitung vom Februar erschienenen kleineren Rezension von Dietrich Geyer konstatiert wurde, der zu Recht auf die etwa zeitgleich in der „Beck’schen Reihe Wissen“ erschienene, auf bloße 112 Seiten gebrachte „Russische Geschichte“ von Andreas Kappeler verweist.2 Mit der Neuauflage von 2003 (die erste Auflage stammt aus dem Jahre 1998) trägt der Stuttgarter Reclam Verlag augenscheinlich dem nach wie vor aktuellen Interesse einer breiten Leserschaft am Thema Rußland Rechnung. Die aktualisierte Fassung ist nunmehr um die Ära Putin erweitert worden und liegt inhaltlich damit am „Puls der Zeit“. Eine neue Geschichte Rußlands ist sie freilich nicht: Bereits 1991 hat Nolte ein Buch unter dem Titel „Rußland/ UdSSR“ geschrieben.3 Eher zufällig findet sich der Hinweis auf dieses Vorgängerwerk im Anhang des aktuellen Buches, das somit eine „durchgehende Überarbeitung und Erweiterung darstellt“ (S. 527). Bis auf ergänzende Kapitel zum Zeitgeschehen nach 1991 und erweiterten Literaturhinweisen sind beide Werke freilich identisch, sieht man von den Passagen ab, in denen Nolte „sowjetisch“ durch „rußländisch“ ersetzt und seine 1991 vorgenommenen Einschätzungen zur zukünftigen Entwicklung des Landes weggelassen hat. Es kann nicht Ziel sein, an dieser Stelle sämtliche Ergänzungen und Umarbeitungen aufzulisten. Ob diese Feststellung überhaupt ins Gewicht fällt, mag für manchen ohnehin mehr nebensächlicher Natur sein, und in der Tat sind es eher grundsätzliche Beobachtungen zum Inhalt und Konzept des Buches, zu denen im Folgenden einige kritische Bemerkungen anzustellen gestattet sein mögen.
Das Buch beginnt mit einem Kapitel über die geografischen „Voraussetzungen osteuropäischer [hier vor allem: rußländischer] Geschichte“, die auch die frühesten geschichtlichen Ereignisse mit einbezieht (Kapitel 1). Die folgende historische Darstellung startet mit der Kiewer Rus und endet mit der Ära Putin (Kapitel 2-25.10). Den zeitlichen Schwerpunkt bildet dabei das 20. Jahrhundert - ihm, und damit insbesondere der Sowjetunion, gesteht Nolte mit beinahe zwei Drittel des Buches den thematischen Löwenanteil zu. Es folgt ein Kapitel „Summen rußländischer Geschichte“, worin der Versuch unternommen wird, Gemeinsamkeiten und Unterschiede Rußlands und Europas nachzuzeichnen (26.1). Unter dem Abschnitt „Perioden“ werden nochmals die wichtigsten historischen Grundzüge in Kurzform zusammengefasst (26.2). Im anschließenden Kapitel „Rußländische Beiträge zur Weltgeschichte“ – anders als der Titel vermuten läßt – nimmt der Autor weniger eine universalhistorische Einordnung Rußlands vor, als er vielmehr die spezifischen Charakteristika und Besonderheiten der rußländischen Geschichte hervorhebt (26.3). Es schließt sich ein Kapitel „Zur Methode: Komparatistisch berichten“ an (27), welches den Charakter einer nachgestellten Einführung in den Band hat. Im umfangreichen Anhang finden sich Literaturnachweise, eine umfassende und aktualisierte Bibliografie, sowie zusätzliche Schaubilder, Tabellen und Stammtafeln (28-31).
Nolte nimmt den Leser mit auf die mehr als ein Jahrtausend umfassende Reise durch die Geschichte Rußlands und versäumt es nicht, ihm zu beinahe jedem Thema Informationen zu bieten. Das Buch hat den Charakter eines umfassenden Kompendiums: Der Leser erfährt politik- und strukturgeschichtliche (und für die sowjetische Zeit vor allem wirtschaftsgeschichtliche) Grundzüge der russischen Geschichte. Biografische Einschübe vermitteln Informationen über Persönlichkeiten, die großen Epochen schließen immer wieder mit zusammenfassenden sozial- und kulturgeschichtlichen Aspekten, wie Frauen, Alltag, oder Religion, ab. Das Werk weiß positiv zu gewinnen durch Bereiche, die über diese „klassischen“ Themen hinausreichen, wie etwa Migrationsgeschichte (18.1; 24.8; 24.9; 24.10; S. 415; S. 417) und umwelthistorische Überlegungen (22.5; S. 415). Hinzu kommen des weiteren gelegentliche Einschübe, die aus dem persönlichen, über dreißigjährigem Forschungsinteresse des Autors entstammen, wie Überlegungen zu „Peripherie-Halbperipherie-Zentrum“ (21.1; S. 159; S. 272; S. 419; S. 422; S. 469) dem Vergleich der Diktaturen Stalins und Hitlers (17.10), oder der „doppelten Asymmetrie“ (besonders S. 452) im Vergleich russischer und deutscher Entwicklungslinien. Zur Gegenwartsgeschichte der Staaten der ehemaligen Sowjetunion wird in die Nationalismus-Forschung eingeführt (24.1). Auch findet sich in diesem Kapitel eine kurze Beschreibung der wichtigen Ethnien und ihre sowohl historische als auch aktuelle politische Rolle im Gebiet der GUS (24.2-24.10). Zahlreiche Karten, Schaubilder, Tabellen und Statistiken illustrieren den jeweiligen Inhalt der Abschnitte.
Die Notwendigkeit einer Reduktion des Stoffes ergibt sich hieraus von selbst, worauf bereits der Titel „Kleine Geschichte Rußlands“ verweist. Bei der unglaublichen Fülle des Materials liegt es auf der Hand, daß dieses im einzelnen nur kurz abgehandelt werden kann. So ist die Stückelung des Buches in Einzelabschnitte sehr kleinteilig: Die Gliederung ist in 27 Kapitel mit etwa 180 Abschnitten aufgeteilt. Selten umfaßt ein Abschnitt mehr als 2 ½ Seiten. Bei einem solchen Unterfangen erscheint die Auswahl des Stoffes besonders wichtig. Hier kann man sich des Verdachts nicht ganz erwehren, der Autor habe sich zuviel vorgenommen: Der Leser kann zwar zu fast jedem Interessengebiet etwas finden, erfährt dabei aber mitunter nicht mehr als ein paar knappe Zeilen. Eine große Ausnahme bildet der Teil über wirtschaftliche und demographische Entwicklungen der Sowjetunion. Offenbar liebt Nolte es, die für das 20. Jahrhundert vorliegenden Statistiken, Tabellen und Daten seitenweise zu erörtern, erweckt freilich dabei den Eindruck, mitunter ins Detail abzudriften. So erfährt man beispielsweise, daß 1959 dem Sowjetbürger genausoviel Kalorien zur Verfügung standen wie dem Bundesbürger, „aber mit weniger Eiweiß; er verbrauchte etwa zwei Drittel an Textilfasern und hatte die Hälfte des Wohnraums zur Verfügung; auch besaßen deutsche Haushalte achtmal soviel Kühlschränke und 27mal so viele PKW“ (S. 334). Solche Aufzählungen und Gegenüberstellungen füllen mitunter Seiten; demgegenüber wird die historische Darstellung früherer Perioden und zum Teil prägender historischer Ereignisse auf das Allernötigste reduziert – so erschöpft sich etwa der Abschnitt über den I. Weltkrieg in knappen zwei Seiten (12.1), und die Information über die polnischen Aufstände des 19. Jahrhunderts beschränkt sich auf einen Satz (S. 147). Die starke Berücksichtigung des 20. Jahrhunderts mag unter den Gesichtspunkten der Quellenmenge und zeitlichen Nähe gerechtfertigt sein - dennoch ist die z.T. sehr verflachte Darstellung der vorangegangenen Epochen schade.
Offenkundig war Noltes Motiv für die mitunter drastische Reduktion die Rücksichtnahme auf das Konturieren der grundsätzlichen historischen Entwicklungslinien und die Beschränkung auf das Wesentliche, damit der Leser einen „roten Faden“ nicht aus dem Blick verliert. Gerade unter diesem Eindruck sorgt freilich die Auswahl und der Sinn der biografischen Einschübe für Verwirrung, wenn etwa Zar Nikolaus II. nur einmal Erwähnung findet, und das anläßlich seiner Heiligsprechung im Jahre 2000 (S. 424), und Breshnew keinen biografischen Artikel zugunsten Vera Figners (S. 161f.), Alexandra Kollontajs (S. 185) und der anekdotenhaften Beschreibung Pjotr Gawrilows (S. 120f.), erhält. Warum in einer Tabelle von „Daten zum Vergleich von Industrie und Sozialstruktur 1913“ ausgerechnet Indien neben Rußland, England, Deutschland und den USA aufgeführt wird (und dabei nur sechs von 10 Daten bekannt sind), bleibt ebenfalls schleierhaft (S. 158).
Aus dieser Frage nach der Selektion ergibt sich die weiterführende Frage nach Konzeption und Anspruch des Werkes. Vielleicht liegt dem zugrunde, daß der Autor auf die Frage, für welche Leserschaft er das Buch geschrieben hat, selbst nicht so richtig Antwort zu geben wüßte. Im abschließenden Kapitel „Zur Methode: Komparatives Erzählen“ (27) wendet sich Nolte einerseits an eine augenscheinlich breite Leserschaft, denn nur indem „auf uns bekannte Verhältnisse Bezug genommen“ werde, könne „dem deutschen Leser das spezifisch Russische bekannt gemacht werden“ (S. 468). Andererseits wird wiederum Fachwissen als bekannt vorausgesetzt: Denn wenn schon Nolte selbst etwa die „Konzepte Alltag und Geschlechterrollen (…) im historischen Zusammenhang“ intern von „hannoverschen Kollegen“ kennengelernt hat (S. 468f.), kann man für den historischen Laien wohl kaum die Kenntnis voraussetzen, daß, „wie man weiß, diese (…) Konzepte aus der amerikanischen Geschichtsforschung“ stammen (ebd.). Auch dürfte es den an russischer Geschichte interessierten Leser wenig trösten, daß er Quellenangaben, wo diese fehlen, im oben genannten Erstlingswerk von 1991 nachschlagen könne (S. 527).
Methodisch behilft sich Nolte damit, indem er seine Schöpfung sowohl als Erzählung als auch den Vergleich beschreibt, der hier der Erhellung spezifischer russischer Entwicklungslinien vor dem Spiegel der Entwicklungen in Europa dient (S. 469f.). Dennoch ist die Auswahl dessen, was erzählerisch, und dessen, was sachlich dargestellt wird, nicht immer nachzuvollziehen. Ein einführendes Vorwort über Konzept, Aufbau und Anspruch des Buches wird hier auf schmerzliche Weise vermisst. Der Band ist eigentlich nur als Lesebuch und weniger als Nachschlagewerk zu gebrauchen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch zahlreiche redaktionelle Mängel im technischen Aufbau. Manchmal steht die Überschrift in keinerlei Bezug zum Inhalt der betreffenden Abschnitte, so daß eine Orientierung über das Inhaltsverzeichnis nicht immer gelingt (z.B. Kapitel 9: „Franzosen in Moskau, Russen in Paris“, in welchem in keinerlei Weise von Russen in Paris die Rede ist, oder 5.1: „Der Westen als feindliches Vorbild“, was außer der Tatsache, daß Iwan IV. 1558 in Livland eingefallen war, in keinerlei Zusammenhang zum Text steht. Daß unter dem Abschnitt 21.9: „Das Imperium schlägt zurück“ nicht die Sowjetunion, sondern die USA gemeint sind, ergibt sich erst nach der Lektüre des betreffenden Abschnitts). Auch das Register hilft in solchen Fällen nicht immer, da die Auswahl der aufgenommenen Begriffe eher dem Zufallsprinzip zu folgen scheint. Die Literaturnachweise sind theoretisch zwar vorhanden, aber etwas unpraktisch zu finden (nicht mit Fußnoten gekennzeichnet, sondern im Anhang als Gesamtes zu den jeweiligen Kapiteln aufgelistet). Auch ist die Rurikidendynastie nicht mit dem Tode Iwans IV. 1584 (S. 522/523), sondern erst mit dem Tode Fedors 1598 erloschen. Dieser letzte Punkt jedoch nur der historischen Genauigkeit halber.
Die Stärke des Werkes liegt eindeutig im Schreibstil. Einem so erfahrenen Wissenschaftler wie Nolte gelingt es hier, in der leicht lesbaren Schilderung der reduzierten Stoffmenge sprachlich zu überzeugen und so für sich einzunehmen. Der Stil ist klar und umstandslos und bringt die Informationen präzise und gut zu verstehen auf den Punkt. Besonders die zusammenfassenden Vergleiche Rußlands mit Europa lassen die strukturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede durch die großen historischen Epochen gut nachvollziehen. An einer Stelle scheut Nolte sich nicht, den Ich-Erzähler einzusetzen, um persönliche Erfahrungen aus der Zeit des II. Weltkriegs zu schildern (17.9). Auch in der Benennung der Verbrechen der Wehrmacht bezieht Nolte eindeutig Position (17.5; 17.6). Die zusammenfassende Beschreibung der gegenwärtigen russischen Gesellschaft ist aktuell, informativ und interessant geschrieben (25.6-25.8). Auch muß an dieser Stelle nochmals der ungeheure Aufwand der Stoffsammlung und die damit verbundene Leistung des Autors hervorgehoben werden.
Die konzeptionelle Schwäche des Werkes liegt in seiner Überbordung mit theoretischen Versatzstücken, welche die Nachvollziehbarkeit und den Überblick erschwert. Etwas ausführlichere Transparenz wäre hier wünschenswert gewesen, besonders durch ein einführendes Vorwort. Darin hätte auch eine historische Problemstellung und somit der Zweck des Buches stärker akzentuiert werden können. Diese Problematik scheint Nolte selbst nicht unbewußt zu sein - er verweist auf die Vielseitigkeit des Erzählens, denn: „Die Geschichte ist bunt und vielfältig - die Historie sollte es auch sein“ (S. 470). So mag man dieses Buch handhaben - als einen umfassenden Einblick in einen bunten Strauß russischer Geschichte(n).
1 Vorwort, in: Carl-Hans Hauptmeyer (Hrsg.), Die Welt querdenken. Festschrift für Hans-Heinrich Nolte zum 65. Geburtstag, Frankfurt am Main 2003, S. 9.
2 Dietrich Geyer, Großes Land im Kleinformat, in: SZ Nr. 36 vom 13.02.2004, S. 14. Vgl. Andreas Kappeler, Russische Geschichte (Beck’sche Reihe Wissen), München ²2000.
3 Hans-Heinrich Nolte, Russland, UdSSR. Geschichte, Politik, Wirtschaft, Hannover 1991.