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Title
Lebanese in Motion. Gender in the Making of Translocal Village


Author(s)
Peleikis, Anja
Extent
206 S.
Price
29,80 €
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Barbara Lüthi, Historisches Seminar, Universität Basel (Schweiz)

Die Schlagwörter „Globalisierung“ und „Transnationalität“ haben Konjunktur, die kulturwissenschaftliche Forschung auf diesem Gebiet ist seit den 1990er Jahren im Aufwind. Die Dissertation der Sozialanthropologin Anja Peleikis stellt einen gelungenen Versuch dar, sich den theoretisch-methodischen Herausforderungen auf dem Gebiet der „transnationalen“ respektive „translokalen“ Forschung zu stellen und aus reichhaltigem empirischem Material ein spannendes Narrativ zu entwickeln. Arbeiten zur „Transnationalität“ hinterfragen diejenigen Schlüsselkonzepte, die soziales Leben und Kultur in spezifischen Lokalitäten „erden“. Die zuvor als statisch und verwurzelt betrachteten Konzepte der Grenzen, Nationalstaaten, Territorien und damit verbundene Identitäten und Lebensweisen stellen gerade im Zeitalter der Globalisierung keine Selbstverständlichkeit mehr dar. In den Kulturwissenschaften erliegen sie gegenwärtig einer kritischen Umdeutung. 1 Forschungen über „Translokalität“ fokussieren auf „Prozesse kulturellen Austausches und Transfers“, ebenso wie sie sich auf die Situierung von Individuen und sozialen Akteuren in translokalen und transnationalen Netzwerken konzentrieren. Während diese Arbeiten einerseits das Lokale, Begrenzte und Strukturierte ins Zentrum rücken, betont Translokalität anderseits auch die Grenzüberschreitungen von Menschen, Gütern und Ideen und die daraus resultierenden Spannungen und Ergebnisse. 2

An derartige Ansätze knüpft Anja Peleikis an. Sie rückt in einem biographischen und akteurzentrierten Zugang die Vorstellungen, die materiellen und Symbolwelten der Bewohner und Bewohnerinnen des südlibanesisch shi’itisch geprägten Dorfes Zrariye und der daraus nach Abidjan/Côte d’Ivoire auswandernden Migrantinnen und Migranten als exemplarische Fallbeispiele ins Zentrum ihrer Untersuchung. In den ersten zwei Kapiteln skizziert sie das theoretisch-methodische Rüstzeug ihrer Untersuchung, das den Leser/innen eine hilfreiche begriffliche und theoretische Orientierung ermöglicht. Neben Orts- und Raumkonzepten, zeichnet die Sozialanthropologin ein differenziertes Bild von der Rolle von Migration und Gender in einem translokalen Kontext, die in einem Spannungsfeld von lokal und global einer anhaltenden Dynamik unterliegen.

Der soziale Raum – verstanden als „translocal village-in-the-making“ – ensteht aus den Narrativen und Praktiken der sozialen Akteure, die gerade auch mit Hilfe von neuen Kommunikationstechnologien Vorstellungen von Verwandtschaft, Nachbarschaft, Generationen- und Geschlechterbeziehungen in einem kontinuierlichen Prozess, aber auch immer jenseits von lokalen, regionalen und nationalen Grenzen neu definieren. Wesentlicher Ausgangspunkt dieser Prozesse sind und bleiben jedoch die „patrilineal kin groups“, die – so eine der Thesen – auch im globalen Kreislauf von Menschen, Waren und Ideen, bestimmend bleiben. Orts- und Raumvorstellungen kommen in der Arbeit ein wichtiger Platz zu. Und zwar nicht als stabiles oder begrenztes Territorium, sondern als ein durch die sozialen Beziehungen und Narrativen entstehender Ort, den Menschen immer wieder verhandeln: „People understand, narrate and engage ‚their places’ in different ways, depending on the specific time, place and historical situation as well as on their gender, age and class, and on their soical and economic environment.“ (S.17) Daraus resultieren Fragen beispielsweise nach der sich verändernden Wahrnehmung von Orten und Migration aus einer geschlechtlichen Perspektive.

Migrationsprozesse werden in der vorliegenden Arbeit nicht als monodirektionale Prozesse mit festem Ausgangspunkt und Endziel verstanden, sondern die sozialen Beziehungen der Migrantinnen und Migranten über Grenzen hinweg untersucht. Die Entwicklung der transnationalen sozialen Netzwerke jenseits eines Nationalstaates sind immer von den sozialen, politischen, legalen und ökonomischen Kontexten der jeweiligen Staaten geprägt. Die Sozialanthropologin untersucht in ihrer Arbeit zuvorderst die Produktion von „Translokalitäten“. Schliesslich führt die Einsicht, dass Migrationsprozesse unter anderem stark von geschlechtlichen Kriterien geprägt sind zur Frage, wie Geschlechterbeziehungen die Migrationserfahrungen von Migrierenden und den Daheimgebliebenen beeinflussen und von ihnen beeinflusst werden. (S. 23 und S. 121ff.) Zudem thematisiert Anja Peleikis die wandelnden Realitäten von Anthropologinnen und Anthropologen „im Feld“. Die Herausforderungen der „multi-sited field research“ entsteht im Zuge der sich immer wieder verändernden sozialen Standorte, wenn sich die Forschenden – entsprechend der Realität migrierender Communities – nicht auf einen Ort beschränken wollen und können (S. 25ff.).

Der Entscheid, sich exemplarisch auf ein Dorf im Südlibanon und eine Stadt an der Côte d’Ivoire zu beschränken, erwies sich für die Untersuchung als lohnenswert. Aus dieser Perspektive entsteht ein facettenreiches Bild der Lebenswelten der Menschen entlang spezifischer Themenfelder, die in den Kapiteln 3-5 entfaltet werden. Darin wird deutlich, wie die Bewohner ihr Dorf aus der Nähe und Ferne immer wieder neu verhandeln und „produzieren“ – und sich damit ihren Sinn für Zugehörigkeit und sozialer Nähe vergewissern können. Deutlich wird ebenso wie Agency, Emotionen und kognitive Leistungen einen wesentlichen Teil des translokalen Lebens ausmachen.

Mit zu den spannendesten Kapiteln des Buches gehört das über die Produktion von „Nostalgic Places of Memory“ und „Traumatic Places of Memory“ (S. 47ff. und S. 53ff.). Einerseits wird durch die „nostalgischen“ Erinnerungen – geweckt durch Fotos, Lieder, Bücher und Internetauftritte – das eigene Dorf zu einem lieux de mémoire (Pierre Nora), zum Zeichen für die Sehnsucht nach einer heilen Vergangenheit. Anderseits müssen derartige Diskurse im Kontext der komplexen politischen, ökonomischen und sozialen Interessen und Machtkämpfe des Landes verstanden werden. Ebenso helfen solche positiv gefärbte Erinnerungen über die gewaltsamen Einwirkungen und Wirren der Kriege im Libanon hinweg. Gleichzeitig gilt aber, dass der Krieg ein eigenes „lexicon and iconography of places“ (Samir Khalaf) produziert hat. Während die Bewohner von Zrariye zwar selten über die „traumatic places of memory“ sprechen, finden sie in jährlichen Ritualen oder in den auch für Migranten zugänglichen Videos zu den kriegerischen Gewalttaten am libanesischen Volk Ausdruck. Den Hinweisen der Geographin Doreen Massey zufolge wird hier deutlich, dass Orte weniger als begrenzte geografische Gebiete denn vielmehr als „articulated moments in networks of social relations and understandings“ verstanden werden sollten. (S. 58)

Einen breiten Raum nimmt im Buch die Frage nach den symbolischen und alltagspraktischen Veränderungen in den geschlechtlichen Beziehungen innerhalb des „global villages“ und im Prozess der Migration ein. Vor allem Kapitel 5 untersucht, inwiefern translokale Migrationen „gendered“ sind und wie Geschlechterkonstruktionen in diesem Prozess Veränderungen unterliegen. Während für Männer Migration oftmals ein Entkommen aus den ökonomischen und kriegerischen Krisen wie auch aus der sozialen Kontrolle des Dorflebens darstellt (und in sexueller Hinsicht eine rite de passage), folgt für migrierende Frauen nicht automatisch mehr Freiheit. Gerade auch alleinreisende Frauen erleben in der Fremde den anhaltenden Einfluss der kontrollierenden patrchiarchalisch-verwandtschaftlichen Normen und Praktiken.

Nichtsdestotrotz berührt der Faktor Migration das alltägliche Leben, wie die Bedeutung von Ehen, Normen und Lebensstilen, ebenso wie die Rollen und Identitäten von Frauen und Männern dadurch einem stetigen Wandel unterliegen. Trotz unterschiedlicher konfessioneller, politischer und anderer Ausrichtungen (womit die Forscherin der Diversität der Frauen Rechnung trägt), verbindet die Frauen auch Gemeinsamkeiten in der Auseinandersetzung mit Normen und Erwartungen im „translocal village“. Dies betrifft vor allem Fragen von Bildung, Beruf oder Familien. Aber nur vereinzelt gelingt Frauen der Austritt aus dem verwandtschaftlich geprägten lokalen beziehungsweise translokalen Kreislauf in ein unabhängigeres, „kosmopolitischeres“ Leben.

Zuweilen hätte man sich eine leserfreundlichere Schriftgrösse gewünscht, und einzelne Aspekte erscheinen gerade mit Blick auf die Migrationsprozesse unterbeleuchtet (wie etwa Einblicke in die konkreten und meist klassen- und geschlechtskonnotierten Überschreitungen nationaler Grenzen). Allgemein liefert die Untersuchung jedoch nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Frage nach Kontinuitäten und Wandlungen von Geschlechterkonstruktionen im Zuge von Migrationsprozessen. Ebenso bildhaft zeigt sie auf, wie Identitäten und Vorstellungen immer wieder neu verhandelt werden, wie Klasse, Geschlecht, Generationen und Konfession ineinander spielen – und vor allem wie Mobilität, Krieg und neue Kommunikationstechnologien die emotionalen und kognitiven Welten wie auch die materiellen Bedingungen der Daheimgebliebenen und der Migrierenden permanent herausfordern und verändern.

Anmerkungen
1 Z.B. Basch, Linda; Glick-Schiller, Nina; Blanc-Szanton, Cristina, From Immigrant to Transmigrant: Theorizing Transnational Migration, in: Anthropological Quarterly 68 (1995) 1, S. 48-63. Portes, Alejandro; Guarnizo, Luis E.; Landolt, Patricia, The Study of Transnationalism: Pitfalls and Promise of an Emergent Research Field, in: Ethnic and Racial Studies 22 (1999) 2, S. 217-237. Smith, Michael Peter; Guarnizo, Luis E. (Hgg.), Transnationalism from Below, New Brunswick 1998.
2 Hierzu Freitag, Ulrike, Translokalität als ein Zugang zur Geschichte globaler Verflechtungen, geschichte.transnational, 10.6.2005; geschichte-transnational.clio-online.net/forum/2005-06-001.

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30.09.2005
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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