B. Struck: Frankreich und Polen in der Wahrnehmung deutscher Reisender

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Title
Nicht West - nicht Ost. Frankreich und Polen in der Wahrnehmung deutscher Reisender zwischen 1750 und 1850


Author(s)
Struck, Bernhard
Published
Göttingen 2006: Wallstein Verlag
Extent
520 S.
Price
EUR 64,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Sarah Lemmen, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig

Reiseberichte sind im Kommen. Seit einigen Jahren zeichnet sich in der Geschichtswissenschaft der Trend ab, das Reisen und die daran gebundenen Fremd- und Selbstwahrnehmungen als Teil kultureller Praxis zu untersuchen. Das Genre der Reiseberichte lässt dabei anhand der „unfreiwillige(n) kulturelle(n) Selbstdarstellung“ (Michael Harbsmeier) weniger das bereiste Land als den Reisenden selbst sowie sein soziales und kulturelles Umfeld in das Blickfeld rücken. Diesen Ansatz macht sich auch Bernhard Struck in seiner Studie zu eigen. Hervorgegangen aus seiner im Jahr 2003 erfolgreich verteidigten und mit dem Tiburtius-Preis der Berliner Hochschulen ausgezeichneten Dissertation an der Technischen Universität Berlin und der Universität Paris I Panthéon-Sorbonne, untersucht Bernhard Struck in dieser Studie Berichte deutscher Reisender über Frankreich und Polen in vergleichender Perspektive über einen Zeitraum von hundert Jahren von etwa 1750 bis 1850. Im Zentrum stehen Fragen nach dem Wandel der Wahrnehmung der beiden Nachbarländer im Prozess der „Nationalisierung“ der Gesellschaften. Politische, ökonomische, kulturelle oder nationale Kategorisierungen des Beobachteten werden hier untersucht und damit Rückschlüsse auf das Eigene ermöglicht.

Wieso Polen und Frankreich? Was macht gerade den Vergleich der Wahrnehmung dieser zwei Länder so fruchtbar? Struck betont sowohl die Parallelen als auch die Unterschiede der beiden Länder aus deutscher Perspektive, die den Vergleich sinnvoll erscheinen lassen. Auf der einen Seite sind beides deutsche Nachbarländer und damit für die Reisenden relativ leicht erreichbar. Gleichzeitig können im Untersuchungsraum sowohl Frankreich als auch Polen mit ihren Reformen und Revolutionen als Anregungen für bürgerlich geprägte Staatsmodelle gelten, denen gegenüber die deutschen Reisenden aufgeschlossen waren. (S. 21) Auf der anderen Seite galt Frankreich schon seit der adeligen Grand Tour als Bestandteil des Reisekanons, was auch von den bürgerlichen Reisenden übernommen wurde, Polen wurde dagegen von deutscher Seite nicht als Reiseland wahrgenommen. (S. 20)

Die Arbeit ist in drei Abschnitte aufgeteilt. Im ersten Teil, der sich mit dem „Reisen – Akteure und Praxis“ beschäftigt, werden die Autoren der Reiseberichte sozialhistorisch verortet und eine Untersuchung zu Reiseberichtskonjunkturen vorgenommen. Unter den Reisenden, zu einem Großteil Bürgerliche zwischen 30-40 Jahren, können regionale Unterschiede festgemacht werden: Während die Frankreich-Reisenden aus dem gesamten deutschsprachigen Gebiet kamen, zeigt sich für Reisende nach Polen ein klarer biographischer Schwerpunkt im Osten: Polen war für die Reisenden oft eher Durchfahrtsland denn eigentliches Ziel der Reise. Wenn auch die Anzahl der Reiseberichte nach Frankreich die nach Polen bei weitem übersteigt, kann doch eine ähnliche Konjunktur festgestellt werden. Dabei ist auch eine Form von „Revolutionstourismus“ (S. 90) erkennbar, der durch die zeitnahe Veröffentlichung der Berichte auch der aktuellen Berichterstattung diente.
Im Kapitel über die Infrastruktur der Reiseländer beschreibt Struck, wie Vorurteile der Reisenden sowohl gegenüber Polen als auch gegenüber Frankreich während der Reisen revidiert wurden. So kommt er zu dem Schluss, dass der angeblich schlechte Straßenbau in Polen mit dem Straßenbau in Frankreich, dem vermeintlich besten in Europa, durchaus Schritt halten konnte, vor allem abseits der großen Städte. Im Vergleich wurde die Situation in Deutschland dagegen von beiden Reisegruppen beklagt, was nicht nur auf den Zustand der Straßen, sondern auch auf die Höhe der Straßenzölle und auf die Sicherheit bezogen wurde. (S. 133ff.) Ebensolche Parallelen sind in der Beschreibung von Armut, Hygiene und generellem Lebensstandard, der Qualität der Gasthäuser (S. 139f.) oder in den Verständigungsmöglichkeiten (S. 149ff.) zu finden.

Der zweite Teil beleuchtet die „Räume des Reisens“. Räume werden hier als mentale Konstrukte interpretiert. In den Reiseberichten kann verfolgt werden, wie Polen von einem „nördlichen“ zu einem „östlichen“, Frankreich dagegen von einem „südlichen“ zu einem „westlichen“ Land umkodiert wurde.
Die Überlegungen zum Wandel der Wahrnehmung der Grenzen gehören zu einem der stärksten Kapitel (Kap. II.2). So wird anhand der französischen Grenze der Perspektivenwechsel deutlich, der den Untersuchungszeitraum ausmacht. Während noch im 18. Jahrhundert die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich, die immer auch eine Staatsgrenze war, von den Reisenden in erster Linie als kultureller Grenzraum verstanden wurde, in dem sich langsam Sprache, Kleidungsstil, Bauweise und auch die Natur veränderten, wurde in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Grenze zu einer klaren Linie, hinter der das Leben als anders wahrgenommen wurde. Erst in den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts wurde die „nationale Grenze erfunden“. (S. 227) An der deutsch-polnischen Grenze zeigt sich eine andere Entwicklung der Wahrnehmung. Nicht nur werden hier – aus der Perspektive der deutschen Reisenden – „bekanntes“ vs. „unbekanntes“, „beliebtes“ vs. „unbeliebtes“ oder „modernes“ vs. „rückständiges“ Land verglichen. Sehr aufschlussreich sind auch die Überlegungen zu der Kategorie „existierender“ vs. „nicht-existenter“ Staat, wie es sich nach der dritten Teilung Polens endgültig ergab. Um 1800 wurden von den Reisenden vor allem graduell sichtbar werdende regionale, konfessionelle oder kulturelle Unterschiede hervorgehoben. Erst mit dem polnischen Aufstand von 1830 kamen nationale Kategorien zum Tragen. Die Beschreibungen der „Grenzerfahrungen“ machen deutlich, dass auch nach den polnischen Teilungen, bei denen ein Teil der ehemaligen Republik an Preußen fiel und so die Fahrt „durch Polen“ staatsrechtlich gesehen eine Fahrt im Inland war, die Reisenden über 30 Jahre brauchten, um diesen Schritt zu reflektieren. (S. 212-229)

Im dritten Teil schließlich tritt die immer wieder angedeutete „Selbstdarstellung“ der Reisenden in den Mittelpunkt. An die Stelle von Natur- und Landschaftsbeobachtungen trat seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verstärkt die Beschreibung sozialer und politischer Verhältnisse, die im sich in den Reiseberichten niederschlagenden Revolutionstourismus nach Frankreich und Polen ihren Höhepunkt fanden. Die Ideale nationaler Unabhängigkeit und Freiheit wurden von der deutschen reisenden Elite geteilt, was auch in den Interpretationen der Ereignisse in Polen und Frankreich um 1930 deutlich wurde: während der polnische Novemberaufstand ein breites Echo und deutliche Sympathien hervorrief, zeigte sich die französische Julirevolution, die als solche gar nicht ausgemacht wurde, als wesentlich weniger faszinierend für die deutschen Besucher.

Eine Selbstverortung der Reisenden kann nicht nur aus deren Wahl und Behandlung politischer oder gesellschaftlicher Prozesse gelesen werden. Ebenso zeigen Stereotypen wie der des faulen Polen oder des oberflächlichen, arroganten Franzosen sowie die für beide Nationen gleichzeitig verteilten Charakteristiken als das schmutzige, abergläubische, verschwenderische leichtsinnige Andere das Selbstbild des ordentlichen, fleißigen, aufgeklärten und vernünftigen Deutschen auf. (S. 429)

Die Ähnlichkeiten in den Beschreibungen Frankreichs und Polens ziehen sich durch alle behandelten Aspekte. Die anfangs aufgemachten strukturellen Unterschiede als Reiseländer werden in den Wahrnehmungen der Reisenden über weite Strecken hinfällig. Erst in den 1830er Jahren entwickeln sich gravierende Unterschiede zwischen der Beschreibung Polens und Frankreichs, die vor allem für Polen negativ ausfallen und die Form kolonialer Unterdrückungsdiskurse annehmen.(S. 425-427)

Gerade die Aufdeckung – und explizite Betonung – dieser Ähnlichkeiten macht die Studie so anregend, weist sie doch nicht nur auf gängige Vorurteile der Reisenden selbst, sondern auch auf heutige Vorstellungen vom „Westen“ und „Osten“ Europas hin und widerlegt sie gewissermaßen durch die korrigierende Berichterstattung der Reisenden. Damit revidiert Struck auch nebenbei das in der Historiographie immer wieder gezeichnete Bild eines modernen, fortschrittlichen Westeuropa gegenüber einem rückschrittlichen Osteuropa. In der Wahrnehmung der deutschen Reisenden, so Struck, lag Osteuropa nicht nur zwischen Grodno und Białystok. Es lag ebenso in den ländlichen Regionen zwischen Lyon und Montpellier. (S. 439)

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25.05.2008
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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