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Title
Geschichte der Krim. Iphigenie und Putin auf Tauris


Author(s)
Jobst, Kerstin S.
Published
Extent
IX, 462 S.
Price
€ 39,95
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Tobias Wals, Zentrum für Holocaust-Studien, Institut für Zeitgeschichte München – Berlin

Als Russland 2014 zum ersten Mal die Ukraine angriff und die Krim annektierte, rechtfertigte Moskau diesen Verstoß gegen die ukrainische Souveränität vor allen Dingen mit dem Verweis auf die Vergangenheit. Die Krim, hieß es in der russischen Propaganda, sei eine „urrussische“ Halbinsel, die durch eine bedauerliche Laune der Geschichte der Ukraine zugefallen sei. Zwar bemühte sich der Kreml, der Annektierung mit einer Scheinvolksabstimmung eine völkerrechtliche Bemäntelung zu verleihen, doch die Kernbotschaft war klar: Zum Teufel mit internationalen Abkommen, die Geschichte erlaube Großmächten zu tun, was sie wollen. Dies offenbart ein gefährliches Framing, das die europäische Rechtsordnung untergräbt, für das aber manche Beobachter:innen, auch im deutschsprachigen Raum, bereit waren Verständnis aufzubringen.

Zur Zeit der Annektierung war die deutsche Historikerin Kerstin S. Jobst, Professorin am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien, schon Jahre dabei, Material für eine Geschichte der Halbinsel zu sammeln. Statt ihre Arbeit baldmöglichst auf der Welle der Medienaufmerksamkeit zu veröffentlichen, hat sie sich die Zeit genommen, um eine umfassende Studie zu schreiben, in der sie Jahrtausende Geschichte einsichtig mit den jüngsten Verwickelungen verknüpft. Die „Geschichte der Krim: Iphigenie und Putin auf Tauris“ (2020) ist ein besonnenes Buch, wenn auch nicht immer ausgewogen in der Fokussierung.

Jobsts stärkster Griff ist es, mit einem Überblick der Mythen zu beginnen, die die Krim seit Menschengedenken umgeben. Die Halbinsel sei ein „Mythenraum erster Güte“ (S. 15, S. 21) – vielleicht, so suggeriert Jobst, weil sie sich im Laufe der Geschichte immer wieder am Rande von Reichen und Kulturräumen befand, und sich somit schlechthin für Projektierungen eignete. Es passieren die alten Griechen, die Polen, die Ungarn und die Nationalsozialisten, doch am längsten verweilt Jobst bei den russischen Ansprüchen auf die Krim, die auf zwei Hauptmythen basieren: den vermeintlichen Wurzeln der russischen Orthodoxie auf der Halbinsel und der literarischen Tradition, angefangen bei Alexander Puschkin.

Mit diesem Überblick legt Jobst geschickt die Bedingtheit historischer Narrative offen und somit (implizit) die Sinnleere von Ansprüchen, die sich daraus ergeben. Es ist nur eine Unterlassung, dass sie die Mythen der Ukrainer:innen praktisch und diejenigen der Krimtatar:innen völlig außer Acht lässt. So kann es erscheinen, als wären diese letzten Endes doch irgendwie weniger mit der Krim verbunden als die Russ:innen. Hier wären zusätzliche Erläuterungen wünschenswert gewesen.

Im Folgenden führt Jobst die Leser:innen in kurzen, effektiven Kapiteln chronologisch durch die Geschichte der Krim. Das zusammengebrachte Material zu all diesen Zeitaltern, Völkerschaften und Staaten beeindruckt. Es passieren unter anderem die Skythen und Griechen, die Sarmaten und Römer, die Goten und Hunnen, die Mongolen und Genuesen, die Tataren und Kosaken, schließlich die Russen und die Bolschewiki. Hier ergibt sich das zweite bestimmende Merkmal der Krim-Geschichte, neben ihrem mythischen Gehalt: ihre Rolle als „polyethnische[r] Transit- und Siedlungsraum“ (S. 39).

Jobst erklärt den ständigen Wandel durch die geografische Lage: Die felsige Halbinsel mit angenehmem Klima, erreichbar über See sowie über die offene Steppe, zog immer neue Gruppen an, sowohl sesshafte als auch nomadische. Allerdings war die Geschichte nicht nur von Auseinandersetzungen geprägt, sondern ebenfalls von friedsamer Koexistenz und Austausch, sogar von „mixed civilizations“ (S. 39, nach einem Konzept des russisch-amerikanischen Altertumsforschers Michail I. Rostovcev). Hier trennen sich Tatsachen und Vorstellungen, betont Jobst, denn Mythen drehen sich meistens eben um scharfe Grenzen zwischen „uns“ und „den anderen“, zwischen „Zivilisierten“ und „Barbaren“.

Daneben befasst sich Jobst auch mit falschen Vorstellungen und Mythen in der westlichen Geschichtswissenschaft. So hinterfragt sie im Kapitel zur Herrschaft der Goldenen Horde und den genuesischen Städten auf der Südküste traditionelle Ideen über die vermeintliche Modernität der maritimen Italiener gegenüber dem mongolischen Kontinentalimperium. In der vermeintlich „rückständigen“ Horde, zeigt Jobst, wurden Besteuerung und Konskription sowie das Straßen- und Postwesen eingeführt, die durchaus als modern bezeichnet werden können.

Die Kapitel verdichten sich, als jene Spieler auf der Bühne erscheinen, die heute immer noch auf der Krim anwesend sind. Zunächst die Krimtatar:innen, die um 1300 auftauchten und unabhängig von der Goldenen Horde ein Khanat gründeten, das schließlich unter osmanischen Einfluss kam. 1783 annektierte das Russländische Reich, mittlerweile zu einer europäischen Großmacht herangewachsen, die Krim – ein Schritt, der, so betont Jobst, vor allem militär-strategisch motiviert war. Wirtschaftlich machten sich die Zar:innen wenig Mühe, die Halbinsel zu entwickeln, obwohl bald ein blühender Tourismus entstand – ein Entwicklungsmuster, das sich trotz der Schrecken des 20. Jahrhunderts unter Sowjetherrschaft fortsetzen sollte.

Die andere Konstante dieses Zeitalters ist eine weitere Bevölkerungsverschiebung. Der Zufluss von Ukrainer:innen und Russ:innen ging zu Lasten anderer Gruppen, wie der Griech:innen und vor allem der Krimtatar:innen, die im späteren Zarenreich nur noch 30 Prozent der Bevölkerung stellten. In der Sowjetunion folgte ein kurzer kultureller Aufschwung dieser Minderheiten, dank der sogenannten Einwurzelungspolitik der 1920er-Jahre. Dann folgte aber eine katastrophale Wende, als die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg die jüdische Bevölkerung vernichteten und das Sowjetregime sodann die Krimtatar:innen wegen vermeintlicher Massenkollaboration deportierten.

Der Krieg war unmittelbar auch ein Grund für die Übertragung der Krim an die Ukrainische Sowjetrepublik im Jahr 1954. Um die Halbinsel wirtschaftlich wiederaufzubauen, war die Anbindung an das ukrainische Festland eine praktische Entscheidung. Gleichwohl schreibt Jobst die formelle Begründung – eine Geste, um die Freundschaft der Ukrainer:innen und Russ:innen zu feiern – nicht völlig ab.

In den letzten zwei Kapiteln behandelt Jobst die Krim in der unabhängigen Republik Ukraine und die Annektierung durch die Russische Föderation. Hier geht es um die Rückkehr der Krimtatar:innen in ihre Heimat und die Spannungen, die in ökonomisch schweren Zeiten entstanden; vor allem aber um den Unmut unter der russophonen Bevölkerung, als sich die Ukraine nach der Orangenen Revolution 2004 und dem Euromajdan 2013/14 von Russland zu lösen versuchte. Jobst weist zurecht darauf hin, dass eine „diffuse russisch-sowjetische Einstellung, der mit über 68 Prozent russischstämmiger Menschen höchste Anteil innerhalb der Ukraine sowie die unbefriedigende sozial-ökonomische Lage, die der ukrainische Staat nicht zu lösen vermochte, gerade auf der Krim dazu geführt [hatten], dass viele ihre Hoffnungen auf Moskau richteten“ (S. 314f.).

Gleichzeitig wirft Jobsts Analyse Fragen auf. Bemerkenswerterweise lässt sie außer Acht, dass diese Stimmungen maßgeblich von der russischen Propaganda gespeist wurden, und zwar bereits seit den 1990er-Jahren. Ein anderes Problem ist wiederum die Fokussierung. Jobst geht ausführlich auf die russische Begründung für die Krim-Annektierung ein, die sie unmissverständlich verurteilt. Aber sie widmet der ukrainischen Perspektive kaum Aufmerksamkeit, wodurch das Trauma des Verlustes für den jungen Staat verkannt wird.

Doch in der ukrainischen Wahrnehmung ist die Krim seit der Annektierung nur präsenter geworden: Ein „Ministerium für die Wiedereingliederung der vorübergehend besetzten Gebiete“, das infolge der Krim-Annexion geschaffen wurde, bereitet die Gesetzgebung für eine künftige Wiedereingliederung der Krim vor. Narrative über die ukrainische Geschichte der Krim erfahren, zum Beispiel über Kontakte zwischen den Kosaken und den Krimtatar:innen, verstärkte Verbreitung – etwa die „Krim-Operation“ der Ukrainischen Volksrepublik, die mit deutscher Unterstützung 1918 gegen die Bolschewiki um die Krim kämpfte. Und auch der kulturelle Einfluss krimtatarischer Exilant:innen in der ukrainischen Gesellschaft (siehe Eurovision 2016) ist anhaltend.

Das ist ein wesentlicher Kritikpunkt an einem sonst durchaus vollständigen Überblick der Krim-Geschichte. Jobst hat eine imposante Menge Materie zusammengebracht und liefert mit ihrer ausführlichen Untersuchung der Grenzen zwischen Vorstellungen und Tatsachen einen verdienstvollen Beitrag zur Geschichtsschreibung der Krim. Sie hat ein zugängliches Buch geschrieben, das auch ohne Vorkenntnisse gelesen werden kann, dafür aber nicht an wissenschaftlicher Gründlichkeit einbüßt.

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29.03.2022
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