In den vergangenen Jahrzehnten ist das Völkerrecht Gegenstand zahlreicher innovativer und interdisziplinärer Veröffentlichungen geworden. Wissenschaftlerinnen wie Kerstin von Lingen 1 und Annette Weinke 2 analysierten in ihren Studien die Entwicklung des humanitären Völkerrechts und bereicherten die Diskussion mit neuen Perspektiven u.a. auf den Beitrag osteuropäischer Juristen bei der Entstehung neuer Rechtsnormen. Die Arbeit von Arno Trültzsch nimmt diesen Faden auf und beleuchtet ein bisher wenig erforschtes Kapitel globaler und sozialistischer Rechtsgeschichte, nämlich den Einfluss Jugoslawiens auf die Entwicklung des Völkerrechts nach 1948. Trültzsch untersucht, wie ein vom Zweiten Weltkrieg und innerjugoslawischem Bürgerkrieg geschwächtes und instabiles Land zu einem „der tragenden Staaten der sogenannten Blockfreien“ (S. 13) aufsteigen konnte, das im Laufe des Kalten Krieges zur völkerrechtlichen Lösung globaler Probleme beitrug. Dabei lässt er sich nicht von der strahlenden Figur Josip Broz Titos blenden, sondern schaut auf die zahlreichen „hidden figures“, Expertinnen und Experten, Diplomatinnen und Diplomaten, Juristinnen und Juristen, die als Vertreter Jugoslawiens in ihren Schriften und in ihrem diplomatischen Wirken die Idee einer jugoslawischen sozialistischen Menschenrechtsdoktrin entwickelten und vertraten.
In fünf Kapiteln, je eines für die Einleitung und das Fazit und drei für seine thematischen Blöcke, zeichnet Trültzsch am jugoslawischen Beispiel nach, wie stark der politische Kontext, die Akteure sowie die Machtstrukturen die Völkerrechtsordnung der Nachkriegszeit prägten und gleichzeitig zu einer Zivilisierung von globalen Beziehungen beitrugen. Zur besonderen Tragik der jugoslawischen Geschichte gehört auch die Erkenntnis, dass vom Primat einer friedlichen Lösung von Konflikten nichts blieb, als innenpolitische Probleme zum Zerfall des Landes führten. Doch das ist eine andere Geschichte. Trültzsch geht es zunächst um die theoretischen Grundlagen des „sogenannten sozialistischen Völkerrechts“ (S. 17) mit seinem Leitprinzip des „sozialistischen Internationalismus“ (S. 79). Hier schaut er auf die Sowjetunion und betont die Verflechtungen mit ideologisch-politischen Vorgaben. Trültschs Fazit ist eindeutig: „Völkerrechtliche Lehrmeinungen und Theorien entstanden seit der stalinistischen Disziplinierung des Wissenschaftsbetriebs nicht mehr im Wechselverhältnis mit der internationalen Politik, welche die Normengenese und -anwendung beeinflusste und formte, sondern aus den Vorgaben und Interessenlagen der Sowjetregierung und ihrem außenpolitischen Programm heraus.“ (S. 77) Während das Konzept des „sozialistischen Internationalismus“ der Sowjetunion half, die als unverletzlich erachteten Prinzipien der Nichteinmischung und der staatlichen Souveränität unter dem Deckmantel der „gegenseitiger Hilfe“ auszuhebeln, setzte sich in Jugoslawien ein anderes Verständnis vom sozialistischen Völkerrecht durch, eines, das das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die friedliche Koexistenz in den Mittelpunkt stellte. Nach Trültsch war das der traumatischen Erfahrung von 1948 geschuldet, als Jugoslawien nach dem Ausschluss aus der Komintern um seine staatliche Unabhängigkeit bangen musste. Das Völkerrecht verstanden die jugoslawischen Machthaber als eine Möglichkeit, der Machtkonzentration der beiden Blöcke entgegenzuwirken bei gleichzeitiger Erweiterung eigener Machtoptionen. Im dritten Kapitel „Wandel und Kontinuität: Blockfreiheit im Lichte der jugoslawischen Völkerrechtsdoktrin“ zeichnet Trültzsch diesen Weg detailliert nach. Kenntnisreich beschreibt er das Wirken jugoslawischer Diplomatinnen und Diplomaten und den Beitrag Titos an der Entstehung der „dritten Option“ zwischen den Blöcken als eine Mischung zwischen Netzwerk- und Reisediplomatie in der postkolonialen Welt. Neben stabilen Partnern wie Indien und Ägypten konnte Jugoslawien insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent viele Unterstützer für die Idee einer nichtblockgebundenen Zusammenarbeit gewinnen. Das überrascht nicht, stellten jugoslawischen Experten, allen voran Edvard Kardelj, die Blockkonfrontation als eine Fortsetzung imperialistischer Tendenzen dar und plädierten für eine Neuordnung internationaler Beziehungen nach Prinzipien des Antikolonialismus sowie der globalen sozialen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit. Die von Milan Šahović umrissenen sieben Prinzipen der friedlichen Koexistenz, auf die Trültzsch detailliert eingeht, zeugen von Misstrauen, den Jugoslawien (zurecht?) den Großmächten gegenüber hegte: „1) Das Verbot der Gewaltanwendung oder -androhung, 2) friedliche Streitbeilegung, 3) die souveräne Gleichheit aller Staaten, 4) die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, 5) die Pflicht der Staaten zur Zusammenarbeit im Einklang mit der UN-Charta, 6) das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker sowie 7) die gewissenhafte Erfüllung von Pflichten, die aus der Charta hervorgehen.“ (S. 184) Als zentralen Ort der Weiterentwicklung und Kodifizierung des Völkerrechts betrachteten jugoslawische Experten die Vereinten Nationen. Das vierte Kapitel „Jugoslawien in den Vereinten Nationen: Verrechtlichung als Staatsziel der Außenpolitik bildet daher den zentralen Teil der Untersuchung von Trültzsch. In detaillierter Quellenanalyse weist er nach, wie die jugoslawischen Vertreter (meistens Männer) die außenpolitischen Interessen ihres Landes über die Vereinten Nationen auf die internationale Agenda setzten und politische Lösungen völkerrechtlich absicherten. Konkret z.B. war jugoslawisches Engagement richtungsweisend für eine umfassende Kodifikation des Diplomatenschutzrechts und führte zu einer Reihe partieller Waffenverbote (S. 293).
Trültzsch zeigt beeindruckend, wie Jugoslawien das Forum nutzte, das die Vereinten Nationen anboten, um global seinen Einfluss auszuweiten. Dabei distanziert sich Trültzsch von einer Bewertung, die sich nach Erfolg von Initiativen im Sinne ihrer Kodifizierung richtet. Vielmehr zeigt er nachvollziehbar, welchen Einfluss Jugoslawien und die Bewegung der Blockfreien auf die Debatten um die eurozentristische Perspektive des Völkerrechts hatten.
Trültzsch hat eine spannende Studie vorgelegt, bei der es mitnichten nur um den Beitrag Jugoslawiens zum Völkerrecht geht. Mit seinem Interesse an machtpolitischen Fragen wie an der Verschiebung geopolitischer Macht in der postkolonialen Zeit rückt er Räume des Einflusses in den Mittelpunkt, die sich in einer binären Ordnung des Kalten Krieges für Akteure öffneten, die sich zwischen den Blöcken befanden. Das war längst überfällig. Interessant wäre, mehr über die einzelnen Akteurinnen und Akteure sowie ihre internationalen Verflechtungen zu erfahren. Es ist daher zu hoffen, dass Trültzschs Studie eine breite Leserschaft findet und hoffentlich zu weiterer Forschung anregt.
Anmerkungen:
1 Kerstin von Lingen, “Crimes against Humanity”. Eine Ideengeschichte der Zivilisierung von Kriegsgewalt 1864–1945, Paderborn u.a. 2018.
2 Annette Weinke, Gewalt, Geschichte, Gerechtigkeit. Transnationale Debatten über deutsche Staatsverbrechen im 20. Jahrhundert, Göttingen 2016.