D. Stinsky: International Cooperation in Cold War Europe

Cover
Titel
International Cooperation in Cold War Europe. The United Nations Economic Commission for Europe, 1947-64


Autor(en)
Stinsky, Daniel
Reihe
Histories of Internationalism
Erschienen
London 2021: Bloomsbury
Anzahl Seiten
360 S.
Preis
£81.00
Rezensiert für Connections. A Journal for Historians and Area Specialists von
Wolfram Kaiser, School of Area Studies, Politics, History, and Literary Studies, University of Portsmouth

Nur wenige Historiker der internationalen Beziehungen oder Europas in der Nachkriegszeit dürften überhaupt von der United Nations Economic Commission for Europe (UNECE) gehört haben. Daher könnte man fragen, ob es sich lohnt, ein Buch über sie zu schreiben. Mit seiner Monografie, die auf einer an der Universität Maastricht entstandenen Doktorarbeit beruht, beantwortet Daniel Stinsky diese Frage überzeugend mit „ja“. Der Autor hat Quellen der UNECE in Genf, Material aus Archiven in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Deutschland sowie den Nachlass Gunnar Myrdals in Stockholm gesichtet, der die UN-Wirtschaftskommission von 1947 bis 1957 leitete. Das Buch behandelt vornehmlich die Gründung der UNECE und ihre formativen Jahre bis 1953 – mit anderen Worten, die Geschichte einer paneuropäischen Organisation mit der Sowjetunion und den USA als Mitgliedern auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges.

Nach einer ausführlichen Einordnung in die Forschungsfelder internationalen Geschichte und Geschichte internationaler Organisationen in der Einleitung behandelt das erste Hauptkapitel die Gründung der UNECE, bei der drei internationale ad hoc-Organisationen für Teilaspekte des wirtschaftlichen Wiederaufbaus integriert wurden. Kaum war die Organisation gegründet und der Sozialdemokrat Myrdal als Leiter berufen, der von 1945 bis 1947 Handelsminister Schwedens gewesen war, wurde die UNECE auch schon von dem immer heißeren Kalten Krieg in ihrer eigentlichen Aufgabe beeinträchtigt, eine gesamteuropäische Perspektive für den Wiederaufbau zu entwickeln. Die Amerikaner präferierten mit der Gründung der Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC, heutige OECD) 1948 die Integration Westeuropas in ihr System des „embedded liberalism“. Einige westeuropäische Länder verlagerten zudem ihre Kooperation im Kohle- und Stahlsektor in die 1952-53 gegründete Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl.

Während die Geschichte der Gründung europäischer internationaler Nachkriegs-Organisationen gut erforscht ist, gewährt Stinsky in Kapitel 3 seines Buches interessante Einblicke in die europäische Diplomatie zwischen 1947 und 1952, ihre Auswirkungen auf die UNECE und die Versuche des Sekretariats unter Myrdals Leitung, unter zunehmend erschwerten Bedingungen weiterhin als eine „Brücke“ zwischen Westen und Osten im Kalten Krieg zu fungieren. Deutlich arbeitet der Autor hier beispielsweise die geradezu feindselige Haltung des britischen Außenministeriums gegenüber Myrdal heraus – und dies trotz der Tatsache, dass die Labour Party ideologisch Myrdals sozialistischen Planungsvorstellungen verbunden war. Laut Foreign Office war es eine Hauptaufgabe der britischen Delegation in Genf, die Aktivitäten des UNECE-Sekretariats unter Kontrolle zu halten (S. 94) – zumal Myrdal sich wenig um formale Zuständigkeiten und Regeln scherte und gerne selbst diplomatische Initiativen ergriff.

In Kapitel 4 geht es sodann um die Rolle der UNECE in der paneuropäischen Wirtschaftskooperation. Aufbauend auf bisherigen Forschungen und Erinnerungen von Mitarbeitern der Organisation skizziert Stinsky die Arbeit des Sekretariats und der technischen Ausschüsse der UNECE in Fragen der grenzüberschreitenden Normierung und Standardisierung, die auf Vorarbeiten anderer technokratischer Organisationen seit dem 19. Jahrhundert aufbauen konnten, wie zum Beispiel im Transportwesen, wo etwa Fragen des Austausches und der wechselseitigen Nutzung von Wagons geregelt werden mussten. Außerdem behandelt dieses Kapitel ausführlich die Versuche Myrdals nach dem Tod Stalins 1953, Handelskontakte zwischen Ost und West neu zu knüpfen. Die UNECE veranstaltete etwa multilaterale Treffen, um bilaterale Kontakte zwischen Wirtschaftsvertretern zu erleichtern, in der Hoffnung, dies würde zu neuen Vertragsabschlüssen führen (Kapitel 4.2). Allerdings blieb der Handelsaustausch zwischen Ost und West weit hinter den Vergleichszahlen aus der Vorkriegszeit und noch weiter hinter dem dynamischen Handelswachstum innerhalb von Westeuropa und der westlichen Welt zurück.

Schließlich zeigt Stinsky im ausführlichen Epilog einige langfristige Folgen der Arbeit der UNECE aus den ersten Jahren nach 1947 auf. Hierzu zählt deren Beitrag zur transnationalen Standardisierung, der allerdings in diesem Buch nicht genauer untersucht oder belegt wird. Dagegen zeigt der Autor, in welchem Maße die Kooperation im Sekretariat der UNECE und im Umfeld der Organisation die Entwicklung der Modernisierungstheorie und von neuen Politikansätzen in der internationalen Entwicklungspolitik in den 1960er im Kontext der UNCTAD-Konferenz beförderte. Gerade diese hier nur angedeuteten langfristigen Folgen rechtfertigen Stinskys etwas defensiv formulierte Schlussfolgerung, die UNECE habe eine „nonnegligible role“ (S. 130) in der Entstehung der heutigen integrierten europäischen Wirtschaft gespielt.

Die Stärke dieses Buches liegt in der Beschreibung und Analyse der Arbeit der UNECE aus einer diplomatiegeschichtlichen Pespektive. Der Autor kontextualisiert ihre Aktivitäten in einer kompetenten Darstellung des Kalten Krieges und des Wettbewerbs und der Kooperation mit anderen westlichen internationalen Organisationen. In dieser Anlage liegen jedoch auch die Schwächen des Buches. Vor allem gelingt es Stinsky auf der Grundlage der ausgewählten archivalischen Quellen nicht hinreichend, die Arbeitsweise des Sekretariats anschaulich herauszuarbeiten. Die berechtigte Behauptung, es sei unter der Leitung von Myrdal ein „Akteur“ mit einem gewissen Grad an Unabhängigkeit gewesen, wird nicht überzeugend genug belegt. Außerdem geht das Buch mit seinem Ansatz nicht tief genug hinein in die technische Kooperation zwischen Experten, um zeigen zu können, welchen Beitrag die UNECE im Detail zu grenzüberschreitender Standardisierung geleistet haben mag.

Die diplomatiegeschichtliche Perspektive priorisiert auch politische gegenüber wirtschaftlichen Aspekten. Die benutzten Handelsstatistiken (z.B. S. 163) wären aussagekräftiger, wenn die Zahlen zum Ost-West-Handel in Relation zum Anstieg des Handels in Westeuropa und zwischen Westeuropa und den USA gestellt worden wären. Der wichtigste Einwand gegen Stinskys Ansatz besteht jedoch darin, dass er sich – vermutlich aus forschungspragmatischen Gründen – zu stark auf „westliche“ Quellen verlässt, sodass er im Kern eine Geschichte der UNECE aus der Sicht anglo-amerikanischer Akteure und von Myrdal geschrieben hat. Die zusätzliche Berücksichtigung ostdeutscher Quellen trägt kaum dazu bei, eine gesamteuropäische Perspektive auf eine gesamteuropäische internationale Organisation zu entwickeln. Das wäre nur unter Berücksichtigung beispielsweise tschechoslowakischer, polnischer oder sowjetischer Quellen möglich. Durch diese stark „westliche“ Perspektive geht in dem Buch auch verloren, dass die UNECE selbst nach dem vorübergehenden „Boykott“ technischer Kommissionen durch osteuropäische Staaten immer noch eine Rolle als informelles Forum spielte. Vielfach sprachen osteuropäische Experten und Vertreter von inzwischen verstaatlichten Industrien die Mitarbeiter des Sekretariats oder die UNECE-Delegationen aus den westlichen Ländern informell an, um bestehende Wirtschaftskontakte in den „Westen“ aufrechtzuerhalten oder später neu zu entwickeln.

Stinsky hat somit eine ausgezeichnete Grundlage für zukünftige Forschung geschaffen, indem er die diplomatischen Makrostrukturen und die Aktivitäten des Sekretariats kompetent diplomatiegeschichtlich kontextualisiert hat. Weiterführende Erkenntnisse sind hiernach nur noch von Studien zu erwarten, die die „technischen“ und informellen Aktivitäten der UNECE genauer unter die Lupe nehmen; die eine Forschungsperspektive einnehmen, die die Grenze zwischen Ost und West energischer überschreitet und auf der Ebene der Mitgliedsstaaten nachverfolgt, welche Wirkung die Arbeit der UNECE „on the ground“ entfaltete.

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Veröffentlicht am
11.12.2021
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