P. Manning: Wanderung, Flucht, Vertreibung. Geschichte der Migration

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Title
Wanderung, Flucht, Vertreibung. Geschichte der Migration


Author(s)
Manning, Patrick
Published
Essen 2006: Magnus-Verlag
Extent
264 S.
Price
€ 15,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Dirk Hoerder, Arizona State University

Patrick Mannings Geschichte der Migration seit Beginn der Menschwerdung umspannt auf ca. 260 Seiten einen Zeitraum von rund 200 000 Jahren. Sein Überblick spiegelt die rapide Entwicklung der Migrationsforschung wider, die sich von einer nordatlantischen historischen Disziplin zu einem breit sozialwissenschaftlich orientierten globalen Forschungsbereich entwickelt und in den letzten Jahrzehnten die Hervorhebung des 19. Jahrhunderts verringert hat und sowohl bis ins (mediterrane) Altertum zurückgreift wie die Fluchtwanderungen des 20. Jahrhunderts einbezieht. In einem weiteren Schritt wird jetzt die gesamte Geschichte der Ausbreitung des homo sapiens von Ostafrika -- zum Teil zusammenstoßend mit anderswo entstandenen Hominiden -- erfasst. Im ersten von acht chronologischen Kapiteln fasst Manning die frühesten menschlichen Migrationen bis 40 000 v.h. (vor heute) zusammen und erläutert die beteiligten Disziplinen und ihre Methoden: Genetik, Linguistik, Archäologie, Anthropologie. Der oben verwendete Begriff “sozialwissenschaftlich” ist also sehr weit zu fassen. Nicht nur die Grenzen zwischen Disziplinen sondern auch zwischen ganzen Wissenschaftsbereichen werden überschritten oder lösen sich auf. In diesem frühen Zeitraum wurden überwiegend tropische und subtropische Zonen besiedelt. Die möglichen oder wahrscheinlichen Siedlungswege werden kartographisch sichtbar gemacht. Dabei ist der Autor vorsichtig, stellt differenziert “mögliche” Wege vor und erläutert divergierende Vermutungen anderer Wissenschaftler. Manning schreibt als Person: “ich glaube”, “ich bin der Ansicht”, “es bleibt abzuwarten, wie sich die Diskussion entwickeln wird” (z.B. S. 57, 63, 59, 76); er fasst Forschungstand und Hypothesen nach bestem Wissen und Gewissen zusammen.

In den folgenden Kapiteln erreichen Menschen den nördlichen eurasischen und amerikanischen Raum, 40 000 bis 15 000 v.h.; beginnen in zwei Phasen die Landwirtschaft zu intensivieren, 15 000 bis 5000 v.h.; entwickeln 3000 v.d.Z. (vor der Zeitwende) bis 500 n.d.Z. Städte und Handelsnetzwerke. Sie domestizieren, züchten oder erfinden Transportmittel: Boote und Schiffe in vielen lokal angepassten Ausprägungen; Trag-, Reit- und Zugtiere von Esel über Kamele und Pferde zu Rindern; Tragegestelle und Wagen. Von 1400-1700 überbrücken sie die Ozeane und mobilisieren, 1700-1900, Arbeitskräfte für Imperien, Massenproduktion in Plantagenregimes und Industrien. Seit 1900 beginnt die Konzentrierung in Städten. Mannings Chronologie ist großflächig und muss es sein -- einschneidende Daten wie das Ende sowohl der sog. proletarischen Massenwanderung 1914 oder der indischen und chinesischen Vertrags(zwangs)arbeit, nach 1917 wären präziser. Solch genaue Daten sind jedoch makro- oder mikroregional spezifisch und können keine globale Gültigkeit erreichen. Die Krücke einer Chronologie nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden ist notwendiges Hilfsmittel. Die Vereinfachung kann verfälschen. Der Indische Ozean wurde, im Gegensatz zum atlantischen und pazifischen, schon vor mehr als 2000 Jahren erschlossen, als Seeleute die Monsunwinde dekodierten und zu nutzen begannen.

Der Landzentriertheit vieler historischer Arbeiten stellt Manning die Bedeutung der Kombination von Land und Wasser, Uferbereiche von Fluss- und Küstengewässern, gegenüber, die für Migration zwei unterschiedliche Fortbewegungsarten und für Sesshaftwerdung zwei Wege der Ernährung ermöglicht. Die Völker der südostasiatischen Inseln entwickelten für das "austronesische Inselspringen" (Kap. 5) eine äußerst komplexe Nautik für Meeresweiten von anfangs einigen hundert und dann einigen tausend Kilometern bis nach Hawai’i und zu den Osterinseln. Auch viele andere Vorstellungen bedürfen der Revision. Das oft als marginal angesehene Neuguinea war eines von mehreren Zentren der Diversifizierung von Kulturpflanzen durch Züchtung. In die Amerikas kamen bis in die 1830er Jahre mehr Menschen aus Afrika als Europäer (8 zu 2 Millionen) und von den Europäern kam die Hälfte oder mehr als auf Zeit gebundene Schuldknechte, die die Kosten der Überfahrt abarbeiten mussten. Den oft als modellhaft angesehenen rund 50 Millionen Abwanderern aus Europa, ca. 1820 bis 1950er Jahre, steht im gleichen Zeitraum eine ähnlich hohe Zahl von 'indentured servants' und freien Migranten aus asiatischen Kulturen gegenüber. Eine wiederum ähnlich hohe Zahl von nordchinesischen Landbewohnern wanderten von ca. 1900 bis 1940 in die Manchurei und Mongolei. Wenn statt absoluter Zahlen Abwanderungsraten pro Tausend Bevölkerung berechnet werden, zeigt sich kontinuierlich hohe Mobilität von Menschen in der Mehrzahl aller Gesellschaften in den vergangenen Jahrhunderten. Migration ist weder ein neues Phänomen noch ist sie in der Gegenwart außergewöhnlich hoch.

Insgesamt fasst Manning den vorhandenen Forschungsstand zusammen, argumentiert für bestimmte Interpretationen, die seiner Ansicht nach überzeugend sind, und legt argumentativ dar, weshalb er anderen Interpretationen nicht folgt (z.B. Jared Diamonds Analyse der Bedeutung der eurasischen Ebenen für Migration und Konflikt). Er erläutert die für bestimmte Epochen vorherrschende – linguistische, archäologische, oder genetische -- Methodik und erläutert Entwicklungen in allen beteiligten Disziplinen. Besonders in der Genetik und Linguistik werden Modelle auf der Basis von vorhandenen Daten verwandt und z.T. weit in die Vergangenheit zurückprojiziert. Das hat Kritik in der Geschichtswissenschaft hervorgerufen, ist aber in diesen Disziplinen abgesicherte Methodik. Mannings gesamter Text zeichnet sich dadurch aus, dass er an jedem Punkt hinterfragt werden kann, weil Prämissen und Hypothesen erläutert und damit der Debatte zugänglich gemacht werden. Insofern ist der chronologische Teil auch ein Methodenteil mit Hypothesenbildung.

Würde die Rezension hier enden, wäre die Bewertung uneingeschränkt positiv: Mannings Buch ist der einzige Überblick von dieser Reichweite, ist hervorragend geschrieben und argumentiert sowie in der Lehre leicht einzusetzen. Das mit vielen Karten illustrierte Buch ist im wörtlichen Sinne einzigartig. Das Forschungsfeld entwickelt sich rapide weiter, so dass in einigen Jahren eine überarbeitete Auflage notwendig sein wird.

Seinem chronologischen Abriss stellt Manning im 1. Kapitel eine Einführung in Modelle menschlicher Migration voran, in dem er seine Begrifflichkeiten und Kategorien erläutert. Hieran hat sich eine heftige Debatte entzündet. Manning reduziert Migrationen auf vier Kategorien: Binnenmigration, (ausweitende) Kolonisation, Migration ganzer Gemeinschaften (“whole-community migration”) und gemeinschaftsübergreifende Migrationen (“cross-community migration”). Die ersten drei Formen lassen sich auch im Tierreich finden – eine von Manning gezogene Parallele, die oft abgelehnt wird. Die in diesem Schema Menschen vorbehaltene Form der gemeinschaftsübergreifenden Migration bezeichnet Manning in einer äußert umstrittenen Einschätzung als überwiegend männlich. Manning ist sich der Frage von Geschlecht (gender) bewusst, hat diesen Bereich aber nicht zufriedenstellend behandelt. Die vielfältigen Wanderungen seit Beginn der Intensivierung der Landwirtschaft und noch stärker seit Beginn der Urbanisierung in Mesopotamien, die Bevölkerungsbewegungen in den historischen Imperien von China über Indien, Persien, Ägypten, Griechenland, und Rom sowohl vor der Zäsur des Mongolenreiches wie danach, bzw. in den Amerikas seit der Zäsur des Eintreffens der Europäer müssen geschlechtsspezifisch differenziert gefasst werden. Multidisziplinäre Forschungen über weltweite Migrationen in den vergangenen fünf Jahrtausenden machen deutlich, dass Mannings vier Kategorien zu eng sind, dass ein neues, differenzierteres Kategoriensystem im Entstehen ist. So muss dieser Versuch der didaktisch-konzeptionellen Vereinfachung als unzureichend bewertet werden. Von dieser – einschneidenden – Kritik abgesehen, ist Mannings Synthese ein Meisterwerk.

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25.05.2008
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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