U. Makdisi u.a. (Hrsg): Memory and Violence in the Middle East

Cover
Title
Memory and Violence in the Middle East and North Africa.


Editor(s)
Makdisi, Ussama; Silverstein, Paul A.
Published
Extent
243 S.
Price
$ 52.96
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Astrid Meier, Historisches Seminar, Universität Zürich

Sind "state building" und "nation building" im Nahen und Mittleren Osten in besonderer Weise von Gewalt geprägt? Die konfliktreiche Geschichte von Irak, Libanon und Algerien, ganz zu schweigen von Israel und Palästina, bietet oberflächlich betrachtet scheinbar genug Belege für eine solche These. Der hier zu besprechende Sammelband will diesem verbreiteten Vorurteil entgegenwirken, indem er zur Diskussion stellt, auf welche Weise die heutige politische Lage von Erinnerung an Gewalt bestimmt ist, die die Identität gesellschaftlicher Akteure entscheidend mitprägt. Dabei ist die koloniale Vergangenheit von zentraler Bedeutung: „[...] this volume seeks to explore how such memories of violence and violence of memory frame contemporary politics and the possibilities for resolution of current conflicts in the Middle East and North Africa. It questions how official and unofficial histories of struggle are variously produced, consumed and reproduced in the forging of national and transnational polities.“ (S. 7)

Das Buch versammelt neun Beiträge zu der israelisch-palästinensischen, der libanesischen und der algerisch-französischen Geschichte, die lose durch eine programmatische Einleitung der beiden Herausgeber zusammengehalten werden. Es geht zurück auf eine Tagung, die bereits im März 2001 an der Rice University stattfand, also vor dem 11. September und den tiefgreifenden Veränderungen in der Region, die mit dem "war on terror" in Zusammenhang stehen. In einer ausführlichen Einleitung stellen die beiden Herausgeber, der Historiker Ussama Makdisi und der Anthropologe Paul A. Silverstein, die zentralen Themen des Bandes anhand der Stichworte „Gewalt (violence)“, „Erinnerung (memory)“ und „Aussöhnung (reconciliation)“ vor und verweisen anhand der Entwicklungen um Afghanistan und Irak seit 2001 auf die Aktualität der Fragestellung.

Die Verbindung von anthropologischer und historischer Perspektive ist programmatisch. Dabei wird die Geschichtsschreibung zu und aus der Region impliziert kritisiert als vereinheitlichend, von Staat oder Politik kontrolliert, orientiert am "master narrative" der nationalen Befreiung, eine Geschichte der Sieger also. Geschichte als disziplinärer Zugang kann in dieser Sicht der gelebten Erfahrung und den sich wandelnden, unfertigen und oft auch widersprüchlichen Erinnerungen der Beteiligten und ihrer Nachkommen nicht gerecht werden. Allerdings sehen einzelne Autoren in einer noch zu entwickelnden kritischen Geschichtsschreibung auch ein Korrektiv für das Überhandnehmen dissonanter und einfach zu manipulierender Erinnerungen. So argumentiert der Literaturwissenschaftler Saree Makdisi in seinem Beitrag „Beirut, a City Without History?“, Bilder (images) aus der Vergangenheit seien an die Stelle einer vertieften Auseinandersetzung mit Geschichte getreten. Unter anderem schildert er, wie man jahrelang versucht hat, eine Geschichte Libanons seit 1946 für den Unterricht an Schulen bereitzustellen, die auch den Bürgerkrieg thematisiert. Das Unternehmen scheiterte am Anspruch, eine allen Seite genehme Darstellung zu finden, und passt in die offizielle Politik des Vergessens des Bürgerkrieges und seiner Folgen, in der Form von Amnesie und Amnestie.1 Auch im zweiten Beitrag zu Libanon ist diese Politik zentrales Thema. Die Anthropologin Anja Peleikis zeigt am Beispiel eines christlich-schiitischen Dorfes differenziert und überzeugend die Unmöglichkeit, nach der Vertreibung der christlichen Bevölkerung während des Krieges jetzt zum Status quo ante zurückzukehren, der Gegenstand nostalgischer Verklärung geworden ist. Auch wenn in diesem Fall das Rückkehrrecht unbestritten ist und vom Staat durchgesetzt wird, macht es laut Peleikes die offiziell verordnete Politik des Vergessens unmöglich, dass erlittenes Unrecht öffentlich anerkennt werden kann. Dies ist aber, wie das alternative Modell einer Wahrheitskommission z.B. in Südafrika gezeigt hat, eine wichtige Voraussetzung für weitere Schritte der Aussöhnung.

Als Kontrast zum Fall Libanon und seinem schwachen Staat sind die fünf Beiträge zu Israel und Palästina zu lesen, die den Schwerpunkt des Bandes bilden. Durch fast alle Beiträge zieht sich der Gegensatz zwischen einer „hegemonialen“, stark zionistisch beeinflussten Historiographie und anderen „internen“ und „externen“ Erinnerungen, die von ihr an den Rand gedrängt oder gar vergessen gemacht wurden. Schon vor der Gründung des Staates Israel verfestigte sich dieses Verhältnis, wie die Konstituierung der Archäologie als wissenschaftliche Disziplin zeigt. Das ist die zentrale These des Beitrages der Anthropologin Nadia Abou El-Haj. Der Historiker Gabriel Piterberg argumentiert in seinem ausdrücklich „pessimistischen“ Artikel „Can the Subaltern Remember?“, dass die Geschichtswissenschaft sich nicht in erster Linie mit der Vorgeschichte der Fluchtbewegungen von 1948-1949 und einem eventuell dahinter stehenden Master Plan beschäftigen sollte, sondern vor allem auch damit, wie die Politik mit dem fait accompli umging. Auf der Grundlage von zwei Kernbegriffen – „Retroactive Transfer“ und „Present Absentees“ – zeigt er, wie schnell das Rückkehrrecht der Palästinenser zu etwas Undenkbarem wurde. Dies betraf nicht nur diejenigen Flüchtlinge, die außerhalb Israels Zuflucht gesucht hatten, sondern auch jene, die sich innerhalb der Grenzen des neuen Staates aufhielten. Aber auch andere Gruppen wurden aus der historischen Wahrnehmung verdrängt, so z.B. eine Gemeinschaft jemenitischer Juden, die in den späten 1920er-Jahren der Expansion einer Siedlung zionistischer Pioniere aus Osteuropa Platz machen musste. Doch während solche Gruppen ihre verschütteten Erinnerungen in die Nationalgeschichte integrieren wollen, ermöglichte es laut Piterberg gerade der Ausschluss aus dieser Historiographie der palästinensischen Seite, eine eigene und eigenständige Erinnerungskultur aufzubauen. Illustriert wird diese These im Band auch am Beispiel des Massakers von Kafr Qasim von 1956 im Beitrag der Historikerin Shira Robinson. Wie sie argumentiert auch der Anthropologe Glenn Bowman, dass solche Erinnerungen veränderbar und widersprüchlich sind, sie zudem stark vom sozialen und politischen Kontext abhängen, in dem sie erinnert werden. Der lehrreiche Beitrag „A Death Revisited“ arbeitet akribisch auf, wie in unterschiedlichen Kontexten der nationalen Mobilisierung die Ermordung eines Christen von einem fast zufällig zu nennenden Racheakt von Israelis an einem „Palästinenser“ zu einem Mord durch Kollaborateure umgedeutet wurde, der die innergemeinschaftlichen Beziehungen im Dorf schwer belastete. Auch der Beitrag von Yael Zerubavel, Professorin für Jüdische Studien, fokussiert auf die Wandelbarkeit der Wahrnehmung. Sie thematisiert, wie sich im Verlauf der Zeit das Konzept des Opfertodes für das Vaterland in der israelischen Gesellschaft veränderte und zum Gegenstand auch literarischer Auseinandersetzung wurde.

Als drittes Fallbeispiel figuriert im Band Algerien. Die Beiträge der beiden Historiker James McDougall zur algerischen und Benjamin Stora zur algerisch-französischen Geschichte „Martyrdom and Destiny. The Inscription and Imagination of Algerian History“ bzw. „The Algerian War in French Memory“ stellen aus gegensätzlicher Perspektive die Diskurse über Nation und Nationalismus zur Diskussion, die die kolonialen und post-kolonialen Geschichten Algeriens und Frankreichs prägen. Sie bleiben stark einer allgemeinen Ideologiekritik verhaftet und lassen die Umsetzung an konkreten Fallbeispielen vermissen, die viele der übrigen Beiträge auszeichnet.

An diesem Punkt lässt sich auch eine allgemeine Kritik an diesem anregenden und lehrreichen Band festmachen. Laut Vorwort richtet er sich über einen engen Kreis von Spezialistinnen und Spezialisten hinaus ausdrücklich auch an diejenigen, die nicht nur theoretisches Interesse an Fragen von Gewalt, Erinnerung und Aussöhnung haben. Was solche Praktiker allerdings von dieser Sammlung interessanter Fälle und Einzelaspekte lernen können, ist nicht unmittelbar einsichtig. So vielfältig und differenziert die Zugänge, so vielschichtig die Analysen in den verschiedenen Beiträgen auch sind, so bieten sie kein Modell an, wie Gewalt, die Erinnerung an Gewalt und die Gewalt der Erinnerung zusammenwirken. Schließlich mangelt es an einem Fazit, auch wenn es nur vorläufig wäre. Ein pessimistischer Grundton durchzieht die Beiträge des Bandes und positive Beispiele der Konfliktlösung fehlen. Weil aber Vergleiche mit anderen Konflikten und Weltregionen nur angedeutet werden, lässt der Band insgesamt offen, ob der hier angesprochene „Mittlere Osten und Nordafrika“ als Region tatsächlich einen Sonderfall darstellt. Das zu Beginn angesprochene Vorurteil wird also nicht wirklich ausgeräumt.

Anmerkung:
1 Bezeichnenderweise hat erst vor kurzem Fawwaz Traboulsi nach 42 Jahren zum ersten Mal wieder eine Gesamtdarstellung vorgelegt, die die Zeit von der osmanischen Eroberung bis 1989 umfasst: Traboulsi, Fawwaz, A History of Modern Lebanon, London 2007; vgl. Salibi, Kamal S., A Modern History of Lebanon, London 1965; und ders., A House of Many Mansions. The History of Lebanon Reconsidered, Berkeley 1989.

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22.02.2008
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