Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): Dekolonisation

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Title
Dekolonisation. Prozesse und Verflechtungen (1945-1990)


Editor(s)
Friedrich-Ebert-Stiftung
Series
Archiv für Sozialgeschichte, Band 48
Published
Extent
XVIII, 796 S.
Price
€ 68,00
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Martin Rempe, Berlin

Der 48. Band des Archiv für Sozialgeschichte widmet sich dem Rahmenthema „Dekolonisation: Prozesse und Verflechtungen 1945 bis 1990“. Neue Perspektiven auf das Thema und bisher weniger beachtete Aspekte der Dekolonisation sollten darin versammelt werden1, was der Redaktion insgesamt sehr gelungen ist. Die thematische Bandbreite der 18 versammelten Aufsätze reicht unter anderem von der Rolle internationaler Organisationen im Dekolonisationsprozess über Rückwirkungen der Dekolonisation in den Metropolen bis hin zu „nation building“ Strategien der neu entstandenen, souveränen Nationalstaaten. Wie Andreas Eckert in seinem einleitenden, sehr empfehlenswerten Überblick zur Dekolonisationsforschung zurecht feststellt, hinterlässt der Band „noch ein etwas unübersichtliches Bild“ (S. 6), weswegen sich die Rezension auf wenige, gleichsam dominante ‚Bildelemente’ beschränken wird. Die Unübersichtlichkeit dürfte jedoch nicht weiter überraschen angesichts der Tatsache, dass das Themenfeld erst seit kurzem wieder auf größere Resonanz innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft stößt. So lose die einzelnen Beiträge teilweise miteinander verknüpft sind, so einig sind sich doch nahezu alle Autoren, dass ‚Dekolonisation’ nicht lediglich den konkreten Ablösungsprozess bis zur Unabhängigkeitsfeier umfassen dürfe, sondern zeitlich weit darüber hinaus Anwendung finden müsse – eine Auffassung, die angesichts unübersehbarer Nachwirkungen kolonialer Herrschaft in den unabhängigen Ländern sehr zu begrüßen ist. Eine weitere, relative Gemeinsamkeit liegt in der überwiegenden Konzentration der Artikel auf Afrika. Indien wird mit drei Beiträgen gewürdigt, während Südostasien lediglich mit einem einzigen Aufsatz vertreten ist, was letztlich dem zeitgeschichtlichen Fokus des Bandes Rechnung trägt.

Bei aller Heterogenität der Themenschwerpunkte und Perspektiven widmen sich einige Beiträge direkt oder indirekt der Entstehung, Ausbreitung und der praktischen Umsetzung des „Entwicklungsparadigmas“ (Andreas Eckert). Dies ist umso erfreulicher, weil die Geschichte der Entwicklungspolitik in der deutschen Geschichtswissenschaft bisher eher ein Schattendasein fristete. Insbesondere zur wissenschaftlichen Fundierung von Entwicklungspolitik wartet der Band mit neuen Einsichten auf. Sönke Kunkel zeichnet den Auf- und Abstieg der Modernisierungstheorie Rostowscher Prägung samt ihrer praktischen Auswirkungen auf die US-amerikanische Außen- und Entwicklungspolitik nach. Er argumentiert, dass die Ausbreitung der Theorie nicht nur im Kontext des Kalten Krieges verortet werden darf, sondern weit mehr noch aufgrund des sich abzeichnenden Zerfalls der Kolonialreiche derart große Wirkung entfalten konnte. Kunkels Ausführungen überzeugen ebenso wie Daniel Speichs Beitrag zur Entstehung der Entwicklungsökonomie seit den 1930er-Jahren. Als theoretischer und angewandter Wissenschaft kam der Entwicklungsökonomie eine übergeordnete Bedeutung für die Formulierung entwicklungspolitischer Strategien zu – sie avancierte Speich zu Folge nachgerade zu einem „Heilsversprechen“ für die postkolonialen Staaten, weil sie universell gültige Lösungen postulierte. In der Zusammenschau dieser Beiträge mit dem exzellenten Artikel von Stephan Malinowski wird deutlich, warum Entwicklungspolitik trotz ihrer unterschiedlichen Wurzeln im Spätkolonialismus einerseits sowie in US-amerikanischer Modernisierungstheorie(n) und Harry S. Trumans Vier-Punkte-Programm andererseits innerhalb kürzester Zeit zu einem relativ homogenen, globalen Phänomen avancierte. Malinowski interpretiert den Algerienkrieg als „Modernisierungskrieg“ und weist unter anderem nach, dass sich die zivilen Modernisierungsstrategien, die Frankreich neben den militärischen Operationen verfolgte, kaum von modernisierungstheoretischen Glaubenssätzen abhoben, obwohl direkte Verbindungslinien zwischen den beiden Wurzeln nur schwer nachzuweisen sind. Ihre gemeinsame Grundlage, so könnte im Anschluss an Speich und Kunkel argumentiert werden, hatten spätkoloniale und modernisierungstheoretische Programme in der aufstrebenden Entwicklungsökonomie, die nicht nur auf beiden Kontinenten parallel vorangetrieben wurde, sondern sich in Europa auch abseits des kolonialpolitischen Milieus entfaltete. John Maynard Keynes beispielsweise, dessen Arbeiten die Entwicklungsökonomie stark beeinflussten, zeigte kaum Interesse für koloniale Entwicklungsfragen.2 Wie Andreas Eckert in seiner Einleitung darlegt, waren es Mittler wie Arthur W. Lewis, die neu gewonnene Erkenntnisse der Entwicklungsökonomie in die praktische Kolonialpolitik überführten, während sich Modernisierungstheoretiker dieses ‚neutrale’ Wissen ebenfalls aneignen konnten, ohne dadurch ihren antikolonialen Impetus aufgeben zu müssen. Dies könnte ein Erklärungsansatz dafür sein, dass die eine Schule von der anderen nichts wissen wollte, und dennoch beide ähnliche Annahmen und Strategien teilten.

Impliziter Widerspruch zu Malinowskis Deutung lässt sich aus den Artikeln von Daniel Maul und Veronique Dimier herauslesen. In seinem äußerst lesenswerten Beitrag zur Rolle der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) im Dekolonisationsprozess, der gerade auch in theoretischer Hinsicht all jenen zu empfehlen ist, die sich mit der Geschichte internationaler Organisationen befassen, betont Maul, dass die ILO ihre entwicklungspolitische und menschenrechtliche Agenda auf einen Ableger der Modernisierungstheorie stützte, die der Demokratisierung einen zentralen Stellenwert einräumte. Dass das Rostowsche Stufenmodell, das Malinowski als Folie dient, in der Praxis der Entwicklungshilfe wesentlich wirkmächtiger werden sollte als andere Varianten, darf insofern nicht darüber hinwegtäuschen, dass unterschiedliche Modernisierungstheorien im Umlauf waren, die sich teils mehr, teils weniger von kolonialen Entwicklungsansätzen abgrenzten.

Dimier hingegen nähert sich aus der anderen Richtung, wenn sie in ihrem aufschlussreichen Artikel die These aufstellt, dass die Entwicklungspolitik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) französische Kolonialpraktiken perpetuierte und modernisierungstheoretische Ansätze vollständig ignorierte. Die ehemaligen französischen Kolonialbeamten, die in der Generaldirektion VIII der EWG-Kommission ein neues Betätigungsfeld gefunden hatten, verfolgten ihr zu Folge eine eher pragmatische Herangehensweise – der Pflege altbekannter kolonialer Klientelbeziehungen wurde der Vorzug vor wissenschaftlicher Expertise gegeben. Dass sich französische Entwicklungsexperten mit Kolonialerfahrung anders im Feld verhielten als beispielsweise US-amerikanische Modernisierungsstrategen, ist zweifellos ein bedenkenswertes Argument. Dass sich diese Erfahrung jedoch automatisch in einer Art Wissenschaftsfeindlichkeit niederschlug, leuchtet nicht ohne Weiteres ein und steht darüber hinaus im Widerspruch zu manchen Vorgehensweisen der Generaldirektion VIII. Sie setzte sich beispielsweise schon Anfang der 1960er-Jahre erfolgreich dafür ein, die Vergaberegeln des Europäischen Entwicklungsfonds dahingehend zu ändern, dass Fondsmittel auch für die Erstellung wissenschaftlicher Studien verwendet werden konnten.3 Ungeachtet dieser Detailkritik dienen alle genannten Beiträge als hervorragende Grundlage, um verstärkt über die Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede spätkolonialer und modernisierungstheoretisch inspirierter Entwicklungspolitik nachzudenken.

Doch nicht nur im Hinblick auf diese Debatte erweist sich der Band als äußerst fruchtbar. Er hält auch neue Einsichten zur Geschichte der deutschen Entwicklungspolitik bereit. Hubertus Büschel und Corinna Unger machen mit ihren Beiträgen deutlich, wie gewinnbringend ein Blick auf die Praxis deutscher Entwicklungspolitik sein kann. Büschel lenkt die Aufmerksamkeit auf die Praktiker und Praktiken westdeutscher Entwicklungshilfe und ostdeutscher Solidarität und füllt damit eine bedeutende (Forschungs-)Lücke, die sich zwischen entwicklungspolitischen Konzepten und ihrer Durchführung, zwischen Anspruch und Wirklichkeit auftat. Unger hingegen konzentriert sich auf ein einziges Projekt früher bundesdeutscher Entwicklungshilfe, namentlich auf die Errichtung eines Stahlwerks im indischen Rourkela. Das Projekt, so Unger, „wurde zum Inbegriff überhöhter Erwartungen, missverstandener Wertannahmen und geflissentlich ignorierter kultureller Differenzen“ (S. 387). Diese negative Erfahrung markierte jedoch Unger zu Folge einen Wendepunkt in der westdeutschen Entwicklungspolitik: Konzepte, Ziele und Methoden wurden revidiert und stärker an die Bedürfnisse der Adressaten angepasst. Diesen Wandel sucht man bei Büschel vergebens. Er betont stärker die Kontinuität rassistischer Einstellungen bei den Praktikern, macht zugleich aber deutlich, dass die Helfer vor Ort teils auch deutliche Kritik an den eigenen entwicklungspolitischen Strategien übten. Man darf insofern gespannt sein, in welche Richtung sich diese Debatte weiter entwickeln wird.

Insgesamt besteht kein Zweifel, dass der 48. Band des Archiv für Sozialgeschichte zahlreiche weiterführende Beiträge – auch über die hier rezensierten hinaus – vereinigt und zu vertiefter Forschung an Fragen der Dekolonisation und insbesondere der Entwicklungspolitik einlädt.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu den Tagungsbericht Dekolonisation: Prozesse und Verflechtungen 1945-1990. 21.02.2007-23.02.2007, Bonn. In: H-Soz-u-Kult, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1516> (22.03.2007).
2 Vgl. zum allgemein langanhaltenden Desinteresse der Volkswirtschaftslehre an kolonialen Fragen Heinz W. Arndt, Economic Development. The History of an Idea, Chicago 1987, S. 29-36.
3 Vgl. dazu Carol Cosgrove-Twitchett, Europe and Africa. From Association to Partnership, Farnborough 1978, S. 52-55.

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12.02.2009
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