M. Pesek: Das Ende eines Kolonialreiches

Cover
Title
Das Ende eines Kolonialreiches. Ostafrika im Ersten Weltkrieg


Author(s)
Pesek, Michael
Series
Eigene und fremde Welten. Repräsentationen sozialer Ordnung im Vergleich 17
Published
Frankfurt am Main 2010: Campus Verlag
Extent
419 S.
Price
€ 39,90
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Christoph Kamissek, Europäisches Hochschulinstitut Florenz

Mit einigen Tagen Verspätung kam der Erste Weltkrieg auch in Jassini an, einem kleinen Grenzort zwischen den Kolonien Britisch- und Deutsch-Ostafrika (DOA) nahe der Küste. Bei einem seiner üblichen Grenzübertritte, den ein englischer „Zollaskari“ in der Hoffnung auf eine Zigarettenspende auf die deutsche Seite unternommen hatte, wurde er plötzlich durch eine Kugel empfangen und getötet. Deutschland und Großbritannien, so erklärten deutsche Soldaten dem empörten englischen Distriktskommissar, befänden sich im Krieg, in Europa und jetzt auch in Afrika.1

Mit dieser Episode leitet der Berliner Historiker Michael Pesek – gegenwärtig Gastprofessor für Geschichte Afrikas an der Humboldt-Universität – seine Studie zum Ersten Weltkrieg in Ostafrika ein. Nicht nur die Mobilisierung des wirtschaftlichen Potentials ihrer imperialen Besitzungen und der Einsatz von Kolonialtruppen auf dem europäischen Kriegsschauplatz durch das Britische Empire und Frankreich verliehen dem „Welt“-Krieg tatsächlich eine globale Gestalt, sondern ebenso der Umstand, dass dieser tatsächlich auch auf Schlachtfeldern in Afrika und Asien ausgefochten wurde.

Der erwähnte Grenzzwischenfall verweist bereits auf einige der Eigentümlichkeiten, die der Weltkrieg dort annahm, wo die verfeindeten Nationalstaaten in ihrer imperialen Gestalt aufeinander trafen. So war im August 1914 noch keinesfalls klar, ob auch die Kolonien am Krieg beteiligt werden sollten. Insbesondere auf deutscher Seite hoffte man auf die Einhaltung der Vereinbarung, diese im Kriegsfall neutral zu halten. Als aber auch hier Kämpfe ausbrachen, drohte die immer noch instabile koloniale Ordnung, die in DOA erst seit 30 Jahren nominell bestand, zusammenzubrechen. Nachdem die Europäer die Eroberung des afrikanischen Kontinents mit ihrem angeblichen Zivilisationsvorsprung begründet hatten, schlachteten sie sich jetzt vor den Augen ihrer afrikanischen Untertanen gegenseitig ab. Mehr noch, diese erhielten nun sogar Befehl und Erlaubnis, den bisher sakrosankten Körper des europäischen Kolonialherrn anzugreifen und zu töten, wenn er einer feindlichen Nation angehörte.

Obwohl damit die Antagonismen Europas auch in Afrika neue Konfliktlinien schufen, wurde hier aber nicht nur ein und derselbe Krieg einfach an einem anderen Ort ausgetragen, weder in politischer noch in militärisch-technischer Hinsicht. Bereits das Verhältnis der Kriegsparteien untereinander stellte keine bloße Reproduktion europäischer Verhältnisse dar. Während England, Belgien und Portugal in Europa Alliierte gegen das Deutsche Kaiserreich waren, standen sie sich in Afrika auch als Konkurrenten und potentielle Anwärter auf das Erbe des deutschen Kolonialreiches gegenüber. Die unfreiwillig beteiligten Afrikaner interessierten sich überhaupt nicht für Kriegsgründe und nationalistische Rhetorik der Europäer. Gerade ihre Eigeninteressen, wie etwa der Wunsch der Askari nach Rückkehr in ihre Heimatregionen, dominierten phasenweise das Kriegsgeschehen und beschränkten die Handlungsspielräume der kommandierenden europäischen Offiziere.

Im Unterschied zu Europa war in Afrika die Zivilbevölkerung der unmittelbare Leittragende einer Kriegführung, die zwar einerseits mit moderner Technik betrieben wurde, sich andererseits aber auf eine vorkoloniale Infrastruktur bei Versorgung und Verkehrswegen stützen musste. Der Mangel an Straßen und Eisenbahnen im Kriegsgebiet zwang Briten bzw. die im Verband des Empire kämpfenden Südafrikaner, Belgier, Portugiesen und Deutsche zum Aufbau einer Kriegsökonomie, die sich nach Peseks Schätzungen auf die Arbeit von insgesamt mehr als einer Million afrikanischer Träger stützte (S. 156). Deren Anwerbung, die Rekrutierung von Soldaten und die Requirierung von Lebensmitteln zu deren Ernährung wurden im Laufe des Krieges immer mehr zu einem Selbstzweck, hinter den weiterreichende strategische Kriegsziele oft zurücktraten.

Pesek beleuchtet die besondere Form des Krieges in Ostafrika in vier Großkapiteln. Ein erster Teil beschreibt die „Schlachtfelder“, auf denen die Parteien zwischen 1914 und 1918 in der Region miteinander rangen. Danach folgt eine Annäherung an die „Akteure“ des Krieges, unter denen weniger die Minderheit der in den Kolonien kämpfenden Europäer, als vielmehr die in der eurozentrischen Kriegsgeschichte vernachlässigten afrikanischen Soldaten, Träger, Irregulären und die den Tross in großer Zahl begleitenden Frauen und Kinder verstanden werden. Unter der Überschrift „(Un)Ordnungen“ wird dann die zentrale Frage der Arbeit aufgenommen, inwiefern der Erste Weltkrieg in Afrika lediglich eine Fortsetzung der ebenfalls von kriegerischer Eroberung und militärischer Beherrschung geprägten kolonialen Vorkriegsordnung darstellte, er diese zerstörte oder imstande war, eine neue Ordnung hervorzubringen, die den Krieg überdauern und die kolonialen Nachkriegsverhältnisse bestimmen sollte. Pesek knüpft hier an seine bemerkenswerte Studie zur deutschen Kolonialherrschaft in Ostafrika vor 1914 an, in der er vor allem das Fortwirken vorkolonialer Herrschafts-, Verkehrs- und Wirtschaftsstrukturen und deren prägenden Einfluss auf die entstehende koloniale Ordnung hervorhebt.2

Auch der Weltkrieg in Ostafrika stellte vielfach eine Kontinuität zu kolonialen und sogar vorkolonialen Verhältnissen dar. Die Jagd der Europäer auf „Menschenmaterial“ für Träger- und Kriegsdienste erschien vielen Afrikanern wie eine Rückkehr in die Zeit des Sklavenhandels. Und als der deutsche Oberbefehlshaber Paul von Lettow-Vorbeck nach überraschenden Erfolgen in den Jahren 1914 und 1915 angesichts der alliierten Offensive zunehmend zu einem Guerillakrieg überging, nahm die deutsche Kolonialherrschaft wieder einen ähnlich sporadischen, unberechenbaren und gewalttätigen Charakter an wie in der unmittelbaren kolonialen Eroberungsphase. Zahlreiche Gebiete in DOA wurden durch den Zusammenbruch der kolonialen Ordnung einer regelrechten „Dekolonisierung“ unterworfen und wieder der Kontrolle lokaler Machthaber anheimgegeben (S. 224).

Peseks Antwort auf die Frage nach der transformativen Wirkung des Krieges fällt zwiespältig aus. Einerseits wurden zum Aufbau der kolonialen Kriegsökonomie traditionelle Verkehrs- und Arbeitsformen reaktiviert. Andererseits erreichte der koloniale Kriegsstaat nun einen direkten Zugriff auf große Teile der einheimischen Bevölkerung, den er vorher nie besessen hatte. Dieser Zugriff besaß aber weniger den Charakter einer planmäßigen Ressourcenabschöpfung, sondern gestaltete sich eher als wiederkehrender Raubzug der verschiedenen Kriegsparteien, der zahlreiche Gebiete entvölkerte und ihrer rudimentären Infrastruktur beraubte, so dass diese noch Jahre nach dem Ende des Krieges wieder jenseits jeglicher politischen Kontrolle der neuen Kolonialherren lagen.

Ob der Krieg daher tatsächlich eine erste „koloniale Moderne“ in Ostafrika einläutete, wie von Pesek verschiedentlich angedeutet (S. 210, 216), kann bezweifelt werden. Jedenfalls brachte er viele bisher für unumstößlich gehaltene Grundpfeiler der kolonialen Ordnung ins Wanken. Insbesondere die bisher axiomatisch betonte Trennung zwischen „Schwarz“ und „Weiß“ war unter Kriegsbedingungen kaum aufrecht zu erhalten. Erstaunlicherweise waren es zuerst die Deutschen, die nach ersten niederschmetternden Erfahrungen mit der Kampf- und Marschfähigkeit ihrer rein europäischen Einheiten die militärische Rassentrennung aufgaben und auch sonst flexibel und pragmatisch auf die Herausforderungen afrikanischer Kriegführung reagierten. Entgegen den strikten Gepflogenheiten der Vorkriegszeit und anders etwa als in den britischen Truppen wurden die deutschen Askari nun sogar zur Bedienung des klassischen kolonialen Herrschaftsinstrumentes, des Maschinengewehrs, eingesetzt. Viele der von Pesek in einer instruktiven Zusammenschau deutscher, britischer und vor allem auch belgischer Quellen angestellten Beobachtungen relativieren die immer noch anzutreffende Vorstellung eines deutschen kolonialen „Sonderweges“. Gerade die eigentlich kolonialkriegserfahrenen Briten wollten in Ostafrika durch den Einsatz ungeeigneter moderner Technik siegen, passten ihre Kriegführung erst spät den lokalen Erfordernissen an und fanden lange kein Mittel gegen die ausweichende Bewegungskriegführung der deutschen Militärkarawanen.

Peseks Arbeit demonstriert, dass nationalstaatliche Kategorien den Blick auf Krieg und Kolonialherrschaft in Afrika verzerren. Weder gab es hier klare Fronten noch unumstößliche Solidaritäten, Europäer spielten keineswegs die Hauptrolle in diesem Krieg und die Metropolen bestimmten die Geschehnisse in den Kolonien nur äußerst eingeschränkt. Die Studie nimmt dagegen produktiv eine imperiale Perspektive auf den ostafrikanischen Kriegsschauplatz ein und bemüht sich, trotz der gerade für den deutschen Fall unüberwindlichen Quellenschwierigkeiten auch die Schicksale der Afrikaner und deren Sicht auf den Krieg zu rekonstruieren. Sie eröffnet gerade dort faszinierende Einsichten, wo sich ihr Blick von den willkürlich gezogenen Landesgrenzen und der durch diese genährten Illusion klar getrennter kolonialer Herrschaftssphären löst und dagegen auf die wechselvollen Geschichten von Orten und Regionen im Krieg fokussiert. Bei einer noch konsequenteren Einnahme dieses Blickwinkels hätte eventuell auch die Frage nach der Modernisierungs- und Ordnungswirkung des Krieges anders gestellt oder ganz vermieden werden können. Vorstellungen eines besonders exzentrischen deutschen Kolonialismus legt Peseks Studie hingegen nachhaltig ad acta.

Anmerkungen:
1 Vgl. Artur Heye, Vitani. Kriegs- und Jagderlebnisse in Ostafrika 1914-1916, Leipzig 1922, S. 43.
2 Michael Pesek, Koloniale Herrschaft in Deutsch-Ostafrika. Expeditionen, Militär und Verwaltung seit 1880, Frankfurt am Main 2005.

Editors Information
Published on
14.07.2011
Classification
Temporal Classification
Regional Classification
Book Services
Contents and Reviews
Availability
Additional Informations
Language of publication
Country
Language of review