Wir erleben derzeit transkontinentale Fluchtbewegungen im Ausmaß der Nachkriegskrisen des 20. Jahrhunderts, die diesem immerhin den Titel „Jahrhundert der Flüchtlinge“ eintrugen. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg waren 2013 mehr als 50 Millionen Menschen zwangsweise von ihrem Wohnort entfernt, darunter mehr als die Hälfte der syrischen Bevölkerung.1 Die globale Situation verschärfte sich noch in den 18 Monaten zwischen Veröffentlichung der gebundenen Ausgabe (2013) und der Paperback-Version (2015) von Peter Gatrells Buch „The Making of the Modern Refugee“ (wie ein neues Vorwort präzise nachträgt).
Dieser aktuelle Kontext unterstreicht die Relevanz der auf das 20. Jahrhundert konzentrierten Überblicksstudie insgesamt und vieler der hier formulierten grundsätzlichen Überlegungen zum Begriff, zu historischen Situationen und zur Geschichtsmächtigkeit von flüchtenden Individuen und Gruppen. Ein erstes Verdienst liegt bereits in dem Zuschnitt, sowohl die Ursachen als auch die Auswirkungen von Bevölkerungsvertreibung in globaler Perspektive und in einem analytischen Rahmen zusammenzubringen. Mit dieser umfassenden Synthese führt der Sozialhistoriker und Russland-Spezialist aus Manchester seine langjährigen Studien zu konkreten Flüchtlingsgeschichten und Vertreibungsgeschehen weiter. Den fruchtbaren Begriff „refugeedom“ entwickelte Gatrell bereits, abgeleitet vom russischen Quellenbegriff „bezhenstvo“, in seiner vielfach ausgezeichneten empirischen Untersuchung von Fluchtbewegungen innerhalb des russischen Reiches während des Ersten Weltkrieges.2 Den für das 20. Jahrhundert charakteristischen trans- und internationalen Handlungsrahmen von Fluchten und Flüchtlingsmanagement bearbeitete er in einer Analyse der UN-Kampagne des „World Refugee Year“ (1960) im Übergang vom Kalten Krieg zu neuen Flüchtlingsbewegungen.3
Die zentralen Termini der aktuellen Studie sind im Deutschen nur in Umschreibungen zu fassen: „Displacement“ konnotiert neben der Migration auslösenden Vertreibung stärker auch die auf die erzwungene Verdrängung folgende (De-)Platzierung an einem anderen, unpassenderen Ort und dessen Ersatzcharakter. Zudem umfasst der Begriff sowohl grenzüberschreitende als auch Binnen-Migrationen (so genannter „internally displaced persons“). Das Kunstwort „refugeedom“ leitet aus der Kategorisierung als Flüchtling einen umfassenden Tatbestand ab, der den politologischen Terminus „refugee regime“ erweitert um das Zusammenspiel unterschiedlicher, auch widerstreitender Politiken und Doktrinen auf staatlicher, zwischenstaatlicher und non-gouvernementaler Ebene sowie um Selbstdeutungen. Vor allem aber schreibt „refugeedom“ diesen Regulierungszugriffen das Gewicht eines historischen Faktors ein, der für die betroffenen Individuen ebenso folgenreich war wie für Gesellschaften. Das zentrale Argument lautet denn auch: „states make refugees, but refugees also make states“ (S. vii). So lakonisch die Wendung klingt, kehrt sie die Hauptperspektive bisheriger historischer Flüchtlingsforschung um – von der Rolle und den Politiken des Staates bei der Konstitution und Veränderung von Staaten und Gesellschaften auf den Beitrag der schwerer erfassbaren mobilen Bevölkerungen.4
Moderat konstruktivistisch orientiert und kulturgeschichtlich informiert, analysiert Gatrell, wie die sich über das Jahrhundert entfaltenden Flüchtlingsregime, humanitären Hilfsprogramme und das internationale Recht Flüchtlinge als „category of concern“ (S. vii) erfassten. Um die oft vernachlässigte „agency“ der Geflüchteten zu würdigen, wird ihren Stimmen breiter Raum gegeben, und die Fremdaneignung ihrer Erfahrungen wird reflektiert. Die „klassische Repräsentation“ von Flüchtlingen als passive, anonyme, sprach- und hilflose Opfer der Umstände wird hier als „production of neglect“ thematisiert (S. 11) sowie in ihrer eigenen Ikonographie und Genealogie betrachtet. Als Schöpfer von Ikonen wie dem überzeitlich wirkenden „namenlosen Flüchtling“ treten humanitäre Aktivisten und Fotografinnen, trotz oder gerade wegen ihrer guten Absichten, auf diese Weise neu ins Bild. Als innovative Wendung dieser Aufmerksamkeitsverschiebung wird Geschichte als Ressource der Flüchtlinge untersucht. Denn viele bezogen sich auf sie, um ihr „displacement“ zu erklären und einen Weg aus der Zwangslage zu finden, und nutzten den Umgang mit Vergangenheit, um ihre Erfahrungen zu verarbeiten. Auch hier entstanden Mythen und Ikonen – wie nach der Teilung Indiens, als die Verletzbarkeit von Frauen auf der Flucht zum Sinnbild nationaler Entehrung stilisiert wurde (S. 169).
Im Umfeld der interdisziplinären, doch sozial- und politikwissenschaftlich geprägten „refugee studies“, die seit den 1990er-Jahren vor allem im angelsächsischen Bereich boomen5, positioniert Gatrell seine historische Perspektive als Beitrag zum Verständnis von Ursachen, Folgen und Mustern diverser Flüchtlingskrisen. Die Krisen des 20. Jahrhunderts kennzeichnet er, im Einklang mit bisheriger Forschung, durch ihr Ausmaß, die Verknüpfung des Niedergangs der Imperien und des Aufstiegs des modernen Staates mit der Institution der Staatsbürgerschaft und totalitären Ideologien, sowie durch die Internationalisierung von Antworten auf die Krisen (S. 2). Das Jahrhundert wird – mit geographischer und chronologischer Gliederung – in zahlreichen Beispielen abgeschritten: von den Vertreibungen des Ersten Weltkrieges über die 40-jährige europäische Flüchtlingskrise (1919–1959)6 zu den außereuropäischen Vertreibungsgeschichten des „Mid-Century Maelstrom“ im Nahen und Fernen Osten durch Staatengründungen und -teilungen in Palästina, Indien und Ostasien. Der Kalte Krieg und dessen Folgen werden gleichfalls in globaler Perspektive betrachtet, etwa der Wandel in Südostasien (Vietnam, Kambodscha, Laos, Burma). Die Dekolonialisierung Afrikas und die Wirkungsmacht des Interventionsparadigmas „development“ werden für verschiedene Regionen differenziert: Fluchtsituationen in Algerien, den Subsahara-Staaten und am Horn von Afrika werden als Teil der „multifaceted history of mobility“ eines Kontinents behandelt, der seit Jahrhunderten durch weiträumigen Handel und Zwangsmigration geprägt ist (S. 224). Ein abschließendes Kapitel besichtigt zeitgeschichtliche Fluchtkrisen nach dem Ende des sowjetischen Imperiums, unter anderem in Afghanistan und nach der Auflösung Jugoslawiens. Die Ausblendung Lateinamerikas aus dieser Landkarte ist Gatrell zumindest bewusst (S. 13).7
Die dicht gearbeitete Überblicksstudie basiert auf der Kombination einer breiten Literaturgrundlage (weitgehend jüngere Zeitschriftenaufsätze) mit klassischen historischen Quellen, zum Teil aus internationalen Archiven, unter stetem Einbezug von Filmen, Dichtung und Fotografie. Augenzeugenberichte und Flüchtlingsstimmen erhalten besonderen Raum. Angesichts der Spannweite der historischen Beispiele ist die starke Konzentration auf in westlichen Sprachen zugängliche Forschung nachvollziehbar. Andererseits verbirgt sich hinter dieser Perspektivierung durch vor allem englischsprachige Forschung ein asymmetrisches Verhältnis, schon allein wegen der komplexen Thematik von Übersetzungen, gerade im Hinblick auf Artikulationen von Flüchtlingen und Minderheiten.
Zugänglich präsentiert mit Zwischeneinführungen und Zusammenfassungen, die allgemeinere Aspekte herausarbeiten, eignet sich das Buch ebenso für die Lehre wie zur systematischen Einarbeitung in das Themenfeld. Karten versuchen die komplexen und verwirrenden Bevölkerungsbewegungen festzuhalten – manchmal aber verleihen sie dieser Verwirrung in der Überlagerung chronologischer und räumlicher Aspekte eher graphischen Ausdruck.
Mit seiner scharfen Reflexion und den präzisen Formulierungen setzt Gatrell auch in bekannteren Kapiteln dieser weltweiten Flüchtlingsgeschichte neue Akzente. Insbesondere die Historisierung von Fluchterfahrungen, Flüchtlingsregimen und Flüchtlingsbegriffen ist ihm ein Anliegen. Es gelte, sie als spezifische Erfahrungen und Antworten in bestimmten Situationen zu deuten, nicht als anthropologische Muster menschlicher Bewegung oder gar Entwurzelung. Der Flüchtling des 20. Jahrhunderts mag „als Person und als Kategorie“ durch unterschiedliche Rechtsnormen geprägt sein, doch schließen auch die sich als universalisiert deklarierenden internationalen Normen wie die bis heute wirkungsmächtige Genfer Konvention über den Flüchtlingsstatus von 1951 unterschiedliche Gruppen ein oder aus (S. 7).
Die Studie, die Lücken und Unsicherheiten ausdrücklich benennt, bietet zahlreiche Einzelergebnisse und Neubewertungen. Der Blick auf das Jahrhundert verdeutlicht höchst unterschiedliche Kontexte und Chronologien, macht aber auch übergreifende Muster kenntlich. So bleibt das Arsenal der Interventionsmittel in globaler Perspektive überschaubar (Repatriierung, Resettlement, Lager, Abwarten). Staatenteilung, Grenzziehungen und Bevölkerungsverschiebungen produzierten ebenso weitere Gewalt, wie sie als Gegenmittel verstanden wurden. Auffällig ist die wachsende Rolle des Expertenwissens seit Mitte des Jahrhunderts, die mit der Ausweitung von Ressourcen zusammenfiel.
Besonders sichtbar werden der Zusammenhang von Situationen, etwa wenn die Ansiedlung oder Versorgung einer Flüchtlingsgruppe die Vertreibung anderer Gruppen auslöste, und die Dauer von Konflikten, die von neuerlichen Krisen überlagert wurden. Mit einer Fülle von Beispielen demonstriert der Autor so das politische und politisierte Wechselspiel zwischen Akteuren aus Flüchtenden, Staaten und humanitären Organisationen. Seinen Anspruch, Flüchtlingsgeschichte nicht als marginal zu verstehen, sondern als wichtigen Faktor in der Geschichte von Kriegen, Revolutionen und Staatenbildungen besonders des 20. Jahrhunderts, löst Peter Gatrell überzeugend ein.
Anmerkungen:
1 Amnesty International, The Global Refugee Crisis: A Conspiracy of Neglect, 15.6.2015, <http://www.amnesty.org/en/documents/pol40/1796/2015/en/> (17.09.2015).
2 Peter Gatrell, A Whole Empire Walking. Refugees in Russia During World War I, Bloomington 1999.
3 Ders., Free World? The Campaign to Save the World’s Refugees, 1956–1963, Cambridge 2011.
4 Vgl. die klassische Studie: Michael Marrus, The Unwanted. European Refugees from the First World War Through the Cold War, New York 1985 / Philadelphia 2002; deutsche Übersetzung: Ders., Die Unerwünschten. Europäische Flüchtlinge im 20. Jahrhundert, Berlin 1999.
5 Vgl. für den deutschsprachigen Raum den Blog des 2013 begründeten Netzwerks Flüchtlingsforschung: <http://fluechtlingsforschung.net/blog/> (17.09.2015).
6 Vgl. Matthew Frank / Jessica Reinisch, Refugees and the Nation-State in Europe, 1919–59, in: Journal of Contemporary History 49 (2014), S. 478–490, hier S. 490.
7 Vgl. hingegen Aristide R. Zolberg / Astri Suhrke / Sergio Aguayo, Escape from Violence. Conflict and the Refugee Crisis in the Developing World, Oxford 1989, mit Kapiteln zu Süd- und Mittelamerika.