Forschungen zur Geschichte des Humanitarismus haben Konjunktur. Der vorliegende Band verdient jedoch besondere Aufmerksamkeit: Johannes Paulmann hat mit seinem Mainzer Lehrstuhl und zahlreichen Forschungsprojekten innerhalb des dortigen Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte dafür gesorgt, dass sich Mainz als einer der produktivsten Orte in Deutschland für Forschungen zur Geschichte des modernen Humanitarismus etabliert hat. Der neue Band ist aus einer Konferenz hervorgegangen, die Paulmann 2011 als Gerda-Henkel-Gastprofessor am Deutschen Historischen Institut London veranstaltet hat. Dezidiert global angelegt und jederzeit auf dem Stand der aktuellen Forschungsdiskussionen, wird er zweifellos auch international die Debatten zur Geschichte des Humanitarismus vorantreiben.
In der Einleitung beschreibt Paulmann das Ziel des Bandes als Versuch einer Historisierung von Diagnosen einer vermeintlichen „Krise des Humanitarismus“.1 Während solche Debatten das Ende des Kalten Krieges als Umschlagpunkt betonen, nach welchem die humanitären Herausforderungen komplexer sowie die Verbindungen zu Wirtschaft, Politik und Militär problematischer geworden seien, lenkt der Band den Blick auf die 150 Jahre zurückreichende Geschichte des modernen Humanitarismus und zeigt: Seine Geschichte war jederzeit durch vielfältige Dilemmata geprägt. Diese hätten sich zwar in unterschiedlichen historischen Kontexten verschieden dargestellt, seien letztlich aber immer inhärenter Teil der humanitären Praxis gewesen.
Der Verweis auf Dilemmata und Ambivalenzen ist in der Historiographie des Humanitarismus selbstverständlich nicht neu. Insbesondere die Überschneidungen mit kolonialen Traditionslinien, die Persistenz (postkolonialer) Gewalt- und Machtasymmetrien sowie die nichtintendierten Konsequenzen humanitären Handelns haben hierbei zuletzt große Aufmerksamkeit erfahren. Dennoch gelingt es dem Band durch seinen breiten zeitlichen und thematischen Rahmen überzeugend, die aktuellen Krisendiskurse historisch zu verorten und als ständige Begleiter einer sozialen Praxis zu interpretieren, die Not lindern und Ungerechtigkeiten bekämpfen will, dabei zugleich aber selbst in strukturellen Machtasymmetrien verfangen bleiben muss.
Der Band verzichtet darauf, ein einzelnes Masternarrativ für eine geschlossene Geschichte des Humanitarismus zu entwickeln. Paulmann benennt in der Einleitung jedoch sechs „essential dilemmas“, die in den empirischen Beiträgen auch tatsächlich sehr produktiv aufgegriffen werden. „Spectatorship and Agency“ (1) verweist dabei auf die aus der räumlichen Distanz resultierende Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung humanitärer Katastrophen und den Möglichkeiten eines aktiven Eingreifens. „Media Intervention“ (2) hebt hervor, wie moderne Medien diese Distanzen zwar teilweise überbrücken können, dabei aber oftmals folgenreiche Entscheidungen darüber treffen, welches Leid mediale Aufmerksamkeit erhält. „The Politics of Empathy“ (3) konkretisiert dies an dem dominanten Modus einer emotional-empathischen Rahmung humanitärer Katastrophen, die sehr erfolgreich in der Universalisierung von Leiden ist, zugleich aber häufig die politisch-strukturellen Dimensionen der Konflikte aus den Blick verliert. Mit „Humanitarian Aid as Politics“ (4) werden die engen Verbindungen zwischen humanitären Organisationen sowie staatlichen, wirtschaftlichen und militärischen Akteuren beschrieben, die eben nicht erst Phänomene des „embedded humanitarianism“ seit den 1990er-Jahren darstellen. „The Politics of Aid“ (5) fokussiert auf die internen Konkurrenzverhältnisse der Organisationen und Institutionen, die um finanzielle Ressourcen und mediale Aufmerksamkeit konkurrieren. Unter dem Gegensatz „Outside Intervention and Local Coping Mechanisms“ (6) werden schließlich die häufig spannungsgeladenen Verbindungen zwischen „Hilfsgebern“ und „Hilfsempfängern“ sowie die aus den neuen Einflüssen resultierenden negativen Effekte beschrieben.
Diese Liste ließe sich selbstverständlich problemlos ergänzen. Relevanter erscheint mir der Hinweis, dass nur der letzte Punkt systematisch die Perspektive der lokalen Akteure oder „Hilfsempfänger“ aufgreift, obwohl sich beinahe alle Punkte auch auf deren Handlungsspielräume anwenden ließen. So ist beispielsweise die mediale Übersetzung humanitärer Katastrophen keineswegs nur ein westliches Phänomen, sondern wird von Seiten der lokalen Akteure ebenfalls systematisch eingesetzt. Auch die humanitären Konkurrenzverhältnisse ließen sich über die westlichen Nichtregierungsorganisationen hinaus auf die konkurrierenden Interpretationen lokaler Akteure beziehen. Und selbstverständlich ist die enge Verbindung von humanitären Akteuren mit Politik, Militär und Wirtschaft gerade für die Zusammenarbeit vor Ort ein besonders problematisches Phänomen. Alle drei Punkte ließen sich exemplarisch etwa anhand des Biafra-Konfliktes nachvollziehen (1966–1970).
Die empirischen Beiträge sind chronologisch angeordnet. Im ersten Teil werden für das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert die „Multiple Foundations of International Humanitarianism“ aufgezeigt, der zweite Teil („Humanitarianism in the Shadow of Colonialism and World Wars“) nimmt die Zeit vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zur Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges in den Blick, der dritte Teil („Humanitarianism at the Intersection of Cold War and Decolonization“) beschreibt die Entwicklungslinien bis in die 1980er-Jahre, wobei sich vor allem die Zeit um 1970 als eine wichtige Umbruchphase herauskristallisiert. Der letzte Teil („Dilemmas of Global Humanitarianism“) greift schließlich aktuelle Debatten auf. Die Beiträge können hier nicht einzeln referiert werden. Ich beschränke mich darauf, drei Schneisen durch den empirischen Teil des Buches zu schlagen, um Fragen zu benennen, über die sich die Aufsätze unabhängig von ihrem thematischen und zeitlichen Fokus verbinden lassen. Die Schwerpunktsetzung ist selbstverständlich subjektiv, knüpft aber an einige der in der Einleitung benannten Dilemmata an.
Ein erster Aspekt, der bei vielen Beiträgen ins Auge fällt, ist die zentrale Bedeutung institutioneller Eigenlogiken. Gegenseitige Abgrenzungen, interne Konflikte und institutionelle Neuerfindungen im Kontext veränderter gesellschaftlicher Ausgangslagen spielten häufig eine entscheidende Rolle. So zeigt Matthias Schulz anhand des „Internationalen Komitees des Roten Kreuzes“ die zahlreichen pragmatisch-strategischen Entscheidungen und Partnerschaften mit staatlichen und militärischen Akteuren auf, durch die es dem „Roten Kreuz“ gelang, sich in der Phase von 1863 bis 1918 als internationale Institution einer Humanisierung des Krieges zu etablieren. Joëlle Droux beschreibt die Geschichte von „Save the Children“ für die Jahre 1919–1947 als eine kontinuierliche thematische Neuerfindung, mit der sich die Organisation in veränderten gesellschaftlichen Kontexten als relevanter Akteur zu erhalten versuchte. Und Michael Vössing zeichnet anhand des bis zu persönlichen Invektiven reichenden Konfliktes zwischen dem „Deutschen Roten Kreuz“ und „Cap Anamur“ während der humanitären Aktionen für die asiatischen Boat People (1979–1982) einen klassischen Fall der institutionellen Konkurrenz um mediale Aufmerksamkeit, finanzielle Ressourcen und politische Reputation nach. Alle drei Fälle legen für das Feld des Humanitarismus einen Primat der Institution nahe, der sich sehr produktiv mit einem an Niklas Luhmann geschulten Analyseansatz betrachten ließe.
Solche institutionellen Eigenlogiken finden sich natürlich auch in anderen Feldern. Spezifisch für den Humanitarismus erscheint dagegen die Tatsache, dass man es hier zusätzlich mit bestimmten emotional aufgeladenen Motivkomplexen zu tun hat, oder zumindest mit der Forderung nach einer „authentischen“ Verkörperung solcher Motive. Gerade dazu bieten die Beiträge einige Überraschungen, indem sie auf sehr unterschiedliche, sich zum Teil verschränkende Motivationen verweisen, die keineswegs allein in einer gemeinsam geteilten „globalen Empathie“ aufgehen. Stattdessen spielten etwa patriotische Motive (bzw. deren öffentliche Betonung) eine Rolle, wie Daniel Roger Maul anhand der US-amerikanischen Quäker nachzeichnet (1890–1920), aber auch Formen einer arbeitenden Selbstverwirklichung, die vor allem für Frauen im Feld des Humanitarismus neue Möglichkeiten eröffnete. Gerade für den in der Einleitung betonten Begriff der Empathie ist es in den Fallbeispielen interessant nachzuvollziehen, dass sich diese Empathie nicht notwendigerweise in einem bloßen Mitleiden manifestierte, sondern häufig zugleich eine Form der Parteinahme in einem – auf ein simples Muster von „gut“ gegen „böse“ oder „David“ gegen „Goliath“ heruntergebrochenen – Konflikt darstellte. Das gilt sowohl für den Biafra-Konflikt, wie er im Beitrag von Konrad J. Kuhn im Mittelpunkt steht, als auch für die radikalen Interventionen der Londoner Gruppe „Operation Omega“ im damaligen East Pakistan (1971), die Florian Hannig untersucht hat.
Ein dritter Schwerpunkt ist in Bezug auf die auslösenden Ereignisse humanitären Engagements auszumachen. „Humanitäre Katastrophen“, so lässt sich in allen Beiträgen nachvollziehen, sind keine naturgegebenen Ereignisse. Vielmehr muss eine Geschichte des Humanitarismus danach fragen, welche Ereignisse zu welchen Zeitpunkten und mit welchen Mitteln moralische Relevanz erlangten und welche Sicht- und Unsichtbarkeiten hiermit einhergingen. Besonders drastisch ist das in Caroline Reeves Beitrag über eine Zugentführung von 1923 in China zu erkennen, bei dem die westlichen Geiseln ein globales Medienecho erzeugten, während die chinesischen Geiseln keinerlei Aufmerksamkeit oder Hilfe erfuhren. Young-Sun Hongs Aufsatz über den Algerienkrieg zeigt ebenfalls deutlich die Grenzen der Wahrnehmung humanitären Leidens im Kontext des Kalten Krieges. Aber auch abseits solcher geopolitischen Konstellationen wurde der „humanitäre Blick“ durch subtile (Un-)Sichtbarkeiten geprägt, wie beispielsweise in der Fokussierung auf Kinder als paradigmatische Objekte des humanitären Engagements. Heide Fehrenbachs Beitrag zur Geschichte internationaler Adoption zeigt äußerst überzeugend die ambivalenten Effekte auf, welche eine solche emotionale Aufladung haben konnte.
Die ausgewählten Fragedimensionen spiegeln nicht den gesamten Band wider. So gehört es zu dessen Stärken, dass beinahe alle Beiträge explizit die Gender-Perspektive des eigenen Fallbeispiels diskutieren. Der Band kann insofern auch als Beitrag zu einer Geschlechtergeschichte des Humanitarismus gelesen werden – eine Perspektive, deren Potential gerade erst entdeckt wird.
Der Band bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für das Projekt einer kritischen Historisierung des Humanitarismus. In Bezug auf das einleitend formulierte Ziel einer Intervention in aktuelle Debatten zur „Krise des Humanitarismus“ hält der Band zugleich Fragen für weitere Forschungen bereit. Auf der einen Seite ist klar: Wer sich mit den hier versammelten Beiträgen auseinandergesetzt hat, wird kaum mehr in den Chor jener einstimmen, die Faktoren wie „Medialisierung“, „Ökonomisierung“, „Politisierung“ und „Militarisierung“ als Phänomene eines neuen Humanitarismus nach dem Ende des Kalten Krieges beschreiben. Auf der anderen Seite fällt auf, dass der Band keine Beiträge enthält, die sich systematisch mit eben jener Phase der 1990er-Jahre auseinandersetzen, die aktuell als Strukturbruch des Humanitarismus verhandelt wird. Gerade wenn die Vorstellung vom Jahr 1989 als Wasserscheide zurückzuweisen ist, wird es in Zukunft darauf ankommen, die Strukturmerkmale der Veränderungen seit den 1990er-Jahren differenzierter als bislang zu benennen und historisch einzuordnen.
Anmerkung:
1 Siehe z.B. Michael Barnett, The Empire of Humanity. A History of Humanitarianism, Ithaca 2011; David Rieff, A Bed for the Night. Humanitarianism in Crisis, New York 2002.