Angesichts der so alten neuen Debatten um Flucht und Migration überrascht es nicht, dass kürzlich zwei Studien zur größten Organisation für globales Migrationsmanagement, der International Organization for Migration (IOM), erschienen sind. Es überrascht vielmehr, dass derartige Forschungen so spät einsetzen und darüber hinaus der IOM-Zentrale in Genf lange Zeit eher unangenehm waren. Die wenigen existierenden Studien zur IOM hatten bereits deutliche Kritik an der Verstrickung der Organisation in nicht-humanitäre Migrationsarbeit geäußert. Fabian Georgi und Megan Bradley positionieren sich nun sachlich und kenntnisreich mit ihren neuen Büchern zur Debatte um die IOM, tun dies aber auf ganz unterschiedliche Weise.
Die IOM wurde 1951 gegründet und änderte ihren Namen mehrmals. Als Intergovernmental Committee for European Migration (ICEM) agierte sie von 1952 bis 1980, bevor sie den Fokus auf Europa abschwächte und sich nur noch Intergovernmental Committee for Migration (ICM) nannte. 1989 folgte dann die Umbenennung in International Organization for Migration (IOM). Die Namensänderungen stehen für eine sukzessive geographische und operative Ausdehnung ihrer Tätigkeitsfelder. Nach der Gründung im Jahr 1951 sollte sie als Nachfolgeorganisation der International Refugee Organization (IRO) im Rahmen von Resettlement-Programmen zunächst die in Europa verbliebenen Displaced Persons auf andere Kontinente verteilen. Unter dem dominierenden Einfluss der USA entwickelte sich das ICEM seit den 1950er-Jahren zum geo- und symbolpolitischen Instrument im Kalten Krieg, indem es sich um das Resettlement von Geflüchteten aus kommunistischen Ländern kümmerte. Seit den 1960er-Jahren dehnte das ICEM seine Aktivitäten auf Postkonfliktzonen in dem sich dekolonisierenden Globalen Süden aus; ab den 1980er-Jahren etablierte es Rückkehrerprogramme für Migrant/innen und abgelehnte Asylbewerber/innen aus dem Globalen Norden in den Globalen Süden. Der Globalisierung des operativen Geflüchtetenmanagements folgte eine Diversifizierung der Aufgabengebiete. Ab 1990 monopolisierte die IOM dadurch weite Teile des Geflüchtetenmanagements, übernahm spontan humanitäre Interventionen, überwachte Grenzen, bildete Grenzbeamt/innen aus, sorgte für die Rückführung unerwünschter Migrant/innen, wickelte Flüchtlingscamps ab und errichtete Haftanstalten. Zudem versuchte die Organisation, durch Datensammlungen und Wissensproduktion die Deutungshoheit und Kontrolle über Flüchtlingsströme zu gewinnen.
Als verlängerter Arm der US-amerikanischen Geo- und Migrationspolitik stand das ICEM von Beginn an in Konkurrenz zum United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR), der sich viel stärker einem klaren Mandat der humanitären Flüchtlingskonventionen und dem Schutz von Geflüchteten verpflichtet fühlte. Das ICEM hatte hingegen freie Hand in der Wahl seiner Projekte und konnte von zahlenden Staaten Aufträge annehmen, ohne notwendigerweise humanitäre Verpflichtungen zum Geflüchtetenschutz einzugehen. Mehr als der UNHCR schien das ICEM sich auf rein logistische Operationen zu konzentrieren, ohne deren globalen oder ethischen Sinn zu hinterfragen. Dies brachte der IOM später Kritik von humanitären Organisationen und Aktivist/innen ein, darunter Amnesty International und Human Rights Watch.
Der steile Aufstieg der IOM seit den 1990er-Jahren führte zu einem Wachstum des Budgets auf über eine Milliarde Dollar im neuen Jahrtausend und zur Anstellung von über 10.000 Mitarbeiter/innen, die in hunderten Regionalbüros über die Welt verteilt agieren konnten. In der Euphorie des neuerlichen Erfolgs der IOM geriet die lange Vorgeschichte des ICEM und ICM zwischen 1950 und 1990 fast in Vergessenheit. Eine von der IOM selbst herausgegebene Darstellung der Gesamtgeschichte liegt erst seit 2001 vor1; ansonsten gibt es einige wenige Fallstudien2 und eine Handvoll Memoiren von ehemaligen Mitarbeiter/innen, die aber schwer zugänglich sind.
Vor diesem Hintergrund waren Fabian Georgis und Megan Bradleys Studien zum IOM mehr als nötig. Beide kommen aus der Politikwissenschaft, verfolgen aber auch historische Fragestellungen. Da eine systematische Erschließung ihres Archivs bis heute nicht im Interesse der IOM liegt, wurde es Historiker/innen schwergemacht, die Organisation zu erforschen. Die Geschichtswissenschaft hatte allerdings auch kaum versucht, sich mit der IOM eingehender auseinanderzusetzen. Georgi und Bradley probieren dies nun; sie greifen dabei vor allem auf vorhandene Literatur, Interviews mit Mitarbeiter/innen und die umfangreichen offiziellen Konferenzberichte der IOM-Gremien als Quellen zurück.
Das Fazit der beiden Bücher könnte kaum unterschiedlicher sein. Diese Widersprüche sind aber für die Erforschung der IOM ein Gewinn. Die divergierenden Methoden und theoretischen Ansätze ergänzen sich am Ende zu einem komplementären Gesamtbild. Georgi nutzt die IOM als Sonde, um neoliberale Strukturen der ökonomisch bedingten globalen Ungleichheitsmigration und ihrer politisch-administrativen Bewältigung offenzulegen. Dabei identifiziert er in acht chronologischen Kapiteln ebenso viele historische Phasen der IOM, die er konsequent mithilfe Marx‘scher Gesellschaftsanalyse durchdekliniert und mit postkolonialen Erkenntnissen verfeinert.
In den 1950er-Jahren gab das ICEM vor, die angebliche Überbevölkerung in Europa dadurch zu lösen, dass man Displaced Persons und Südeuropäer/innen in sogenannte „Einwanderungsländer“ wie Australien oder die Staaten Südamerikas umsiedelte. Georgi zeigt, dass in dem Resettlement-Projekt rassistische Praktiken fortlebten, weil etwa Australien ausschließlich als weiß und gesund definierte Einwanderer/innen aufnahm. Im geostrategischen Kampf der 1950er-Jahre diente das ICEM dann den USA als Sicherheitsventil, um die angeblich den Kommunismus fördernde Überbevölkerung in Europa abzubauen und Geflüchtete von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs symbolträchtig willkommen zu heißen. Zur massenhaften Aufnahme von Ostblock-Geflüchteten kam es vor allem nach dem ungarischen Aufstand von 1956, in dessen Folge 200.000 Ungar/innen nach Westeuropa flüchteten und teilweise vom ICEM nach Übersee gebracht wurden. Später verschob sich der Schwerpunkt des ICEM langsam auf Südamerika. Dort bildeten sich aufgrund der ungleichen Arbeitsverhältnisse revolutionäre Regierungen, die auch den globalen Klassenkampf forderten. Neben militärischen und geheimdienstlichen Versuchen seitens der USA, Linksregierungen in Lateinamerika zu beseitigen, versuchte das ICEM zur Revolutionsprävention den Lebensstandard der unteren Klassen zu heben. Die Organisation wollte durch sogenannte „Return-of-Skills“-Programme dazu beitragen, dass Fachkräfte zur wirtschaftlichen Entwicklung nach Lateinamerika zurückkehrten. Seit den 1960er-Jahren baute das ICEM solche Rückkehrerprogramme für Fachkräfte weltweit aus. Die Wirtschaftskrise von 1973 brachte das ICEM an den Rand des Ruins, aber sein Fortbestehen und seine Legitimation hatten schon zuvor immer in Frage gestanden. Die Organisation des Resettlements von Geflüchteten aus Asien nach dem Ende des Vietnamkrieges kam dem ICEM deshalb gelegen und eröffnete der Organisation ein neues Aktionsfeld.
Seit den 1970er-Jahren, so Georgi, brachten zudem Verschuldung, Strukturanpassungsprogramme und westliche Überakkumulation die Länder des Globalen Südens in finanzielle Abhängigkeit vom Norden. Bewohner/innen des verschuldeten Globalen Südens suchten Arbeit im Globalen Norden. Auch darum richtete sich das Interesse des ICM in den 1980er-Jahren wieder stärker auf Europa. Angesichts der dort steigenden Fremdenfeindlichkeit bot sich das ICM an, irreguläre Migrant/innen in den Globalen Süden zu „repatriieren“. Obwohl die Teilnahme an den Rückkehrprogrammen des ICM freiwillig war, mussten abgelehnte Asylbewerber/innen sie oft annehmen, um nicht mit Gewalt abgeschoben zu werden. Seit den 1980er-Jahren entwickelte sich ICM/IOM zum Spezialisten für „Voluntary Assisted Return“-Programme, bei denen Migrant/innen allerdings nie so „freiwillig“ mitmachten, wie es die IOM vorgab.
Die 1990er-Jahre waren laut Georgi dann von einer Neoliberalisierung der IOM geprägt, die intern mit einer Prekarisierung der Mitarbeiter/innen begann und sich extern in Projektarbeit, Outsourcing, aggressiver Marktexpansion und monopolistischer Auftragsakquise niederschlug. Bei Georgi ist zu lesen, dass die IOM durch diese interne und externe Neoliberalisierung „leaner and meaner“ wurde (S. 247). Seit Ende der 1990er-Jahre nahm die Organisation praktisch alle Aufträge an, die sich irgendwie verwerten ließen. Sie reichten von der spendenbasierten Katastrophenhilfe über den Bau von Infrastruktur für die Grenzüberwachung bis zur Ausbildung von Migrationsverhinderungsexperten. Die IOM, so Georgi, folgte nun den von Marx beschriebenen „Zwangsgesetzen der Konkurrenz“ (S. 228 und öfter). Aufgrund ihrer Gewinn- und Wettbewerbsorientierung eignet sich die IOM tatsächlich besser als zum Beispiel der UNHCR, um das internationale Migrationsmanagement als Ausdruck von ökonomischen Bedingungen und neoliberalen Politiken zu fassen. Georgi tut dies mithilfe von Marx‘schen und strukturgeschichtlichen Ansätzen. In seinem Buch wird nicht immer klar, ob er nun die IOM beschreibt, um Marx zu erklären, oder Marx heranzieht, um die IOM besser zu verstehen. Wie dem auch sei – Georgis stringenter Ansatz führt zur spannenden Einbettung der IOM in das ökonomisch bedingte globale Migrationsregime. Prägende Kräfte sind für den Autor die „Strukturdynamiken von Arbeitskraftpolitik, Klassenregulation, Geopolitik und Rassismus […] und zugleich […] die eigensinnigen Bewegungen der Migration sowie die Eigendynamiken ihrer Bürokratie“ (S. 179).
Die Einlösung des historischen Anspruchs gelingt Georgi um einiges besser als Bradley, deren Studie eher als gegenwartsorientiertes und handlungsleitendes Essay gedacht ist. Ihr Untersuchungszeitraum beschränkt sich weitgehend auf die 1990er- und 2000er-Jahre. Im Gegensatz zu Georgis Gesamtschau auf die Geschichte der IOM stellt Bradley eine konkrete, problemorientierte Frage: Was war (und ist) humanitär an der IOM? Sie antwortet damit auf anhaltende Kritik, die IOM missachte bis heute humanitäre Standards und verleugne das Recht der Migrant/innen auf Schutz durch die Internationale Gemeinschaft. Tatsächlich standen humanitäre Ziele und der Schutz von Migrant/innenrechten bis Anfang des neuen Jahrtausends nicht in den Satzungen der IOM. Bradleys Fazit lautet jedoch, dass die IOM sehr wohl auch humanitäre Absichten hatte, die allerdings eher in der Praxis als in der Theorie zum Tragen kamen. Dabei schaut sie eben nicht auf größere Strukturen, sondern untersucht zwei konkrete Einzelfälle, nämlich die humanitären Interventionen der IOM in Haiti nach dem Erdbeben von 2010 und in Libyen nach der Revolution von 2011. Sie verweist auf das Verhalten der Mitarbeiter/innen des IOM in solchen komplexen Situationen und schließt daraus: „[…] it must be recognized that many within IOM actively want their organization to live up to its professed standards“ (S. 70).
Da Bradley sich stark an der Selbstsicht von Mitarbeiter/innen orientiert, anstatt wie Georgi im Archiv dem strukturellen Selbstverständnis der Institution auf die Schliche zu kommen, verwundert dieses Fazit wenig. Bradley zufolge wurden zwar Fehler gemacht, etwa die verfrühte Räumung von Flüchtlingslagern in Haiti, ohne dass neuer Wohnraum vorhanden gewesen wäre. Aber solche Probleme ergäben sich eben in der humanitären Praxis. Zur Untermauerung ihrer These bemüht Bradley auch Vergleiche der IOM mit anderen Flüchtlingsorganisationen. So war zum Beispiel das 1949 gegründete UNRWA-Programm (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East) „originally mandated only to assist, and not officially to protect, the world’s most longstanding refugee population“. Erst 1982 nahm sich UNRWA explizit des Flüchtlingsschutzes an, so wie es dann auch die IOM tat. Ähnlich wie beim IOM hätten auch die Aktivitäten des UNHCR „their own protection failures and moral fiascos“ (S. 24). Und schließlich habe die IOM zwischen 1952 und 1973 schon gemeinsame humanitäre Projekte mit der UNO verfolgt, die zu Vorläufern einer engeren humanitären Kooperation ab 2016 geworden seien. Ob diese Argumente überzeugen oder nicht, sei dahingestellt. Georgi jedenfalls stimmt mit Bradley überein, wenn er für die Zeit ab 2009 eine „Verschiebung des Diskurses“ in der IOM hin zu humanitären und linksliberalen Zielsetzungen erkennt. Ein langfristigeres Argument in Bradleys Plädoyer für den IOM-Humanitarismus ist hingegen, dass die Organisation noch nie einen Unterschied zwischen hilfswürdigen Geflüchteten und hilfsunwürdigen Wirtschaftsmigrant/innen gemacht habe. Die IOM habe schon immer einen sehr breiten Begriff von Migrant/innen bevorzugt und allen „migrants in crisis“ zu helfen versucht. Zwar habe die IOM, wie Bradley zugibt, auch Krisen herbeigeredet, um mehr Aufträge zu bekommen. Dieser wettbewerbsbedingte „crisis talk“ habe aber letztendlich Menschen in Not Aufmerksamkeit und Hilfe verschafft, die sie ohne die IOM nicht bekommen hätten. Hinsichtlich der strategischen Auftragsakquise nähert sich Bradley schließlich doch der These Georgis über den neoliberalen „Zwang zur Konkurrenz“ an, argumentiert aber, dass daraus eben auch Vorteile für Migrant/innen entstanden seien. Schließlich ergänzten sich auch der humanitäre Anspruch des UNHCR und die Praxiserfahrung im Migrationsmanagement der IOM ganz gut, sodass beide Organisationen heute problemlos kooperierten.
Trotz oder gerade wegen der unterschiedlichen Stoßrichtungen lassen sich beide Bücher mit großem Gewinn parallel lesen. Während Fabian Georgi die langfristigen historischen Strukturen der IOM darlegt, liefert Megan Bradley aktuelle Mikrostudien zur Arbeit der IOM vor Ort. Historiker/innen sollten nun hier einsetzen und diese Herangehensweisen kombinieren, um eine Geschichte der IOM „von unten“ zu schreiben.3 Denn was beiden Werken fehlt, sind die Stimmen der Millionen von Migrant/innen, welche die IOM im 20. und 21. Jahrhundert betreut hat. Auf den fast 600 Seiten der beiden Bücher findet sich keine einzige dieser Stimmen. Um migrantische Perspektiven zu Gehör zu bringen, könnte auch die IOM selbst behilflich sein und ihre Archive komplett den Forscher/innen zugänglich machen.
Anmerkungen:
1 Marianne Ducasse-Rogier, The International Organization for Migration, 1951–2001, Genf 2001.
2 Siehe u. a. Martin Geiger / Antoine Pécoud (Hrsg.), The Politics of International Migration Management, Basingstoke 2010; Jérôme Elie, The Historical Roots of Cooperation Between the UN High Commissioner for Refugees and the International Organization for Migration, in: Global Governance 16 (2010), S. 345–360.
3 Voraussichtlich 2021 erscheint die Dissertation von Inken Bartels in Buchform, die mit einer soziologisch-ethnographischen Herangehensweise auch migrantische Perspektiven auf die Arbeit der IOM in Marokko und Tunesien untersucht.