Das opulente, knapp 800 Seiten umfassende Werk des im norwegischen Bergen lehrenden Religionswissenschaftlers Michael Stausberg ist ein Buch, das sich auf eine erstaunliche Weise einerseits als hochgelehrt, andererseits in der methodischen Grundlegung als ausgesprochen opak präsentiert. Dementsprechend lässt es die Leserin und den Leser ebenso beeindruckt wie verwirrt zurück.
In einer imponierenden Fülle und globalen Breite werden in 47 Kapiteln „Heilsbringer“ des 20. Jahrhunderts vorgestellt, ihre Biografien und ihr herausragendes Wirken, in den meisten Fällen auch ihre Spektakularität. Nach Stausberg waren sie alle „Religionsmacher“ (S. 31) im weitesten Sinne (vereinzelt sind „Macherinnen“ dabei). Was aber „Religionsmacher“ im Konkreten bedeutet, bleibt offen. In der Einleitung des Opus und stellenweise in den biografischen Porträts ist die Rede davon, es handle sich um nicht nur religiöse, sondern auch „religionsrelevante“ Persönlichkeiten (S. 30); in die Betrachtung würden „auch die Interpretationen und Begründungen menschlichen Handelns mit religiösen Kategorien“ einfließen (S. 258). Im Buch changieren zahlreiche Synonyme für „Religion“, unter anderem „Glaubenssystem“, „Weltanschauung“, „religiöse Denkstruktur“ – ohne dass klar wäre, warum diese Bewegung eine „religiöse Bewegung“ ist, jene aber nur in ihrem „Glaubensgebäude“ dargestellt wird oder bei dem nächsten Phänomen eine „religiöse Denkstruktur“ auszumachen ist. Durchgängig ist das Bemühen spürbar, eine Definition von Religion geradezu zu vermeiden, statt sich ihr zu nähern, was in einer „Globalgeschichte der Religionen“ (so der Untertitel des Buches) ein intellektuell akrobatisches Unterfangen darstellt. Hier scheint ein Dilemma der Religionswissenschaft auf, die in dem Bemühen darum, mit einer Definition von Religion nicht in die Nähe normativ-bewertender Aussagen zu kommen, nicht nur Selbstzuweisungen von Religionen aus dem Blick verliert, sondern eine eigene fachliche Normativität aufbaut, deren problematische Seite der Verzicht auf die Definition ihres Sujets ist.
Stausberg betont durchaus immer wieder die Schwierigkeiten einer Definition von Religion (bemerkenswerterweise wird dieses Themenfeld ausführlich im Zusammenhang mit Scientology erörtert, allerdings auch hier mit offenem Schluss) und in der Einleitung finden sich Erläuterungen zu einer ganzen Reihe von Stausberg selbst eingeräumter „gravierende[r] Schieflage[n]“ (S. 32) seiner Darstellung, weil diese Personen nicht aufgenommen wurden oder jene religiösen Gemeinschaften nicht angemessen vertreten sind. All das zeigt den profilierten Blick des Verfassers für Einzelaspekte im Zusammenhang mit dem Thema. Das Problem aber, das bis zum Schluss – wo es noch einmal angesprochen wird – ungeklärt bleibt, ist die offene Frage, was die den roten Faden des gesamten Buches darstellende „Religion“ eigentlich oder auch uneigentlich ist. So entsteht der Eindruck einer Fata Morgana, die von Ferne real zu sehen ist und sich beim Näherkommen auflöst. Das verursacht ein Unbehagen an dem hervorragend zu lesenden Werk, das im Hinblick auf die Darstellung der globalen Vernetzungen religiösen oder religionsaffinen weltanschaulichen Denkens originär sowie in den Details ausgesprochen kenntnisreich ist.
In logischer Folge erweist sich die fehlende Begriffsbestimmung als Eingangstor zu einer bunten, schillernden und nahezu unbegrenzten Welt, in der „Religion gemacht“ wird und in der es von Personen wimmelt, die die Welt in irgendeiner Form befreien, erretten oder erlösen wollten. Der umgangssprachliche Begriff „Heilsbringer“ ist insofern wohl tatsächlich derjenige, der für dieses Konglomerat von „Religionsmachern“ am angemessensten ist – freilich ohne dabei auf die religionswissenschaftlichen Diskussionen um „das Heilige“ einzugehen.
Und so finden sich in trauter Einheit zwischen den beiden Buchdeckeln, beginnend mit der im Allgemeinen wenig bekannten „Entdeckerin“ der „Christian Science“ Mary Baker Eddy und dem Native American Quanah Parker, der die Peyote-Zeremonien der Comanche entwickelte, sowohl Repräsentanten herkömmlichen religiösen Denkens und Glaubens wie die katholischen und evangelischen Theologen Alfred Loisy, Gustavo Gutiérrez, Karl Barth und Paul Tillich, der Entwickler des Zen-Buddhismus Daisetz Teitaro Suzuki oder der erste Verfechter einer Achtsamkeitslehre im Buddhismus Thich Nhat Hanh, jüdische Rabbiner und Gelehrte wie Solomon Schechter und Mordechai Kaplan oder die Begründer bzw. Förderer der Muslim-Bruderschaft Hasan al-Banna und Syyid Qutb neben „Religionsmachern“ des 20. Jahrhunderts wie Bhagwan Shree Rajneesh oder L. Ron Hubbard als Gründungsvater von Scientology. Zur Sprache kommen Leben und Wirken hinduistischer Gurus wie Anandamayi Ma und Sathya Sai Baba; vorgestellt werden die Theosophin Annie Besant und der Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner. C.G. Jung tritt als Psychologe und Entdecker der „Archetypen“ in Erscheinung. Es fehlen weder Sozialreformer wie Bhimrao Ambedkar oder Martin Luther King noch mordende Endzeitprediger wie Jim Jones, David Koresh oder Asahara Shoku. Ein Teil der biografischen Darstellungen gilt Künstlern: die Beatles und Bob Marley, Lew Tolstoi und Paulo Coelho, Stanley Kubrick und Steven Spielberg. Der enge Zusammenhang von Politik und Religion im Personenkult und/oder in der Vernichtung konkurrierender Religionssysteme wird unter anderem bei Mao Zedong oder Ruhollah Musavi Chomeini deutlich. Auffälligerweise fehlt in der Sammlung ein weiterer „Religionsmacher“ in eigener Sache und einer der prominentesten Religionsverfolger des 20. Jahrhunderts: Josef Stalin. Überväter von Religionsgemeinschaften wie Johannes Paul II. oder der 14. Dalai Lama kommen ebenso vor wie die selbsternannten Kreuzzugssoldaten Billy Graham, Benny Hinn und Reinhard Bonnke oder Osama bin Laden. Als Vertreter einer „Religion des Sports“ wird der Erneuerer der Idee der Olympischen Spiele Pierre de Coubertin präsentiert, als Repräsentantin des Atheismus Madalyn Murray O’Hair, die Gründerin der „United World Atheists“ – sowie einer eigenen Gegenkirche, der „Poor Richard’s Universal Life Church“. Die Spannbreite der Protagonistinnen und Protagonisten ist enorm – und mit der obigen Aufzählung nicht erschöpft. Mitunter kommt beim Lesen leichter Schwindel ob des atemberaubenden Parcours auf: Jeweils nur ein paar Kapitel trennen Theodor Herzl und Adolf Hitler oder den Sex-„Magicker“ Aleister Crowley und Mutter Teresa.
Aber es ist gerade dieser Zusammenschluss völliger Gegensätze, der das Lesevergnügen erhöht – und die Fülle beschriebener Netzwerke, Verbindungen und sich kreuzender Lebenswege betont. Nicht in jedem Kapitel erfolgt die Schilderung nur eines Lebenslaufs und einer Wirkungsgeschichte. Mitunter sind zwei Personen und mehr in ihren jeweiligen gegenseitigen Beeinflussungen oder der Zusammenarbeit dargestellt oder es werden ganze Religionsgruppen bzw. religiöse Strömungen in einer Biografie mit verhandelt. So wird im Kapitel zu Crowley die Wicca-Bewegung kurz umrissen, in demjenigen zu Hitler das Neuheidentum, in dem zu C.S. Lewis und J.R.R. Tolkien die auf „Star Wars“ basierende Jedi-Religion, um nur einige zu nennen. Das Reservoir menschlicher Kreativität beim „Religion-Machen“ scheint unerschöpflich zu sein.
Am Schluss nimmt Stausberg noch einmal die Eingangsfrage nach „Religion“ auf – unter dem Motto „Religion ist auch nicht mehr, was sie einmal war“ (S. 667) – und resümiert zu seinem breiten Panorama: „Die Vorstellung von einem einigermaßen stabilen Gegenstandsbereich von Religion ist eine Chimäre. [...] Die Überschreitung der Grenzen eines herkömmlichen Religionsverständnisses können [sic] als ein roter Faden durch beinahe alle Kapitel verfolgt werden.“ (S. 672) Wie das „herkömmliche Religionsverständnis“ aussieht, gegen das er sich absetzt, umreißt Stausberg gelegentlich: Es sei christlich geprägt, setze individuellen Glauben voraus, ziele auf jenseitige Erlösung, sei Privatsache und werde an klar erkennbaren Stätten ausgeübt (S. 672); es gründe auf Offenbarung, Supranaturalismus, Kosmogonie, Irrationalität, Eschatologie und Erlösung (S. 293). All das will das Religionskonzept Stausbergs nicht sein. Es bleiben die spannenden Fragen, in welcher Hinsicht sich dieses offene Verständnis von Religion wiederum von Kultur, Politik, Philosophie, Ideologie abgrenzt und ob Religion wirklich nur das ist, was übrigbleibt, wenn alles andere gestrichen wurde. Aber auch ohne dass man weiß, worüber in der „Globalgeschichte der Religionen“ eigentlich geschrieben wird – oder vielleicht gerade deshalb –, ist das Buch ausgesprochen unterhaltsam.