J. Happel u.a. (Hrsg.): Osteuropa kartiert – Mapping Eastern Europe

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Title
Osteuropa kartiert – Mapping Eastern Europe.


Editor(s)
Happel, Jörn; Jovanović, Mira; von Werdt, Christophe
Series
Osteuropa 3
Published
Münster 2010: LIT Verlag
Extent
364 S.
Price
€ 43,90
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Jan Musekamp, Department of Germanic Studies, College of Liberal Arts, University of Texas at Austin

Karten stellen nicht nur wichtige Hilfsmittel der Geschichtswissenschaft dar, sondern sie sind selbst zu hinterfragende Quellen, die über den Entwicklungsstand der Kartographie und des geographischen Wissens sowie über das Weltbild und die politischen Absichten ihrer Autoren und Auftraggeber Auskunft geben können. Das große Verdienst des vorliegenden Sammelbandes besteht darin, dieser Problematik mit einem interdisziplinären Ansatz nachzugehen und die Bedeutung von Kartographie und Karten für Wissenschaft und Politik im östlichen Europa zu analysieren. Der zeitliche und räumliche Bogen der sechzehn Beiträge wird dabei sehr weit gespannt: Er reicht von den ersten Karten zum Moskauer Reich bis in die Gegenwart und von den früheren deutschen Ostgebieten bis nach Sibirien. Thematisch werden sowohl die Entwicklung der Kartographie, die politische Relevanz von Karten als auch die Ausbildung von „mental maps“ behandelt.1

Im Kapitel „Kartenpläne“ richtet Frithjof Benjamin Schenk das Augenmerk auf die „Neuvermessung des Russländischen Reiches im Eisenbahnzeitalter“. Er arbeitet die Diskussionen um die Einführung der Eisenbahn und die Planung eines Streckennetzes zwischen 1830 und 1860 heraus. Neben den ökonomischen Argumenten einer Vernetzung der Wirtschaftsräume des riesigen Reiches sprachen insbesondere militärstrategische Überlegungen für den Ausbau.2 Anton Kotenko analysiert die mentale Konstruktion eines „ukrainischen nationalen Raumes“ zwischen 1860 und 1870. Es sei ukrainischen Intellektuellen gelungen, aus den unscharfen Bezeichnungen für das von ethnischen Ukrainern bewohnte Territorium den Begriff einer modernen Nation zu formen. Jörn Happel wendet sich dem Ersten Weltkrieg zu. Ausgehend von einer Russlandkarte des Auswärtigen Amtes analysiert er die „deutschen Sabotageträume“ in Russland. Ein weltweit agierendes deutsches Agentennetz und vom Deutschen Reich bezahlte Saboteure sollten dabei – im Allgemeinen erfolglos – wichtige Brücken der Transsibirischen Eisenbahn zerstören, um den Nachschub an Kriegsmaterial aus Japan und den USA zu unterbrechen.

Lutz Häfners Beitrag zu „Wandel und Funktion der russlandbezogenen Kartographie vom Moskauer Reich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts“ steht am Anfang des Kapitels „Kartengrenzen“. Er legt dar, dass das antike Bild einer Grenze Europas am Don bis in die frühe Neuzeit Bestand hatte und erst ab dem Beginn des 18. Jahrhunderts zunehmend einer Vorstellung Platz machte, die für den Ural als europäisch-asiatische Grenze eintrat. Christophe von Werdt veranschaulicht die kartographische Wahrnehmung Russlands durch das westliche Europa anhand der in der Schweizerischen Osteuropabibliothek angesiedelten Sammlung „Rossica Europeana“. So stellte der Krakauer Humanist Maciej z Miechowa3 noch vor dem bekannteren Sigismund von Herberstein bereits 1517 mit seinem „Tractat von baiden Sarmatien“ das alte ptolemäische Weltbild dieser Region in Frage. Annina Cavelti führt eine vergleichende Analyse der auf den Berichten von Sigismund von Herberstein und Anthony Jenkins aufbauenden Karten durch. Beide hatten im 16. Jahrhundert das Großfürstentum bereist – Herberstein mit politischem Auftrag als habsburgischer Diplomat, Jenkins als Vertreter der Handelsgesellschaft „Muscovy Company“. Bei beiden diagnostiziert die Autorin ein Gefühl „der Überlegenheit ihrer westlichen Kultur“ (S. 147). Der letzte Beitrag dieses Kapitels stammt von Kristina Küntzel-Witt und hat die russischen Entdeckungen im Pazifik sowie eine Kontroverse über das geographische Ausmaß Sibiriens im 18. Jahrhundert zum Thema. Sie kann zeigen, dass sich hier das Überlegenheitsgefühl des Westens mit Ängsten „vor den riesigen Dimensionen des Russländischen Imperiums“ paarte (S. 171).

Das Kapitel „Karten, Grenzen, Ethnien“ leiten Peter Jordans exzellente Überlegungen zu Methodik und Objektivität von ethnolinguistischen Karten ein. Die Materialbasis solcher Karten hat zum einen die Filter der eigenen subjektiven Einschätzung bei Volkszählungen und der seitens der Behörden gewählten Methode durchlaufen. Zum anderen ist aber auch die Methodik der kartographischen Darstellung für eine mehr oder weniger objektive Darstellung von Bedeutung. Prominentes Beispiel ist die auch heute noch häufige Anwendung farblicher Flächen für deutschsprachige Siedlungen im östlichen Europa, ungeachtet ihrer Verschränkung mit anderssprachlichen Siedlungen. Hierauf bauen die folgenden Beiträge von Franz Sz. Horváth und Róbert Keményfi auf, die die Verwendung von Karten „im Dienst des ungarischen nationalen Raums“ (S. 201) untersuchen. Sie verweisen dabei insbesondere auf das im Vorfeld der Friedensverhandlungen von Trianon unter Mitwirkung des ungarischen Kartographen und mehrmaligen Premiers Pál Teleki entstandene Kartenwerk und auf den Atlas von Mitteleuropa (1945) von dessen Schüler András Rónai. Ausgehend von einer „vermeintlichen Natürlichkeit der bis dahin bestehenden Karpatengrenzen Ungarns“ (S. 196) versuchte Ungarn so bis 1945, die Ungerechtigkeit der in Trianon festgelegten Grenzen mit ethnolinguistischen, naturräumlichen und wirtschaftsgeographischen Karten zu beweisen. Der anschließende Beitrag von Tomasz Kamusella widmet sich der Rolle von historischen Schulatlanten für den seit dem 19. Jahrhundert an Bedeutung gewinnenden ethnolinguistischen Nationalismus.4 Eine besondere Rolle kam dabei den Karten in Putzgers historischem Weltatlas zu, der seit 1877 erscheint und dessen fremdsprachige Auflagen ihre Wirkung auf die nationalen Bewegungen in Deutschlands östlichen Nachbarländern entfalteten.

Jörg Stadelbauer führt mit einem Kommentar zu Kartenkonstruktionen nach 1945 in das Kapitel „Kartenpolitik“ ein. Tobias Wegers Beitrag zum „Deutschen Osten“ im Kartenbild dekonstruiert dessen Präsentation als zusammenhängenden Kulturraum. Er verweist dabei auf die Darstellung deutscher Minderheiten im Osten, die auch nach dem Zweiten Weltkrieg häufig eine vereinfachte Vorstellung von den komplizierten und von Interaktion geprägten Lebenswelten im östlichen Europa vermitteln.5 Antje Kempe befasst sich mit polnischen Karten unmittelbar nach 1945, die der Untermauerung des Anspruchs auf die neuen polnischen Gebiete dienen sollten und insbesondere auf Propagandaplakaten zum Einsatz kamen. Christian Lotz analysiert schließlich die Darstellung der deutschen Ostgrenze von 1937 in bundesdeutschen Werbematerialien für den internationalen Tourismusmarkt. Nicht nur aufgrund polnischer Proteste wurden diese Broschüren 1969 verändert.

Im fünften Kapitel „Kartenpoesie“ untersucht Daniel Hensler die poetische Wiederaneignung Krakaus durch den bekannten polnischen Dichter Adam Zagajewski, der nach 20 Jahren im Exil 2002 nach Polen zurückkehrte. Er erkennt eine „literarische Rückeroberung Krakaus“, die in Form einer „räumliche[n] Vergegenwärtigung“ abläuft (S. 311). Gerade dieser letzte Beitrag macht die Bedeutung von „mental maps“ und deren Wandlungen deutlich.

Den Herausgebern ist für ihren Mut zum interdisziplinären Ansatz zu danken. Der große Verdienst dieses Bandes liegt in der gelungenen Zusammenführung von Forschungsergebnissen aus Geographie, Historiographie, Kartographie und Literatur. So gelingt es den Autoren, die Kartierung Osteuropas von unterschiedlichsten Seiten aus zu beleuchten und als Ganzes zu fassen. Die Verschränkung der Disziplinen zeigt, wie in der Zukunft innovative, interdisziplinär angelegte Sammelbände aussehen können.

Nur wenig gibt es an diesem exzellenten Sammelband zu bemängeln. So wäre jeweils ein übergreifender, einführender Artikel auch in die beiden ersten Kapitel sinnvoll gewesen. Besonders sticht dieser Mangel an übergreifender, auch theoretischer Einführung im Kapitel „Kartengrenzen“ hervor: Sowohl der Beitrag von Lutz Häfner als auch derjenige von Annina Cavelti enthalten wichtige theoretische Überlegungen zum Thema, die sinnvoll in einer Einleitung hätten gebündelt werden können. Zu nennen sind hier insbesondere die Entwicklung der Kartographie, die Problematik von Karten als Quelle, ihre Subjektivität sowie die Konstruktion von Räumen. Auffällig sind darüber hinaus mehrfache Redundanzen, denen man durch häufigere Querverweise zwischen den Kapiteln hätte abhelfen können. Schließlich stellt sich die Frage, warum es nicht möglich war, neben dem sehr brauchbaren Literaturverzeichnis und dem umfangreichen Kartenmaterial nicht auch ein Personenverzeichnis beizufügen, um die Nutzerfreundlichkeit des an Kartographen, Chronisten, Reisenden und Politikern reichen Bandes zu erhöhen.

Anmerkungen:
1 Vgl. das Standardwerk des im Sammelband mehrfach zitierten Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003.
2 Vgl. Klaus-Jürgen Bremm, Von der Chaussee zur Schiene. Militärstrategie und Eisenbahnen in Preußen von 1833 bis zum Feldzug von 1866, München 2005.
3 Lesefreundlicher wäre es gewesen, statt des polnischen Namens die weiter verbreitete deutsch-lateinische Entsprechung „Matthaeus von Miechow“ zu verwenden, zumal dann auch auf den stilistisch unglücklichen Verweis auf Miechow als „der Pole“ hätte verzichtet werden können.
4 Zur Problematik der im Schulunterricht verwendeten Materialien für die Eigen- und Fremdwahrnehmung sei hier ergänzend auf die Publikationen des renommierten Georg- Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig verwiesen.
5 Allerdings ist dem Autor nicht zuzustimmen, wenn er den Titel von Gregor Thums Sammelband als Verharmlosung des „Deutschen Ostens“ interpretiert: Gregor Thum (Hrsg.), Traumland Osten. Deutsche Bilder vom östlichen Europa im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006.

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25.05.2011
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