Postkoloniale Studien thematisieren die vielfältigen Facetten unserer nachkolonialen Gegenwart. Zentral für dieses dynamische und relativ junge Forschungsfeld ist die Grundannahme, dass koloniale Denkmuster und Strukturen noch Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte nach dem formalen Ende des Kolonialismus nachwirken – und zwar in den ehemaligen Kolonien ebenso wie in den ehemaligen Kolonialstaaten. Zu den Effekten dieser Nachwirkungen zählen vielfältige historisch gewachsene globale Verflechtungen, die sich in der Gesellschaft (Politik, Wirtschaft, Medien etc.) ebenso niederschlagen wie im Alltag und im Selbstverständnis von Individuen. Viele dieser Effekte werden im Rahmen postkolonialer Studien als Probleme beschrieben und entsprechend kritisiert. Das Spektrum dieser Probleme reicht von eurozentrischen sowie rassistischen Wissensformen und Raumordnungen über ungerechte globale Wirtschaftsbeziehungen und (neo-)imperiale Politikformen bis hin zu Demokratiedefiziten, Korruption und schwacher Staatlichkeit; ferner werden unter dem Dach der postkolonialen Studien Themen wie Migration, Repräsentation, Identität, Geschlecht, Unterdrückung, Sklaverei und Widerstand behandelt.
Angesichts dieses Themen- und Problemspektrums ist es fast verwunderlich, dass sich die inzwischen transdisziplinär organisierten Postkolonialen Studien akademisch zunächst vor allem in den Literatur- und Kulturwissenschaften etablieren konnten. Gesellschaftspolitische Fragen spielten dort von Anbeginn eine tragende Rolle, und viele der in diesen Fächern tätigen Vertreter/innen Postkolonialer Studien zeigen bis heute ein ausgeprägtes Interesse an klassisch sozialwissenschaftlichen Themen wie ökonomischen Beziehungen oder Fragen von Staatlichkeit, Recht und zivilgesellschaftlicher Macht. Diese Auseinandersetzung literatur- und kulturwissenschaftlich geschulter Vertreter/innen postkolonialer Studien mit Anliegen aus dem etablierten Themenspektrum der Gesellschaftswissenschaften findet dort seit einigen Jahren Widerhall. Neben den Geschichtswissenschaften und der Ethnologie wenden sich zunehmend auch Vertreter/innen der Soziologie, Politikwissenschaft und Geographie postkolonialen Ansätzen zu.
Zentrales Ziel der interdisziplinären Konferenz „Postkoloniale Gesellschaftswissenschaften. Eine Zwischenbilanz“ ist eine Bestandsaufnahme des aktuellen Diskussionsstandes der gesellschaftswissenschaftlichen Zweige der postkolonialen Studien im deutschsprachigen Raum, insbesondere aus der Geschichtswissenschaft, der Ethnologie/Anthropologie, der Politikwissenschaft, der Soziologie und der Geographie. Dabei geht es zunächst darum, Implikationen postkolonialer Konstellationen im Lichte der jeweiligen Disziplinen und ihres Forschungsstandes zu reflektieren.
Darüber hinaus zielt die Konferenz darauf ab, die Gesellschaftswissenschaften auch mit kunst-, literatur- und kulturwissenschaftlichen sowie mit außerakademischen Thematisierungen postkolonialer Perspektiven ins Gespräch zu bringen. Schließlich möchten wir ein Forum bieten, auf dem konkrete Einzelprojekte vorgestellt und diskutiert werden können. Dabei soll deutlich werden, wie in den einzelnen Disziplinen mit postkolonialen Ansätzen gearbeitet wird und wie es, darauf aufbauend, um die Übersetzbarkeit von disziplinären Begriffen und Konzepten von einem Feld in ein anderes bestellt ist.
Zu diesem Zweck laden wir zur Einsendung von Skizzen gesellschaftswissenschaftlich ausgerichteter Vorträge ein, in denen Kernfragen einschlägiger Forschungsarbeiten thematisiert und diskutiert werden. Die Vorschläge können sich auf theoretische oder auf empirische Projekte aus allen Disziplinen beziehen. Bitte senden Sie einen kurzen Entwurf (max. eine Seite) sowie knappe Angaben zu Ihrer Person bis zum 31. Oktober 2010 an: postkolonial@web.de