Ränder der Moderne: Neue Perspektiven auf die Europäische Geschichte (1850-1950)

Ränder der Moderne: Neue Perspektiven auf die Europäische Geschichte (1850-1950)

Organizer
Christof Dejung, Konstanz; Martin Lengwiler, Basel
Venue
Wildt'sches Haus, Petersplatz 13
Location
Basel
Country
Switzerland
From - Until
19.04.2012 - 20.04.2012
Website
By
Christof Dejung, Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz,

Europa wurde im 19. Jahrhundert zum Inbegriff von Zivilisation, Fortschritt und Modernität. Die Europäische Geschichte hat diese Begriffe meist mit der Entwicklung der Metropolen der grossen Nationen Westeuropas verknüpft. Die Tagung möchte diese Entwicklungslinien und Deutungsmuster aus der Perspektive der Peripherie süd-, nord- oder osteuropäischer Staaten, aber auch aus derjenigen der Peripherien innerhalb von westeuropäischen Ländern untersuchen. Zudem sollen die Verbindungen zwischen Europa und der kolonialen Welt in den Blick genommmen und die damit verbundenen europahistorischen Narrative einer kritischen Revision unterzogen werden. Auf welche realen Räume werden Modernität und Fortschritt bezogen und von welchen anderen Räumen grenzen sich diese Begriffe ab? Die Tagung verfolgt einen kultur- und wissenshistorischen Zugang, der die Wahrnehmungs- und Deutungsprozesse gesellschaftlichen Wandels ins Blickfeld rückt.

Dipesh Chakrabarty hat in seinem Essay „Europa provinzialisieren“ die These aufgestellt, dass die Europäer im 19. Jahrhundert den Diskurs einen „hyperrealen Europas“ entwickelt hätten, um mit diesem die Kolonialherrschaft und die zivilisatorische Überlegenheit des Westens über den Rest der Welt zu legitimieren. Wir gehen davon aus, dass ähnliche Phänomene auch innerhalb Europas stattfanden. Etwa, indem die Fortschrittlichkeit bestimmter metropoler Regionen innerhalb eines Nationalstaates der angeblichen Rückständigkeit von Randregionen und Provinzen gegenübergestellt wurde, oder indem die Modernität eines geographischen Raumes wie Westeuropa der sozioökonomischen, vormodernen Rückständigkeit von ost- oder südeuropäischen Räumen entgegengehalten wurde.

Zu untersuchen ist, wie weit diese Verräumlichung von Modernitäts- und Fortschrittsdiskursen mit der Formierung bestimmter sozialer Beziehungen und Herrschaftsverhältnisse verbunden war. Daran schliesst sich das theoretische Anliegen an, Zeit und Raum als relationale Kategorien zu verstehen, wie dies etwa von Johannes Fabian und Karl Schlögl vorgeschlagen wurde. Wenn bestimmten Räumen das Prädikat „fortschrittlich“ oder „rückständig“ verliehen wird, dann werden sie an einem bestimmten Punkt auf einer linearen Zeitachse verortet. Zugleich weisen bestimmte Arten der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung wie das Modernisierungsparadigma oder die Säkularisierungsthese implizit einen Raumbezug auf (etwa durch die Polarisierung von industrialisierten protestantischen Regionen und rückständigen katholischen Gebiete; oder durch die Gegenüberstellung westlicher Rationalität und eines orientalischen Mystizismus). Räumliche Verhältnisse spielen auch für Transferprozesse von Wissensbeständen und Gütern eine Rolle – etwa, indem Kolonien als „Laboratorien der Moderne“ in den Blick genommen werden.

Indem die Tagung Raum als variable und relationale Kategorie auffasst, soll ein Zugang verfolgt werden, bei dem nicht automatisch Nationen als räumliche Referenzen dienen. Es sollen Phänomene untersucht werden, die durchaus quer zu nationalstaatlichen Grenzen verliefen, die auf einer supranationalen Ebene spielten oder die mit dem Machtanspruch nationaler Administrationen in Konflikt gerieten.

Die Tagung regt an, die Europäische Geschichte durch postkoloniale Ansätze und europäische Regionalstudien zu erweitern. Dies einerseits, um das hegemoniale Bild eines Europas als Inbegriff der Moderne zu differenzieren, andererseits um zu fragen, aufgrund welcher impliziter Prämissen dieses Bild entstand, auf welche Räume es sich (nicht) bezog, und welche sozialen, politischen und ökonomischen Folgen dieses Narrativ hatte. Ein solcher Zugang soll helfen, Europa als spezifischen und durchaus selbstreferentiellen Raum zu untersuchen, und einen vielschichtigeren Zugang zur europäischen Geschichte zu eröffnen als die additive Geschichte einzelner Nationalstaaten. Die Tagung hinterfragt dadurch die gängigen Interpretationsmuster der Europäischen Geschichte, die oft eine nur schwach reflektierte Fokussierung auf die grossen Länder Westeuropas (Deutschland, Frankreich, Grossbritannien) beinhaltet und die Analyse anderer Räume an spezifische area studies wie die osteuropäische, südosteuropäische, oder nordeuropäische Geschichte, die Regionalgeschichte, an die Nationalgeschichte kleinerer europäischer Länder oder an die Kolonial- und Globalgeschichte delegiert.

Programm

Donnerstag, 19. April

13.00 Einleitung

Christof Dejung (Konstanz) und Martin Lengwiler (Basel)

13.30 Sektion 1: Repräsentationen Europas

Susan Rößner (Konstanz): Historiographische Vorstellungen von europäischen Peripherien in Westeuropa

Iris Schröder (Berlin): Die geographische Entdeckung des Balkans im frühen 20. Jahrhundert
Kommentar: Daniel Speich (Luzern)

15.00 Kaffeepause

15.30 Sektion 2: Europa aus nördlicher und östlicher Perspektive

Madeleine Hurd (Huddinge): Periphery Against Centre – a Brief History of Nordic Identity

Frithjof Benjamin Schenk (Basel): Russlands Aufbruch in die Moderne? Konzeptionelle Überlegungen zur Beschreibung historischen Wandels im Zarenreich im 19. Jahrhundert
Kommentar: Philipp Müller (Berlin)

18.00 Keynote

Bo Stråth (Helsinki): Das Gesicht der Moderne: Kronos,Krise, Kairos – Koselleck vs Hegel

19.30 Abendessen

Freitag, 20. April

9.30 Sektion 3: Nationalismen zwischen Zentrum und Peripherie

Siegfried Weichlein (Fribourg): Europäische Nationalstaatenbewegungen im Vergleich

Ludger Mees (Bilbao): Rückständiges Zentrum, moderne Peripherie. Probleme des spanischen Nation Building im 19. und 20.Jahrhundert
Kommentar: Svenja Goltermann (Zürich)

11.00 Kaffeepause

11.30 Sektion 4: Zentrum und Peripherie aus der Perspektive transnationaler Akteure

Angelika Epple (Bielefeld): „’Handcraft alternative’ to mass production“? Solingen und das deutsche Hinterland im Weltgeschäft

Alexandra Przyrembel (Göttingen): Religiöse Globalisierung, ‚Compassion’ und die Semantiken des Helfens um 1900
Kommentar: Frank Schubert (Zürich)

13.00 Mittagessen

14.30 Sektion 5: (Post-)koloniale Verflechtungen

Johannes Feichtinger (Wien): Randprobleme. Die Habsburgermonarchie in der Moderne aus postkolonialer Perspektive

Bernhard C. Schär (Bern) und Patrick Kupper (ETH Zürich): Moderne Gegenorte um 1900: Europa, hergestellt in Basel, mit Zutaten aus Ceylon, Celebes und den rätischen Alpen
Kommentar: Jon Mathieu (Luzern)

16.30 Abschlussdiskussion

Heinrich Hartmann (Basel): Kommentar

Die Tagung ist öffentlich. Die Tagungsgebühr beträgt CHF 25.- pro Tag. Um Anmeldung wird gebeten. Bitte per Mail an: martin.lengwiler@unibas.ch

Contact (announcement)

Martin Lengwiler

Historisches Seminar
Universität Basel

martin.lengwiler@unibas.ch


Editors Information
Published on
18.01.2012
Contributor
Classification
Regional Classification
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Language(s) of event
German
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