Mit den Niederlagen im Ersten Weltkrieg zerfielen die Kaiserreiche Europas und hinterließen im östlichen Europa ein Machtvakuum, das sowohl rivalisierende Kräfte aus der Region als auch die Großmächte zu füllen versuchten. Dabei entstanden und konkurrierten unterschiedliche Ordnungsvorstellungen. Welche Staaten mit welchen Grenzen entstehen würden, war ein militärisches und diplomatisches Spiel mit offenem Ausgang. Nationalstaaten waren in der Region ohne Präzedenz und keineswegs die einzige Alternative. Visionen der Neuordnung Mittel- und Osteuropas nach 1917 wurden sozial-ständisch, internationalistisch, monarchisch, imperial und religiös legitimiert. Erinnerungen an vergangene, übernationale Staatlichkeiten beeinflussten den Aushandlungsprozess. So waren beispielsweise in den Auseinandersetzungen zwischen Polen und seinen Nachbarn Bezüge zum frühneuzeitlichen polnisch-litauischen Staat bedeutsam. Auch die Erfahrungen aus den zerfallenen Kaiserreichen sowie von Eroberung, Besatzung, Gefangenschaft im Krieg und der russische Bürgerkrieg prägten die Praktiken und Vorstellungen territorialer und gesellschaftlicher Ordnung in der Region.
Die Deutungen über die Ereignisse nach 1918 werden dominiert von nationalen Meistererzählungen einerseits und dem internationalen Narrativ einer auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker fußenden Nachkriegsordnung. Die Tagung möchte diesen Interpretationen eine Geschichte des Raums zur Seite stellen, in der die Transformation staatlicher Ordnung und Politik aus ihrem imperialen Erbe heraus verständlich wird und nationale Sinngebungen als ein Faktor unter vielen in einem dynamischen Prozess der Neuverteilung von Macht und Territorium verstanden wird. Der Begriff der Transformation soll sowohl das Fortwirken alter Strukturen als auch den aktiven Prozess ihrer Umformung und der Neuschaffung durch die verschiedenen Akteure vor Ort betonen.
Die Tagung möchte ein Forum zur Diskussion von netzwerk- und raumtheoretisch geleiteten Forschungen zu verschiedenen Akteuren und Akteursgruppen bieten. Gegenseitige Wahrnehmungen, Bezugnahmen und Beeinflussungen der präsentierten Akteursgruppen sollen während der Tagung herausgearbeitet werden. Es geht damit weniger um das Scheitern oder Erfolge der Protagonisten, sondern um ihren Einfluss auf die Dynamiken der Staatsbildung.
Wir laden besonders Beiträge zu folgenden Akteuren ein:
- „Weiße“ , d.h. politische und militärische Eliten der untergegangenen Kaiserreiche, die die imperiale Herrschaft zu restaurieren versuchten
- „Grüne“ - Sozialrevolutionäre und bäuerliche Volksbewegungen
- Akteure, die aufgrund historischer Beispiele und/oder Stabilitätserwägungen die Konstruktion multinationaler, föderaler Staaten propagierten
- „Rote“ – Bolschewiki und von Anarchisten geführte Bewegungen
- Akteure, die im Namen jüdischer Gemeinschaftsentwürfe handelten
- Repräsentanten von Nationalbewegungen
- lokale und regionale Akteure im politischen Wettbewerb
Folgende Fragen könnten die Beiträge anleiten:
Wie prägten imperiale Herrschaft, Traditionen der Interessenorganisation, Kommunikation und öffentliche Meinung sowie Kriegsverlauf die Handlungspräferenzen und Visionen einer politischen und territorialen Nachkriegsordnung?
Wie beeinflussten die Praktiken der diskursiven, militärischen oder rechtlichen Grenzziehung die mental maps der Akteure?
Wie gestaltete sich die Elitenrekrutierung, welche Eigenschaften zeichneten politische und militärische Führungspersonen nach dem Ende monarchischer Herrschaft aus und was bedeutete das für die politische Praxis?
Welche Netzwerke und Kontakte entstanden zwischen nichtstaatlichen und staatlichen Akteuren, und welche vertikalen Verflechtungen mit alten und neuen politischen Entscheidern gingen nichtstaatliche Akteure ein?
Abstracts von bis zu 300 Wörtern auf Deutsch oder Englisch sollen gemeinsam mit einem kurzen CV und Kontaktdetails (E-Mail, Telefon) bis zum 22. März 2015 an einen der Organisatoren gesendet werden. Bis Mitte April erfolgt die Benachrichtigung der Teilnehmer. Abgabetermin für die ausformulierten, zur Zirkulation vorgesehenen Beiträge von max. 20 Seiten ist der 27. September. Im Anschluss ist die Publikation eines print- und online Tagungsbandes geplant. Übernachtungskosten werden vom Veranstalter übernommen. Unter Voraussetzung der Mittelzusage können Reisekosten rückerstattet werden. Als familienfreundliche Universität bietet die Viadrina während der Veranstaltung Kinderbetreuung an.
Tim Buchen buchen@europa-uni.de,
Frank Grelka grelka@europa-uni.de,
Kai Struve kai.struve@geschichte.uni-halle.de
Klaus Richter k.richter@bham.ac.uk
Die Veranstaltung wird ausgerichtet vom Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien und dem Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), dem Aleksander-Brückner-Zentrum für Polenstudien in Halle und Jena, dem Forschungsnetzwerk „Phantomgrenzen in Ostmitteleuropa“ und dem Centre for War Studies der University of Birmingham.