HT 2010: Grenzgänger – Imperiale Biographien in Vielvölkerreichen. Das Habsburger, das Russische und das Osmanische Reich im Vergleich (1806-1914)

HT 2010: Grenzgänger – Imperiale Biographien in Vielvölkerreichen. Das Habsburger, das Russische und das Osmanische Reich im Vergleich (1806-1914)

Organisatoren
Dietrich Beyrau, Eberhard-Karls-Universität Tübingen; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.09.2010 - 01.10.2010
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Von
Alexis Hofmeister, Historisches Institut, Abteilung für osteuropäische Geschichte, Universität zu Köln

Abgesehen von Einzelbeiträgen waren Osteuropa und seine Geschichte auf dem 48. Deutschen Historikertag in Berlin vor allem durch eine Sektion vertreten, die sich mit den Imperien der Habsburger, der Romanovs sowie der Osmanen beschäftigte. Dabei wurden Lebensläufe und Karrieren ausgewählter Vertreter der Funktionseliten als Beispiele genutzt, um auf die Erkenntnispotentiale einer individualbiographischen Herangehensweise, die ganz bewusst auch auf autobiographische Texte setzt, hinzuweisen. Bis 1989 widmete sich die deutschsprachige Osteuropaforschung vor allem den vermeintlichen Konkurrenten der Imperien, den Nationalstaaten bzw. den sie legitimierenden Nationalismen. Heute hat sich ein breites Feld von Studien zu den europäischen Kontinentalimperien etabliert, und die entsprechende Literatur ist kaum zu übersehen.1 Zur anhaltenden Konjunktur imperialer Themen tragen verschiedene Faktoren bei. Dazu zählen neben der wachsenden weltpolitischen Bedeutung Chinas die nachlassende Integrationskraft demokratischer Nationalismen, die Auseinandersetzung der Vereinigten Staaten mit ihrer imperialen Rolle sowie die ungebrochene Anziehungskraft supranationaler Integrationsmodelle wie der Europäischen Union. Dass Imperien als Räume der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen trotz ausgeprägter politischer, sozialer und kultureller Hierarchien über Jahrhunderte eine bemerkenswerte Stabilität aufwiesen, ist historisch mindestens ebenso erklärungsbedürftig wie die sich am Ende des 19. Jahrhunderts deutlich abzeichnende Krise imperialer Ordnung als staatliche Legitimierungsideologie. Mit dem von der historischen Nationalismusforschung bereitgestellten Instrumentarium lassen sich auch Imperien und Träger imperialer Ideologien untersuchen. Denn auch die bisher in den Blick genommenen (proto)nationalen Eliten waren in erheblichem Maße an der zeitgenössischen Diskussion um die Heterogenität der Imperien beteiligt.

MALTE ROLF (Leibniz Universität Hannover) führte in die Sektion ein, indem er die Vorteile einer akteurszentrierten Perspektive für die Imperienforschung hervorhob. Die beruflichen Karrieren imperialer Funktionsträger seien durch die Zwänge und Möglichkeiten reichsweiter Mobilität, aber auch durch die Beschränkungen der jeweiligen Reichsverfassung bestimmt worden. Wolle man imperialen Selbstentwürfen und -beschreibungen auf die Spur kommen, sei man auch auf autobiographische Auskünfte etwa imperialer Funktionsträger angewiesen. Ihre Lebensläufe seien nicht nur aus Karrieregründen unauflöslich mit dem jeweiligen Imperium verbunden. Eine historische Analyse entsprechender Selbstzeugnisse zeige das Imperium als Vorstellungs- und Erfahrungsraum; sein Horizont habe professionelle und persönliche Erwartungen bestimmt. Dazu käme, dass bereits in der zeitgenössischen Wahrnehmung bestimmte Personengruppen für das Imperium gestanden hätten und es in gewisser Weise nachdrücklicher repräsentiert hätten als die jeweiligen Herrscherfiguren oder imperiale Symbole. Die Legitimität imperialer Herrschaft habe zwar traditionell auf persönlichen Bindungen an Herrscher bzw. ihre Vertreter vor Ort beruht.2 Dies habe sich jedoch mit der Aufklärung, zunehmend aber im 19. Jahrhundert, geändert, als abstrakte Ideen wie etwa spezifische Zivilisierungsmissionen zur Legitimitätssicherung eingesetzt wurden. Insofern – so eine These Rolfs – sei das Imperium vor Ort zwar als trans- bzw. extralokaler Akteur aufgetreten, blieb aber stets durch konkrete Personen verkörpert. Diese homini imperii wurden im Rahmen der Sektion als imperiale Grenzgänger bezeichnet. Rolf widmete sich im empirischen Teil seines Vortrags zwei hochrangigen Vertretern der russländischen Reichsbürokratie, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Warschau Dienst taten. Dabei zeigte sich, dass die Erfahrungen der imperialen Grenzgänger bzw. ihre entsprechenden Rationalisierungen sich trotz vergleichbarer institutioneller Voraussetzungen durchaus nicht gleichen mussten. Anton Budilovič (1846-1908), ab 1881 Professor für Russisch und Altkirchenslavisch sowie zeitweise Dekan der Historischen Fakultät der Universität zu Warschau, beschrieb seine Zeit in Warschau als „Fronterfahrung“. Dagegen erwarb sich der Ingenieur Sokrates Starynkevič (1820-1902) als von 1875 bis 1892 amtierender Warschauer Stadtpräsident durch den Ausbau der städtischen Infrastruktur einiges Ansehen unter der mehrheitlich polnischen Bevölkerung der Weichselmetropole und fand hier auch seine letzte Ruhestätte. Beide erlebten als nach Warschau entsandte Repräsentanten des Imperiums Konflikte, die ihnen im Hinblick auf andernorts gesammelte Erfahrungen nahe legten, das von Warschau aus regierte Königreich Polen in einer Homologie zu anderen Grenzregionen des Russischen Reiches zu sehen. Die Praxis der Zirkulation der Beamten im gesamten Reich sowie ihres krönenden Aufstiegs ins imperiale Zentrum unterstützte die Wahrnehmung eines imperial gegliederten Raumes, der in Kernland und Grenzsaum (russisch: okraina) zerfiel.

MICHAIL KHODARKOVSKY (Loyola University Chicago) betrachtete die Geschichte des nördlichen Kaukasus’ und seines Vorlandes im 19. Jahrhundert durch das Prisma des an Widersprüchen reichen Lebens eines exemplarischen Grenzgängers Leutnant Semën Atarščikov. Dieser habe sich – so Khodarkovsky – als imperialer Mittler in der Pufferzone zwischen dem südwärts expandierenden Zarenreich und Transkaukasien bewegt. Dabei habe er sich im buchstäblichen Sinne als Übersetzer aus dem Russischen in kaukasische Sprachen aber auch als Experte für lokale Sitten sowie die Kultur der Kaukasusvölker einen Namen gemacht. Im Auftrage des Generals Grigorij Christoforovič von Zass (1797-1883) operierte Atarščikov bei seinen Infiltrierungsmissionen weit jenseits der russischen Linien. Ohne erkennbaren Grund desertierte Atarščikov 1841. Wenige Monate später kehrte er zurück und bat in einem Schreiben an Zar Nikolaus I. um Verzeihung. Er erreichte durch von Zass’ Fürsprache ein Pardon, wurde jedoch zum Dienst nach Finnland abkommandiert. Daraufhin floh Atarščikov erneut in die Berge. Er konvertierte zum Islam und beteiligte sich an zahlreichen Überfällen auf russische Grenzposten und Siedlungen. Bei einem dieser Überfälle wurde er 1845 von einem flüchtigen Kosaken erschossen, weil dieser sich von dem Mord an dem gefürchteten Plünderer einen Vorteil für seine eigene Rückkehr ins Zarenreich versprach. An die skizzenhafte Schilderung der fragmentierten Biographie Semën Atarščikovs schloss Khodarskovsky generelle Überlegungen zur Geschichte des russländischen Nordkaukasus’ als imperialer frontier an. Um die ethnisch, religiös und sprachlich vielfach gespaltene Region dauerhaft zu befrieden und zu dominieren, hätte das Russische Reich einer ergebenen kaukasischen Elite bedurft. Beginnend im 18. Jahrhundert hätte man zunächst die Söhne der angesehensten einheimischen Familien in Petersburg ausbilden lassen. Diesen habe es allerdings an einer Gruppenidentität gefehlt. Zwischen der Heimat ihrer Vorväter und dem russischen Imperium hin und her gerissen habe es für diese imperialen Mittler keinen mentalen Platz gegeben. Dazu kam, dass die Elitenbildung offensichtlich nicht systematisch genug betrieben worden sei; die imperialen Grenzgänger aus dem Kaukasus fanden bei ihren Vorgesetzten mit ihren Vorschlägen nur selten ein offenes Ohr. Zu bedauern ist, dass Khodarkovsky neben Atarščikov keine weiteren Beispiele imperialen Grenzgangs vorstellen konnte. In der Person des baltendeutschen Generals von Zass wurde immerhin ein Vertreter der imperialen Funktionselite erwähnt, dessen imperiales Karrieremuster mit den von Malte Rolf skizzierten Beispielen vergleichbar ist.

Im Mittelpunkt des Beitrags von TIM BUCHEN (Technische Universität Berlin) stand der aus Galizien stammende Rabbiner, Politiker und Publizist Joseph Samuel Bloch (1850-1921) und sein Werben für eine österreichische Identität. Bloch, der einerseits eine traditionelle jüdische Ausbildung genossen hatte und nach Meinung des Historikers Heinrich Graetz (1817-1891) über ungeheure Talmudkenntnisse verfügte, erwarb nicht nur rasch weltliches Wissen. Während seines etwa zehnjährigen Aufenthalts im Deutschen Reich konnte er aus nächster Nähe den Wandel von einem kulturellen und inklusiven zu einem ethnischen und exklusiven Nationsverständnis erleben. Bloch bekleidete als Rabbiner zunächst eine Stelle in Brüx (Most), später aber im Wiener Arbeitervorort Florisdorf. Ab 1882 saß er mit dem Mandat der galizischen Kleinstädte Śniatyn (Snjatyn), Kolomea (Kolomyja) und Buczazcz (Bučač) versehen, im Wiener Reichsrat. Neben diesem Forum bediente sich Bloch laut Buchen auch der von ihm 1884 gegründeten „Österreichischen Wochenschrift“ sowie der „Österreichisch-Israelitischen Union“ als Bühne. Bloch verstand sich als Repräsentant aller Juden des Habsburgerreichs und erhob den Anspruch, in der Öffentlichkeit für sie zu sprechen. Buchen führte aus, dass die von Bloch propagierte österreichische Identität sich nicht in erster Linie auf die Monarchie und ihre Symbole stützte, sondern auf den übernationalen österreichischen Staat setzte. Sie speiste sich aus den Erfahrungen eines imperialen Grenzgängers, der nicht nur die innerhalb des Reiches verlaufende Grenze zwischen Ost- und Westjudentum überwand, sondern Österreich-Ungarn auch mit dem Deutschen Reich sowie den Vereinigten Staaten vergleichen konnte. Dieser durch Erfahrung konstituierte Erwartungshorizont formte die Sinnkonstitution Blochs, der nur im österreichischen Vielvölkerstaat eine Garantie für die Existenz bzw. Weiterentwicklung des widersprüchlichen und konfliktträchtigen Miteinanders im kulturell heterogenen Zentraleuropa sah.

Der von HANNES GRANDITS (Humboldt Universität zu Berlin) im abschließenden Sektionsbeitrag vorgestellte Militär Omer Paşa (1806-1871) repräsentierte die imperiale Funktionselite des Osmanischen Reichs. Der als Sohn eines habsburgischen Militärgrenzbeamten geborene Mihaijlo Latas überschritt mit zwanzig Jahren die Grenze zum Osmanischen Reich, trat zum Islam über und nahm den Namen Omer Lutfi an. Durch den Kronprinz und späteren Sultan Abdulmecid protegiert, machte er eine steile Karriere. Omer Paşa erzielte sowohl bei der Umsetzung der osmanischen Reformpolitik (Tanzimat), bei der Aufstandsbekämpfung sowie im Krimkrieg beachtliche Erfolge. Kurzzeitig leitete er 1868/69 das osmanische Kriegsministerium. Grandits skizzierte die bis heute mit dem Namen Omer Paşas verbundene Durchsetzung der Tanzimat in Bosnien und nahm sie zum Anlass für mehrere generalisierende Beobachtungen. Im Falle der südosteuropäischen Peripherie des Osmanischen Reichs sei die „Verwestlichung aus dem Osten“, aus der Hauptstadt Istanbul, gekommen. Diese habe zweitens versucht, die Modernisierung ohne Rücksicht auf örtliche Eliten bzw. regionale Traditionen durchzusetzen und dabei wenn nötig zur Gewalt gegriffen. Imperiale Funktionseliten hätte diese gewalttätige Modernisierung von oben exekutiert und sie verkörpert. Schließlich zeige das Beispiel Omer Paşas, dass die Modernisierung Südosteuropas nicht erst in der Epoche der Nationalbewegungen bzw. Nationalstaaten eingesetzt habe und sich daher das Bild des Osmanischen Reiches als Agent der Rückständigkeit nicht halten lasse.

Der Kommentar von JÖRG BABEROWSKI (Humboldt Universität zu Berlin) ordnete die in den Vorträgen vorgestellten Beispiele imperialer Granzgängerbiographien aus den europäischen Kontinentalimperien des 19. Jahrhunderts in eine längere historische Perspektive ein. Die Tatsache, dass jemand zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gewesen sei bzw. eine bestimmte Grenze überschritten habe, erkläre - so Baberowski - noch gar nichts. In gewisser Hinsicht hätten alle Einwohner von Vielvölkerreichen eine imperiale Biographie. Um einen Vergleich der diskutierten Beispiele zu ermöglichen, sei die grundlegende Problematisierung der Heterogenität innerhalb der Imperien, wie sie im Laufe des 19. Jahrhunderts auch unter den imperialen Eliten um sich griff, zu berücksichtigen. In vormodernen Imperien sei die Fremdheit etwa von Religion aber auch ein Glaubenswechsel, wie ihn Omer Paşa vollzog, insofern nicht problematisch gewesen, als die Loyalität gegenüber dem Herrscher nicht in Frage gestellt worden sei. Für den modernen imperialen Staat und seine Eliten sei die Fremdheit der Untertanen zum Problem geworden, weil man sich nun in stärkerem Maße als zuvor als Teil einer Welt empfunden hätte. Baberowski bezweifelte, dass die zarischen Bürokraten die Ansprüche des imperialen Staates innerhalb der Bevölkerung des Zarenreiches nachhaltig hätten verankern können. Innerhalb weniger Tage sei 1917 nicht nur die Monarchie sondern der imperiale Staatsapparat mitsamt seinen Repräsentanten verschwunden. Allein den Minderheiten sei durch den zunehmenden Homogenisierungsdruck die Fremdheit zur zweiten Identität geworden; mobile Diasporagruppen wie die Juden seien die eigentlichen imperialen Grenzgänger. Malte Rolf hielt dagegen daran fest, dass auch und gerade für die zarischen Bürokraten, jene Experten des Fremden, das Imperium zum Überlebensrefugium geworden sei. Daher lohne sich gerade der Blick auf ihre Wahrnehmung des Imperiums. Hannes Grandits sprach sich gegen eine polarisierende Sicht der Unterschiede zwischen vormodernem und modernem imperialen Staat aus. Im Osmanischen Reich habe der Staat versucht, die Modernisierung mit vormodernen Mitteln zu erreichen. Dafür habe er sich der imperialen Grenzgänger bedienen müssen.

Die sich an Jörg Baberowskis Kommentar entzündende rege Publikumsdiskussion berücksichtigte vor allem die Verhältnisse im ausgehenden Zarenreich. Die Frage nach imperialen Integrationsprojekten rückte in den Mittelpunkt; nicht das Feld der Herrschaft, sondern der Gesellschaft sei für die imperialen Funktionseliten entscheidend gewesen. Dies gelte umso mehr, als es um die Wahrnehmung, nicht um die Performanz von Imperialität gehe. ULRIKE VON HIRSCHHAUSEN (Universität Hamburg) verwies im Übrigen darauf, dass der herkömmlich angenommene Antagonismus von Imperialität und Nationalität nicht haltbar sei. Gerade die Biographien imperialer Grenzgänger zeigten, dass sich vielmehr Fusionen beider Diskurse ergeben hätten. Die soziale Umwelt, nicht wie von Baberowski angenommen die staatliche Funktionslogik, habe die imperialen Funktionseliten des Zarenreichs geprägt. Malte Rolf merkte an, dass der Abschied vom Projekt einer imperialen Gesellschaft im Falle des Königreichs Polen relativ illusionslos erfolgt sei. Vielmehr sei hier ein Projekt der kulturell und administrativ differenzierten Russifizierung diskutiert und partiell umgesetzt worden. Obwohl die Betonung des Russischen im Russländischen für hochadlige Beamte am Ende des 19. Jahrhunderts zum Problem geworden sei, habe die Mehrheit der zarischen Bürokraten in Warschau das Zarenreich doch eher als ein russisches gedacht. Dies habe ihr Verhalten auch nach der Versetzung in andere Regionen beeinflusst. Michail Khodarkovsky betonte, dass es im Gegensatz zum British Empire im Zarenreich imperialen Grenzgängern zunehmend weniger gelungen sei, das Wissen der Peripherie im Zentrum zu Gehör zu bringen. MANFRED HILDERMEIER (Georg-August-Universität Göttingen) erklärte die Frage nach dem Vorrang von Funktionslogik und imperialen Lebenswelten für offen. Eine chronologisch und regional differenzierende Betrachtung zeige, dass Ende des 18. Jahrhunderts die imperiale Funktionslogik im Zarenreich sehr wohl auf Kooperation mit peripheren Eliten und damit im begrenzten Maße auf Heterogenität gesetzt habe. Netzwerke und Kontakte zum regionalen Adel hätten sich bis weit ins 19. Jahrhundert hinein als wichtig für den Erfolg eines Bürokraten erwiesen. Nach der Zäsur der 1860er-Jahre, die dem Zarenreich entscheidende Reformen brachten, habe sich die Lage allerdings gewandelt und sich immer mehr dem von Baberowski gezeichneten Bild angenähert. Ulrike von Hirschhausen kritisierte die Sicht des Imperiums als einheitlichem Rechts- und Herrschaftsraum. Die Unterschiede zwischen Finnland und dem Kaukasus seien offensichtlich, und daher müsse die Frage, wer das Imperium sei, bzw. was imperial agency bedeute, regional differenziert beantwortet werden.

Trotz der Disparität der für die exemplarische Vorstellung mehrerer imperialer Biographien genutzten Quellen gelang der Sektion ein innovativer und anregender Einblick in ein junges Forschungsfeld. Die Funktionseliten der europäischen Kontinentalimperien stellen eine bisher von der Forschung vernachlässigte Personengruppe dar. Wie die einschlägigen Bibliographien zeigen, hat die Funktionselite des Zarenreichs umfangreiche autobiographische Materialien hinterlassen. Doch selbst für Persönlichkeiten wie den letzten Zaren Nikolaus II. aber auch für den Großteil seiner Minister liegen nahezu keine kritischen Biographien vor. Die Imperienforschung wird vom „biographic turn“ profitieren, wenn es ihr gelingt, das bisher unberücksichtigt gebliebene Material im Sinne einer Selbstbeschreibung von Imperialität zu nutzen. Dabei müssen die Wahrnehmung des imperialen Raumes, seiner Grenzen, die Verhandlung imperialer Heterogenität in den Blick genommen werden. Die Bedeutung und die Performanz imperialer Erinnerungsorte, imperialer Symbole und imperialer Herrschaftsfiguren sowie ihr postimperiales Nachleben kann anhand autobiographischer Texte geprüft werden. Diese eröffnen im Übrigen durch ihre lebensgeschichtliche Konstruktion die Möglichkeit des synchronen und diachronen Vergleichs. Dabei sollte auch der Versuch unternommen werden, über den engeren sozialen Kreis der imperialen Elite hinaus zu blicken. Kriege und Revolutionen erschütterten als Krisenmomente der Imperien nicht nur die Ideologien der Funktionseliten, sie gaben der gesamten Bevölkerung Anlass zur autobiographischen Reflexion.

Sektionsübersicht:

Dietrich Beyrau (Tübingen): Einleitung und Moderation

Malte Rolf (Hannover): Imperiale Biographien von Grenzgängern: Zur Einführung / Sokrat I. Starynkevic und Anton S. Budilovic: Warschau als Fronterfahrung oder letzte Ruhestätte. Zwei ungleiche Bürokraten und ihre Wanderschaften durch das Romanov-Imperium

Michael Khodarkovsky (Chicago): The Return of Lieutenant Atarshchikov: Empire and Identity in Asiatic Russia

Tim Buchen (Berlin): Galizien und Wien: Der Abgeordnete Joseph Samuel Bloch und sein Werben für eine „Österreichische Identität“

Hannes Grandits (Graz / Berlin): Verwestlichung aus dem Osten? Das Beispiel von Omer-pasa Latas im Kontext des großen osmanischen Reformanlaufs im 19. Jahrhundert

Jörg Baberowski (Berlin): Kommentar

Anmerkungen:
1 Il'ja. V. Gerasimov u.a. (Hrsg.), Empire Speaks Out. Languages of Rationalization and Self-Description in the Russian Empire, Leiden 2009; Jan Plamper u.a. (Hrsg.), Rossijskaja imperija čuvst: Podchody k kulturnoj istorii ėmocij, Moskau 2010; Martin Aust u.a. (Hrsg.), Imperium inter pares: rol' transferov v istorii Rossijskoj imperii (1700-1917), Moskau 2010.
2 Jörg Baberowski u.a. (Hrsg.), Imperiale Herrschaft in der Provinz: Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt am Main 2008.


Redaktion
Veröffentlicht am
22.01.2011
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