Seit geraumer Zeit ist an historischen Instituten wie auch auf dem Büchermarkt eine bedeutende Popularität von globalgeschichtlichen Betrachtungen zu beobachten. Viele Vertreter/innen der Globalgeschichte beschäftigen sich mit Staatsgrenzen überschreitenden Wechselbeziehungen von Weltregionen. Der Anspruch einer Welt- und Globalgeschichte, „Interaktion zwischen weltumspannenden Systemen“1 nachzuzeichnen, kollidiert dabei jedoch stellenweise mit der Realität, der von Staatsführungen vorgegebenen Prämisse einer nationalen Exklusivität. In diesem Sinne sollte sich die am 24. Juli 2014 in München von der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien veranstaltete Konferenz dem Thema „World Regions between Global History and Scenarios of Power and Civilizations: China, Russia, Turkey and the USA in Comparison“ widmen. Die Teilnehmer der Universitäten Bremen, Chicago, Istanbul, Linz, München und Regensburg diskutierten entlang von sieben vorgestellten Arbeitspapieren, welchen Anteil Globalgeschichte in der Forschung jeweiliger nationaler Geschichtswissenschaften hat. Außerdem wandte sich die von MARTIN AUST und MARTIN SCHULZE WESSEL (beide München) eröffnete Konferenz der Frage zu, ob Globalgeschichte genutzt wird, um zur Konsolidierung oder Dekonstruktion von staatlichen Machtkonstellationen beizutragen.
Als erster Referent stellte DOMINIC SACHSENMAIER (Bremen) einen Überblick über die prominente Bedeutung von Global- und Weltgeschichte in China vor. Die chinesische Historiographie biete schon seit geraumer Zeit einen Zugang, eigene chinesische Geschichte im Fahrwasser von Weltgeschichtsschreibung zu betrachten. Die akademische Auseinandersetzung mit Weltgeschichte hätte in jüngster Zeit, vor allem durch die vielen vom Studium oder der Promotion in den USA zurückkehrenden jungen Historiker/innen, einen erheblichen Aufschwung erfahren. Dabei zeichneten sich die chinesische Geschichtswissenschaft wie auch die neuesten Produkte des lokalen Büchermarktes durch eine starke Vielseitigkeit im Umgang mit globalgeschichtlichen Themen aus. So könne man in China Globalgeschichte entweder als stärkeren Forschungsfokus auf fremde Länder und Regionen, als eine Neuverortung Chinas im Kontext jüngerer Globalgeschichte oder als besondere Betonung Chinas in der Welt, betreiben.
Der Vortrag von EKATERINA MAKHOTINA (München) beschäftigte sich mit Motiven und Metaphern heutiger russischer Geschichtsnarrative und der damit verbundenen politischen Selbstpräsentation Russlands. Die russische Regierung trage aktiv dazu bei, über staatsnahe Institutionen neue Imageprodukte zu schaffen, die zu Großereignissen wie den Tages des Sieges (am 9. Mai) oder bei den Olympischen Spielen in Sotchi medialisiert werden. So soll auch der russische Außenminister Lawrow anlässlich der Ukraine-Krise gefordert haben, eine neue „Soft-Power-Doktrin“ auszuarbeiten, um strategisch einer mutmaßlichen Verzerrung der russischen Position im Ausland entgegenzuwirken. Die von regierungsnahen Institutionen gebildete Erzählung teile sich dabei in vier wesentliche Bilder. Zum ersten solle Russland als Land mit einer langen glorreichen Militärtradition dargestellt werden. Hier stehe vor allem das Narrativ der Verteidigung gegen die äußerliche Bedrohung im Vordergrund, die immer wieder durch drei historischen Höhepunkte – die polnisch-litauische Besetzung Moskaus, der Feldzug Napoleons und der Große Vaterländische Krieg – bedient werde. Der Appell an die Vergangenheit solle dabei zur Nachahmung in der Gegenwart auffordern. Zum zweiten solle Russland als Land des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts gezeichnet werden. Dafür spräche, dass in Schulbüchern die Periode Stalins als Modernisierungsdiktatur und die Erkundungen der Arktis und des Kosmos als russische Aneignungen verstanden würden. Zum dritten zeichne sich Russland als einzigartige Zivilisation und Hochburg konservativer Werte eines „richtigen Europa“. Dabei sehe sich Russland mit einem hedonistischen und amerikanisierten Europa konfrontiert, das es durch die Wiederherstellung traditioneller Werte zu retten gelte. Mit diesem Konzept konkurriere jedoch die Selbstverortung eines nichteuropäischen Russlands zwischen West und Ost. Zum vierten solle die Idee eines grenzüberscheitenden transatlantisch-russischen Zivilisationsprojektes geschaffen werden. Die Stiftung „Russkij Mir“ schaffe dabei ein loyalitätsbindendes Angebot für die russische Diaspora.
MARINA MOGIL’NER (Chicago) wandte sich der russischen Imperien-Geschichte und der postkolonialen Eigenheit Russlands im globalen Kontext zu. Unter Betrachtung der zarischen, sowjetischen und post-sowjetischen Geschichte müsse man postkoloniale Begriffe im russischen Zusammenhang neu erfassen. Trotz der Herrschaftsausübung im eigenen Imperium sei Russland in einigen historischen Situationen der hegemonialen Wirkung Europas ausgesetzt gewesen. Beispielgebend wären dafür vier historische Fälle. Die erste historische Situation sei durch die 1839 erschienene Bewegung der Slawophilen entstanden. Es waren Mitglieder der russischen Elite, die die homogenisierende Wirkung Europas kritisierten und den Einfluss des Westens auf Russland mit der auf Kolonien verglichen. Eine weitere postkoloniale Situation soll demnach der bolschewistischen Revolution aufgekommenen Eurasianismus entsprungen sein. Die Anhänger dieser Schule hätten den Zusammenbruch des Zarenreiches als Zerfall einer westlichen Kolonie gedeutet und dementsprechend die Revolution als antikolonialen Aufstand verstanden. Hierbei sei von den Eurasianisten vor allem die fehlende emanzipatorische Kraft des Nationalstaates kritisiert worden. Folgend wurde auch die Nationalitätenpolitik des sowjetischen Regimes als postkoloniales Momentum verstanden. Das sich bewusst als postimperialer Staat konstituierende Sowjetregime soll dabei auf eine Kooptierung der Nationalitäten im Vielvölkerreich gesetzt haben. Letztlich sollen alle Länder der postsowjetischen Situation postkoloniale Erfahrungen gemacht haben. Selbst Russland habe mit der Einführung eines Unabhängigkeitstages die postkoloniale Abgrenzung zur Sowjetunion untermauert.
Mit einer Darstellung zur Positionierung der USA als Globalmacht im 20. Jahrhundert und nach Nine-Eleven leitete VOLKER DEPKAT (Regensburg) die Sektion zu den USA ein. Um eine Betrachtung der jetzigen US-amerikanischen Außenpolitik vorzunehmen müsse berücksichtigt werden, dass die USA eine eigene antikoloniale Erfahrung mit der Revolution gegen die europäische Vorherrschaft gemacht hätten und somit immer mit ihrer eigenen Großmachtstellung in der Welt gehadert haben. So hätten sich die USA im 20. Jahrhundert durch einen informellen Imperialismus, der nicht mit direkter Herrschaftsausübung, sondern über ökonomische Einflussnahme, Druck auf fremde Territorien ausübte, hervorgetan. Die Beteiligung an globalen Großereignissen wie dem Zweiten Weltkrieg oder dem Kalten Krieg sei von der US-amerikanischen Außenpolitik als ein Drängen in eine Großmachtrolle verstanden worden. Begriffe wie Isolationismus oder Internationalismus seien jedoch unpassend, um die Dynamiken der US-Außenpolitik gänzlich zu erfassen. Vielmehr sei die Frage, zu welchem Anteil US-politisches Handeln den Prinzipien des Unilateralismus oder des Multilateralismus entspräche. Woodrow Wilson habe als erster die Prämisse eines liberalen Internationalismus der Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft, bestimmt. Der Vorgabe Wilsons folgend, habe sich fortan US-amerikanische Außenpolitik gegen Autokratien in der Welt gerichtet. Selbst nach Nine-Eleven sei unter der Bush-Doktrin, welche den Krieg gegen den Terrorismus und die Einrichtung von Guantanamo und NSA legitimierte, ein Fortgang des liberalen Internationalismus zu erkennen gewesen sein. Lediglich die proaktive Dimension der Selbstverteidigung gegen Gefahren von Außen sei eine neue Qualität gegenüber älteren Entwicklungen gewesen.
MARCUS GRÄSER (Linz) betonte in seinem Beitrag die besonderen transnationalen Bedingungen der US-amerikanischen Forschungslandschaft. Schon zum Ende des 19. Jahrhunderts hätten sich progressive Historiker wie Frederick Jackson Turner mit Themen der Globalgeschichte auseinandergesetzt. Ohnehin hätten die USA der Notwendigkeit unterlegen, als erste transnationale Nation lokale Geschichte in Zusammenhang von Weltgeschichte lesen zu müssen. Außerdem habe der national besonders stark ausdifferenzierte akademische Apparat in den USA dazu beigetragen, dass Globalgeschichte nunmehr seit 15 Jahren zum Establishment des amerikanisch-historischen Schreibens gehört. Unterschieden werde in der Forschung vor allem zwischen einer zentrierten und dezentrierten Globalgeschichte. Erstere bediene sich globaler Narrative, um US-amerikanische Geschichte zu beschreiben. Letztere konzentriere sich auf Netzwerkbeziehungen mit Fokus auf Regionen oder supranationale Räume. Trotz der herausragenden Stellung US-amerikanischer Globalgeschichte sei eine gegenseitige Beeinflussung von Forschung und Politik jedoch auszuschließen, da sich die Forschung hauptsächlich unabhängiger privater Geldmittel bediene. Auf Grund des weitestgehend transnationalen und inklusiven Charakters des US-amerikanischen Forschungsapparates könne eine hegemoniale Stellung in der US-Forschung ausgeglichen werden.
In der letzten Sektion der Konferenz stellte HALIL BERKTAY (Istanbul) den Umgang mit Globalgeschichte in der türkischen Historiographie vor. Die erste türkische Konfrontation mit der Weltgeschichte habe ab 1839 unter den Tanzimatreformen stattgefunden. Eine in dieser Zeit einsetzende Übernahme von westlichen Strukturen für Militär und Bürokratie, aber auch die Übersetzung von aus dem Westen stammenden Werken zur Weltgeschichte, habe nicht zur Schaffung türkischer weltgeschichtlichen Betrachtungen geführt. Bis in die Gegenwart gebe es keine nennenswerten eigenen welt- oder globalgeschichtlichen Publikationen aus der Türkei. Auch eine in den 1960er-Jahren zu verzeichnende Zunahme von nicht-türkischen Akademikern und der damit verbundenen Globalisierung der Geschichte des Osmanischen Reiches und der Türkei habe keine Impulse in der Türkei selbst erzeugt. Eine Ausnahme stellten lediglich aus den 1940er-Jahren stammende Lehrbücher, die sich wesentlich mit der Geschichte außerhalb der Türkei auseinandersetzten, dar.
CHRISTOPH K. NEUMANN (München) wandte sich in seinem Beitrag dem seit der Regentschaft Tayyip Erdogans forcierten türkischen Neo-Osmanismus zu. Durch staatliche Förderungspolitik solle osmanische Kultur und Praxis in der Türkei wie auch in der Region des ehemaligen Osmanischen Reiches zu neuem Leben erweckt werden. Identifikationsangebote wie die Nahost-Reisen Erdogans in den arabischen Raum oder die Gründung von Yunus-Emre-Instituten im Balkan sollen an eine gemeinsame Vergangenheit der osmanischen Toleranz und Geborgenheit appellieren. Der Prämisse des Neo-Osmanismus folgend verfasste der türkische Außenminister Davutoğlu 2001 das Buch „Strategic Depth“, um eine neue außenpolitische Strategie vorzugeben. Dabei gelte es vor allem die von Davutoğlu vorgelegte Konzeption der pax ottomanica zu kritisieren. Die Negierung von historischen Bezügen zur kemalistischen Republik und eine unterstellte Statik osmanischer Gesellschaftsgeschichte, blende hierbei die Dynamik historischer Prozesse in der Türkei völlig aus.
Für alle vier Länder ließen sich im abschließenden Vergleich Abweichungen wie auch Überschneidungen im Umgang mit einer eigenen Globalgeschichtsschreibung und den durch Staatsführungen protegierten nationalen Exklusivitätsansprüchen erkennen. So herrschte in den Diskussionen allgemeine Einigkeit über die aus den Vorträgen gewonnenen Erkenntnisse. Demgemäß stellte man fest, dass in der russischen und chinesischen Historiographie zwischen einer nationalen Geschichte und einer Allgemeinen Geschichte (Russland) oder einer Weltgeschichte (China) unterschieden werde. Zudem sollen sich die staatlichen Repräsentationen beider Länder bemüht haben, mit einer ganz eigenen nationalen Sicht, alte Großmachtstärke wiederherzustellen. Im Unterschied zu Russland habe China jedoch durch den Einfluss der USA eine vielseitigere Rezeption von globalgeschichtlichen Themen erfahren. Wie die Diskussion zeigte, müsse man in Bezug auf die USA ohnehin von einer Sonderstellung reden. Da man dort keine Erfahrungen eines vormodernen Imperiums machte, sollen solche historischen Rückgriffe wie in Russland und China für die US-Politik entfallen. Außerdem biete der transnationale Charakter des US-amerikanischen akademischen Apparates, aber auch die lange Tradition von Globalgeschichtsschreibung, einen besonders ausdifferenzierten und auf Austausch beruhenden Umgang mit Globalgeschichte. Für die Türkei hingegen teilte man in der Diskussion die Ansicht, dass trotz der staatlichen Bemühungen sich auf das Erbe des Osmanischen Reiches und vergangene Größe zurückzubesinnen, keine nennenswerten eigenen türkischen Beiträge zur Globalgeschichte zu erkennen sind.
Alle Konferenz-Teilnehmer/innen waren sich darüber einig, dass sich die Spannungsverhältnisse zwischen Globalgeschichtsschreibung und politisierten Exklusivitätsvorstellungen von Nationen und Zivilisationen weiter entwickeln würden. Zukünftig sollte dieses Wechselspiel weit oben auf der Agenda von Globalgeschichte und Area Studies stehen.
Konferenzübersicht:
Begrüßung und Einführung: Martin Aust / Martin Schulze Wessel (beide München)
Sektion I: China
Dominic Sachsenmaier (Bremen), Global History in Chinese Historiography
Sektion II: Russland
Ekaterina Makhotina (München), Motive, Metaphern und „historische Werte“ in russischen Geschichtsnarrativen für innen- und außenpolitische Selbstpräsentation
Marina Mogil’ner (Chicago), Russian Empireness and Russian Postcoloniality in a Global Context
Sektion III: USA
Volker Depkat (Regensburg), Positioning the USA on the Globe in the 20th Century and after 9/11
Marcus Gräser (Linz), Global History in American Historiography
Sektion IV: Türkei
Halil Berktay (Istanbul), Global History in Turkish Historiography
Christoph K. Neumann (München), „Strategic Depth“ and Historical Shallowness: Usages of the Ottoman Past in Current Turkish Politics
Anmerkung:
1 Jürgen Osterhammel, „Weltgeschichte“: Ein Propädeudikum, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Jg. 56, H. 9 (2005), S. 452-479, hier S. 460.