Zwischen hoffnungsvoller Zustimmung und tiefer Ablehnung bewegten sich die Reaktionen auf die Oktoberrevolution von 1917 und bargen so bereits die ideologischen Antagonismen in sich, welche das 20. Jahrhundert prägen sollten. So eröffnete JÖRG GANZENMÜLLER (Weimar / Jena) das 16. Symposium der Stiftung Ettersberg Weimar. Die weltrevolutionären Hoffnungen, oder wenigstens die Revolutionierung Europas, sei bereits Mitte der 1920er-Jahre gescheitert. Als eigentlicher Beginn des 20. Jahrhunderts stelle die Oktoberrevolution jedoch einen wichtigen Bezugspunkt dar, der sich bis heute in einem vielschichtigen Bildgedächtnis festgesetzt und die Ordnung des 20. Jahrhunderts wesentlich geprägt habe. Um zum Ausgangspunkt, den historischen Ereignissen, zurückzukehren, widmete sich das Symposium daher insbesondere der damaligen Rezeption durch die Zeitgenossen und den politischen Folgen der Oktoberrevolution im ersten Jahrzehnt nach den Ereignissen.
Im Eröffnungsvortrag stellte GERD KOENEN (Frankfurt am Main) einige Überlegungen aus seinem neuesten Buch „Die Farbe Rot“ vor. Koenen skizzierte, dass Russland durch die Revolution von 1905 und die Generalstreiks und Bauernaufstände von 1917 das Revolutionsland par excellence gewesen sei. Dabei sei die Revolution nicht, wie häufig angenommen werde, aus einer Phase der Stagnation, sondern aus einer Aufbruchskrise hervorgegangen. Dennoch sei die tatsächliche Umsetzung des kommunistischen Gesellschaftsentwurfs höchst unwahrscheinlich gewesen, da Lenin selbst in seiner Partei aus einer Minderheitsposition heraus argumentiert und gehandelt habe. Die Kriegssituation habe für den Sieg der Bolschewiki eine entscheidende Rolle gespielt. Lenins Friedenspolitik zielte dabei auf eine Umwandlung des Weltkriegs in einen Bürgerkrieg, um die Umstrukturierung der russischen Gesellschaft in ein neues soziales Gefüge zu ermöglichen. Erst die neue sozialistische Gesellschaftsordnung sollte in der Vorstellung Lenins das Land wirklich befrieden. Damit, so Koenen, sei der Bolschewismus durchaus auch als Ordnungsdiktatur zu klassifizieren. Koenen resümierte, der historische Erfolg der realen Sozialismen des 20. Jahrhunderts sei die Nationsbildung und nicht die soziale Emanzipation der Arbeiterklasse gewesen. Er betonte in Anlehnung an Eric Hobsbawn, dass auch die Entwicklung des Sozialstaates in westeuropäischen Ländern als eine positive Folge der Auseinandersetzung mit dem Sozialismus zu sehen sei. Er regte an, die ,roten‘ Kriege zwischen der Sowjetunion und China, der Sowjetunion und Jugoslawien sowie Kambodscha und Vietnam stärker in den Fokus der Forschung zu rücken.
Als erster Vortragender der Sektion I „Die Oktoberrevolution und die deutsche Linke“ skizzierte BERNHARD BAYERLEIN (Bochum) die Vorbereitung und Umsetzung des Deutschen Oktobers 1923 durch die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) als deutsch-russische Verflechtungsgeschichte. Der Deutsche Oktober sei die letzte Nachfolgerevolution der Oktoberrevolution gewesen. In dem Maße, wie die Deutschen ihre Bedeutung als Vorbilder bzw. Kampfgenossen für die Bolschewiki verloren, lehnten die Bolschewiki jegliche Varianten eines europäischen kommunistischen Projekts ab. Laut Bayerlein sei das Zeitfenster einer europäischen Perspektive einer kommunistischen Revolution nur vier Jahre (1919 bis 1923) geöffnet gewesen. Das Ende des Deutschen Oktobers bedeutete demnach das Ende der Ära der Weltrevolution. Der Marxismus-Leninismus ersetzte den revolutionären Leninismus. In Anlehnung an Sebastian Haffners ,verratene Revolution‘ betonte Bayerlein das Ende des internationalen Kommunismus als kollektiv-kulturell traumatisierende Erfahrung auf sowjetischer und deutscher Seite.
EVA OBERLOSKAMP (München) widmete sich in ihrem Vortrag Reiseberichten Linksintellektueller in die Sowjetunion zwischen 1917 und 1933. Auffallend sei, dass in den unterschiedlichen und zum Teil durchaus kritischen Berichten das Bild von der Sowjetunion grundsätzlich positiv gezeichnet wurde. Die Ursache dafür sah Oberloskamp, insbesondere bei den deutschen Reisenden, in einem unbedingten Fortschrittsglauben und einer quasi-religiösen Sehnsucht nach Erfüllung der sozialistischen Utopie. Dieses positive Sowjetunionbild wurzele auch in den Wertvorstellungen der Weimarer Republik wie einer erhöhten Neigung zu Harmoniestreben, autoritärem Denken und Dogmatismus. Im Gegenzug dazu, so Oberloskamp, beurteilten zwar auch die französischen Reisenden die Sowjetunion positiv, argumentierten jedoch vorwiegend vor dem Hintergrund ihrer eigenen Nationalgeschichte.
In der anschließenden Diskussion verwies Thomas Kroll auf die Charismatisierung von Ideen bei Max Weber und argumentierte, dass die Unterwerfung unter eine Idee eine klare Analyse ausschließe. Das Scheitern der Revolution sei somit bereits ideell angelegt gewesen. Bayerlein betonte daraufhin, dass es sich nach seiner Einschätzung weniger um personelles- denn Amtscharisma (bezüglich der Partei und Komintern) gehandelt habe. Die Einbeziehung der Kategorien Charisma und Charisma-Transfers beurteilten beide als für die Forschung fruchtbaren Ansatz.
Die Sektion II zum „Antibolschewismus als Abwehrreaktion auf die Oktoberrevolution“ diskutierte Nationalsozialismus und Antisemitismus als negative Reaktionen auf den Bolschewismus. KARSTEN BRÜGEMANN (Tallinn) skizzierte die ideologischen Ideen des Deutschbalten und „Blutzeugen“ der nationalsozialistischen Bewegung, Max Erwin von Scheubner-Richter. Brüggemann zeigte an seinem Beispiel die Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zur Ideologie Adolf Hitlers. Als Teil der „Weißen Internationale“ von Ukrainern, Russen und Deutschen war Scheubner-Richter überzeugter Nationalsozialist. Sein Antisemitismus sei jedoch vor allem politisch motiviert und gegen einen so genannten ,jüdischen Bolschewismus‘ gerichtet gewesen. Hitlers Überzeugung eines rassisch motivierten Nationalsozialismus habe er nicht geteilt, sondern sah sich eher der Idee einer nach Dienst und Funktion ausgerichteten militaristischen Oligarchie verpflichtet.
AGNIESZKA PUFELSKA (Lüneburg) betonte die Vielschichtigkeit und Kontextgebundenheit des Antisemitismus. Auf deutschem Gebiet sei der Antisemitismus im Frühjahr 1919 im Zuge der Ausrufung der Münchner Räterepublik enorm angewachsen. Die Diffamierung der Juden als ,Totengräber Russlands‘ vermischten sich mit bereits vorhandenen antisemitischen Ressentiments und wurden durch die Ausrufung der Münchner Räterepublik scheinbar bestätigt. Die Vorstellung des Bolschewismus als vermeintlich jüdisch-fremd, das heißt von außen implementiert, bilde im Antisemitismus der Weimarer Republik jedoch nur einen Aspekt. Weitere Formen des Antisemitismus seien die Gleichsetzung von Juden mit ,Kapitalisten‘, ,Imperialisten‘ und Freimaurern gewesen. Pufelska betonte, die Argumentation, ,der‘ Antisemitismus habe beinahe zwangsläufig zum Holocaust geführt sei eine geschichtspolitische Entlastungsstrategie und plädierte für das Sichtbarmachen der vielfältigen Antisemitismusbilder zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Die Sektion III beschäftigte sich mit der „Resonanz der Oktoberrevolution in Europa“. THOMAS KROLL (Jena) widmete sich dabei Frankreich und Großbritannien. Das Verständnis von der Oktoberrevolution als weltverändernder Zäsur sei in beiden Ländern erst in einem langfristigen Prozess entstanden. Das Heraufbeschwören eines ,Schocks‘ Oktoberrevolution diente dabei zur Abwehr sozialistischer Ideen und dem Feindbildaufbau im Kampf um die Deutungshoheit durch die bürgerlich-konservativen Eliten. In Frankreich, wo die Kommunistische Partei und deren Anbindung an die Komintern eine größere Rolle spielte als in Großbritannien, führten 1920 die Kontroversen um das Verhältnis zur Oktoberrevolution zur Spaltung der revolutionären Arbeiterbewegung. In Großbritannien sah die (vergleichsweise kleine) Kommunistische Partei in der Oktoberrevolution ein demokratisch-sozialistisches Vorbild, während die revolutionäre Linke die Oktoberrevolution von Anfang an kritisierte, da sie unweigerlich in eine Diktatur münden würde. In den 1920er-Jahren habe sich der Mythos von der Oktoberrevolution als weltverändernde Zäsur in beiden Ländern etabliert und das Bild der Oktoberrevolution über Jahrzehnte hinweg geprägt.
HANS WOLLER (München) schilderte den Fall Italien in fünf Thesen. Die Oktoberrevolution habe die zentrifugalen Kräfte in der italienischen Gesellschaft und die Hoffnung der Sozialisten auf einen Bürgerkrieg verstärkt. Dabei habe die Oktoberrevolution entscheidend zur Spaltung der Sozialistischen Partei Italiens und Destabilisierung der Sozialisten beigetragen. Die italienische Regierung schürte bewusst die Furcht vor dem Bolschewismus in konservativen Kreisen, um das Bürgertum näher an sich zu binden. Mussolini sei (im Gegensatz zu Hitler) die Furcht vor dem Bolschewismus fremd gewesen, er habe sie jedoch politisch bewusst eingesetzt. Insgesamt sei der Antibolschewismus für die internationalen Beziehungen Italiens nicht konstitutiv gewesen, da diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion weiter aufrechterhalten wurden. Der Bolschewismus, so Woller, sei in diesem Sinne keine ernste Herausforderung für die italienische Gesellschaft gewesen.
Einen Einblick in die Rezeption der Oktoberrevolution in Ungarn gab JULIA RICHERS (Bern). Seien sich Ungarn und Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts strukturell sehr ähnlich gewesen, habe die Kriegssituation sowie das Verhältnis von Sozialdemokraten und Kommunisten die beiden Länder grundlegend voneinander unterschieden. So sei unter allen sozialistischen Republiken allein die Räterepublik Ungarn von Kommunisten und Sozialdemokraten gemeinsam geführt worden. Bis heute herrsche in Ungarn die These von der Externalisierung des Kommunismus als etwas außerhalb des ,typisch‘ Ungarischen stehenden vor. Seine Wurzeln habe diese Erzählung in der Zeit der Machtübernahme durch die Führung Miklós Horthys 1920. Dieser inszenierte seine Bewegung als Gegen-Revolution und stellte den nationalen und antisemitischen Charakter seiner Bewegung den Anhängern der internationalen sozialistischen Revolution gegenüber.
In der anschließenden Diskussion wurde die Bedeutung der Zimmerwalder Bewegung für die Rezeption der Oktoberrevolution hervorgehoben und als Forschungsdesiderat benannt. Betont wurde die Besonderheit des ungarischen Antisemitismus, welcher weniger in Ressentiments gegen eine sozialistisch-bolschewistische Weltverschwörung denn in Stereotypen wie der Ritualmordlegende und Budapest als ,Judapest‘ zum Ausdruck kam und kommt.
In der Sektion IV wurde der „globale Resonanzraum der Oktoberrevolution“ diskutiert. MICHAEL DREYER (Jena) widmete sich dabei dem Phänomen der Red Scare in den USA zwischen 1918 und 1920. Dabei charakterisierte er die Red Scare als paranoide Überreaktion auf eine vermeintlich von Immigranten ins Land getragene Bedrohung, die so nie tatsächlich existiert habe. Bestärkt worden sei dieses Gefühl durch das Selbstverständnis des amerikanischen Exzeptionalismus, welches schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts Amerika als Verkörperung des Guten in der Welt verstand – und im Umkehrschluss die ,Feinde‘ Amerikas dämonisierte. Dennoch, so Dreyer, sei durch die Auseinandersetzung mit den Gesetzen, welche im Zuge der Red Scare verabschiedet wurden, die Meinungsfreiheit in den USA auf längere Sicht gestärkt worden.
Einen vielschichtigen Einblick in die Rezeption der Oktoberrevolution in China gab GOTELIND MÜLLER-SAINI (Heidelberg). Die Oktoberrevolution gelte in China bis heute als das Gründungsmoment des Kommunismus und damit in indirektem Sinne auch der Chinesischen Volksrepublik. Den Höhepunkt der Rezeption der Oktoberrevolution habe Mao Tse-tungs Kampagne des „Großen Sprung nach vorn“ (1956/57) gebildet. Im Verlauf von Nikita Chruščevs Regierungszeit und spätestens mit der chinesischen Kulturrevolution (1966 bis 1976) habe sich China jedoch zunehmend vom sowjetischen Weg abgegrenzt. Der Kollaps des sowjetischen Systems 1989/90 gelte als Bestätigung des überlegenen chinesischen Modells. In der heutigen chinesischen Forschung würden zunehmend streithafte Debatten um das Erbe und die Folgen der Oktoberrevolution geführt. Das Narrativ von China als dem „wahren Erben“ der Oktoberrevolution, so Müller-Saini, erlebe dabei jedoch eine neue Renaissance.
GERO FEDTKE (Weimar) schilderte die Rezeption der russischen Revolutionen für die muslimischen Minderheiten in Zentralasien, speziell Turkestan. Für diese Region sei die Februarrevolution das prägendere Ereignis gewesen, da diese de facto die politische Unabhängigkeit des Emirats Buchara vom sowjetischen Zarenreich nach sich zog und infolgedessen den Konflikt innerhalb des Emirats zwischen muslimischen Progressisten und Traditionalisten verstärkt habe. Die muslimischen Progressisten seien von den Ideen der russischen Revolutionen inspiriert worden, entwickelten jedoch eine eigene Lesart bzw. stimmten nicht mit allen Punkten der russischen Sozialisten überein. Insbesondere in Fragen des Eigentums und der Familie distanzierten sie sich von den Vorbildern. Sowohl in Turkestan als auch den angrenzenden Ländern hatte die Sympathie muslimischer Bevölkerungsteile für die revolutionären Ereignisse in Russland eine antikolonialistische Stoßrichtung und wurde Bezugspunkt für eine länderübergreifende Solidarisierung, wie sie beispielsweise im Kongress der Muslime Turkestans 1917 zutage trat.
Das 16. Symposium der Stiftung Ettersberg leistete beides: großangelegte Gedankenskizzen zu den politischen wie ideellen Linien, welche sich von der Oktoberrevolution ausgehend bis in die heutige Zeit erstrecken ebenso wie historische Situationen erhellende Fallstudien. Den Teilnehmenden erschloss sich eine vielschichtige, durch Persönlichkeiten wie Phänomene geprägte Landschaft des Kommunismus – Sozialismus –Bolschewismus.
Die einzige Großregion, welche auf der mentalen Landkarte des Symposiums weiß blieb, war Lateinamerika. Insbesondere im Vergleich zur US-amerikanischen Red Scare wäre ein Blick auf die südlichen Nachbarn wünschenswert gewesen. Mir scheint jedoch, dass diese Leerstelle symptomatisch für eine generell schwach ausgeprägte überseeische Verbindungslinie der deutschen Kommunismusforschung steht. So sei an dieser Stelle zu neuen wissenschaftlichen Wegen eines transatlantischen Brückenschlags ermutigt, um die globalen Dimensionen des Kommunismus – Sozialismus – Bolschewismus großflächiger auszuleuchten.
Konferenzübersicht:
Eröffnung
Jörg Ganzenmüller (Weimar / Jena)
Gerd Koenen (Frankfurt am Main): Die Oktoberrevolution und das 20. Jahrhundert
SEKTION I: DIE OKTOBERREVOLUTION UND DIE DEUTSCHE LINKE
Moderation: Jörg Ganzenmüller (Weimar / Jena)
Bernhard Bayerlein (Bochum): Revolutionsvorstellungen und Revolutionsvorbereitungen der KPD
Eva Oberloskamp (München): Nachrichten aus einem gelobten Land: Die Reisen Linksintellektueller in die frühe Sowjetunion
SEKTION II: ANTIBOLSCHEWISMUS ALS ABWEHRREAKTION AUF DIE OKTOBERREVOLUTION
Moderation: Christiane Kuller (Erfurt)
Karsten Brüggemann (Tallinn): Katalysatoren des Antibolschewismus: Deutschbaltische Emigranten und die Oktoberrevolution
Agnieszka Pufelska (Lüneburg): Die Erfindung des „Judäo-Bolschewismus“ und dessen Resonanz in der Weimarer Republik
SEKTION III: DIE RESONANZ DER OKTOBERREVOLUTION IN EUROPA
Moderation: Malte Rolf (Bamberg)
Thomas Kroll (Jena): Großbritannien/Frankreich: 1920er Jahre
Hans Woller (München): Italien
Julia Richers (Bern): Ungarn: Räterepublik und Gegenrevolution
SEKTION IV: DER GLOBALE RESONANZRAUM DER OKTOBERREVOLUTION
Moderation: Franz-Josef Schlichting (Erfurt)
Michael Dreyer (Jena): „Red Scare“ in den USA
Gotelind Müller-Saini (Heidelberg): Vorbild Russland? Die Oktoberrevolution in China
Gero Fedtke (Weimar): Oktoberrevolution und Islam: Muslimkommunisten in Turkestan
SCHLUSSWORT
Franz-Josef Schlichting (Erfurt)