W. Keim: Vermessene Disziplin

Titel
Vermessene Disziplin. Zum konterhegemonialen Potential afrikanischer und lateinamerikanischer Soziologien


Autor(en)
Keim, Wiebke
Anzahl Seiten
564 S.
Preis
€ 35,80
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Stefanie Baumert, Universität Leipzig

Was wissen wir über die Sozialwissenschaften in den Ländern des globalen Südens? Woher kommt die scheinbar marginale Situation afrikanischer und lateinamerikanischer Soziologien im weltweiten Wissenschaftsbetrieb? Welchen Beitrag leisten Soziologinnen und Soziologen aus dem Süden für die Disziplin als Ganze und welche Bedeutung haben diese Soziologien?
Die „verkehrte Welt“ auf dem Titelblatt des zu besprechenden Buches – eine auf den Kopf gestellte Weltkarte mit dem afrikanischen Kontinent im Mittelpunkt – lädt ein, sich irritieren zu lassen, den nordatlantisch geschulten Blick auf die Soziologie als Disziplin abzulegen und der Frage auf den Grund zu gehen, warum Texte über afrikanische, lateinamerikanische und asiatische Gesellschaften scheinbar ausschließlich im Norden geschrieben werden bzw. herauszufinden, ob dem tatsächlich so ist.1

Wiebke Keim legt mit der überarbeiteten Version ihrer Dissertation ein Buch vor, das sich aus wissenschaftssoziologischer Perspektive mit der Wissenschaft des Südens beschäftigt. Angesiedelt an der Schnittstelle zwischen Wissenschaftssoziologie und Globalisierungsforschung bedient es eine innovative und im Entstehen begriffene Forschungsrichtung: die Auseinandersetzung mit Wissensproduktion, Diffusion und Rezeption sowie Kommunikation von (sozialwissenschaftlichem) Wissen im globalen Süden und in der Welt.

Die Arbeit nährt sich aus dem kritischen Bestreben, Ungleichheiten im globalen Wissenschaftssystem aufzudecken, Gründe ebenso wie Auswirkungen dieser Ungleichheiten aufzuzeigen und eine Neuverortung und -bewertung der Wissensproduktion vorzunehmen (S.21). Im Zentrum steht dabei ein Spannungsfeld, das einerseits durch die Selbstwahrnehmung der Soziologie als nomothetische Wissenschaft mit universellem Anspruch gekennzeichnet ist und andererseits durch die Annahme bestimmt wird, dass sich die Disziplin vielmehr aus lokalen und nationalen Soziologien zusammensetzt und damit auch durch regionale Besonderheiten charakterisiert wird.

Den Ausgangspunkt und theoretischen Rahmen der Arbeit bildet die Konstruktion eines Zentrum-Peripherie-Modells der Wissenschaften, aus dem über die geographische „Vermessung“ der Soziologie in ihrer internationalen Ausbreitung eine räumliche Konzentration und nordatlantische Vorherrschaft festgestellt wird. Keims zentrale Erkenntnis des Vergleichs der Wissenschaftssysteme in Nord und Süd ist eine ungleiche Arbeitsteilung in Zentrum und Peripherie. Diese Ungleichheit lässt sich unmittelbar aus der kolonialen Vergangenheit und folglich akademischer Abhängigkeit ableiten. Den Beobachtungen und Belegen zufolge befasst sich der sozialwissenschaftliche Süden keinesfalls ausschließlich, jedoch mehrheitlich mit den unteren Stufen von Wissenschaft, d.h. mit lokalen und wenig abstrahierenden Fragestellungen, während Wissenschaftler des globalen Nordens prestigeträchtigere Fragestellungen, die allgemeine Gültigkeit versprechen, für sich beanspruchen. Die Kontinente des Südens werden als Regionen mit eigenen wissenschaftlichen Realitäten nur wenig ernst genommen. Afrika und Lateinamerika – so die Wahrnehmung – gelten in der Regel als Labore, als Versuchsfelder für die Bestätigung von im Norden entwickelten allgemeinen Theorien.
In einem zweiten theoretischen Abschnitt zeichnet Keim mit dem Konzept der konterhegemonialen Strömung einen Weg auf, wie die nordatlantische Dominanz wenn schon nicht überwunden, so doch zumindest herausgefordert werden kann. Unter konterhegemonialen Strömungen versteht sie „eigenständige, originelle Ansätze […], die aus der soziologischen Beschäftigung mit lokal spezifischen gesellschaftlichen Problembereichen entstehen“ (S. 167f). Diese Ansätze gelten als losgelöst vom internationalen soziologischen „Mainstream“ und verfügen – über längere Zeiträume betrachtet – über das Potential, in autonomen Denktraditionen zu münden. Zwei Schritte sind notwendig, um die Dominanz des Zentrums zu überwinden. Schritt eins ist eine lokale Beschäftigung mit lokalen Problemen, die sich nicht aus der internationalen Literatur ableiten lassen und gleichermaßen nicht deren Anerkennung bedürfen, d.h. die Erzeugung von sozialer Relevanz durch der eigenen Realität entnommene Problemstellungen. Der zweite Schritt besteht in der Schaffung von neuen lokalen Konzepten, so dass soziologische Aussagen an theoretischer Abstraktion gewinnen, bestehende Theorien verworfen und neue entwickelt werden können (S.195f).

Ob es sich bei der Herausbildung und Entwicklung der südafrikanischen Labour Studies, die im Zuge von Apartheid und Freiheitskampf in den 1970er Jahren als soziologische Subdisziplin entstanden, um eine solche konterhegemoniale Strömung handelt, welche Charakteristiken sie aufweisen und ob es sich hierbei lediglich um einen zeitlich begrenzten historischen Sonderfall handelt, wird in Teil II des Buches untersucht. Die Fallstudie bildet inhaltlich und nach Anzahl der Seiten bemessen den Schwerpunkt der Arbeit.
Den Beginn der Labour Studies in Südafrika markierte die Kontaktaufnahme regierungskritischer Sozialwissenschaftler aus den weißen englischsprachigen Universitäten mit schwarzen Arbeiterorganisationen, die die einzige gesellschaftliche Kraft gegen die Apartheid ausmachten. Aus anfänglichen Auftragsarbeiten für die Gewerkschaften gingen ganze Forschungsprogramme hervor, die sich mit verschiedensten Elementen der Arbeitswelt befassten und die die politisch und sozial motivierte Entwicklung der südafrikanische Arbeits- und Industriesoziologie in Lehre und Forschung besiegelten.
Eingängig werden anhand von Experteninterviews die Entwicklung der Disziplin in Südafrika von der Gründungsphase bis zum Ende der Apartheid sowie die Herausforderungen seit 1994 nachgezeichnet, ihre gesellschaftliche und politische Bedeutung für die Antiapartheidbewegung sowie die für die südafrikanische Soziologie als Ganze herausgearbeitet. Die Ergebnisse der Studie legen nahe, die Labour Studies als Beispiel konterhegemonialer Strömungen zu klassifizieren. Durch die Unterstützung der Arbeiterbewegung und den ständigen Austausch mit dieser waren die Labour Studies gesellschaftlich gut verankert, was sich auf die Herausbildung origineller Fragestellungen und Theorien positiv auswirkte, die Abhängigkeit von importierter Soziologie verminderte und die Möglichkeit bot, evidenzgeleitete angewandte Sozialforschung unter höchster gesellschaftlicher Legitimität zu betreiben. Welchen Einfluss das Ende der Apartheid auf den konterhegemonialen Charakter der Labour Studies hat, wird hier nur angedeutet, kann jedoch noch nicht abschließend bewertet werden.

Die von Wiebke Keim vorgelegte Arbeit zeichnet sich durch eine interessante Fragestellung, eine klare Struktur, einen logischen Aufbau und handwerkliches Geschick aus und ermöglicht dadurch ein anspruchsvolles Lesevergnügen. Das reichhaltige und sehr gut recherchierte Datenmaterial unterstreicht anschaulich den ambitionierten theoretischen Anspruch der Arbeit. Stellvertretend seien hier die Interviews mit Vertretern der südafrikanischen Labour Studies genannt. Weitere Beispiele sind die Aufbereitung der Aufenthalte von Gastwissenschaftlern und ihrer Themengebiete an der Ecoles des Hautes Etudes des Sciences Sociaux als Beleg für die ungleiche Arbeitsteilung von Sozialwissenschaftlern aus Nord und Süd sowie die Analyse internationaler bibliographischer Datenbanken zur Bestimmung von Marginalität und Zentralität im Publikations- und Rezeptionsprozess.
Es gelingt Wiebke Keim, einen spannenden Rahmen aus praktischem Problem, theoretischer Lücke, anregendem Datenmaterial und der Bestätigung ihrer Hypothese von der Existenz konterhegemonialer Strömungen zu erzeugen.
Resümierend stellt sie fest, dass die nordatlantische Zentralität und die südliche Marginalität innerhalb der Soziologie einer angemessenen Entwicklung der Disziplin nicht zuträglich seien, bestehende Marginalitäten kontinuierlich reproduziert werden und den Universalitätsanspruch der Disziplin geradezu „vermessen“ und eurozentristisch erscheinen lassen. Bedauerlich ist, dass aus Platz- und Zeitgründen die ursprünglich geplante zweite Fallstudie zu den Migrationsstudien in Mexiko als weiterer Beleg für die Existenz konterhegemonialer Strömungen keinen Eingang in die Arbeit fand, was der Beweisführung ein wenig die Überzeugungskraft nimmt.
Es bleibt zu hoffen, dass diese Arbeit fortgeführt wird und weitere Beispiele aufbereitet werden – als konterhegemoniale Strömung gegen die dominante nordatlantische Soziologie und ihren Anspruch auf Universalismus, als Bestärkung existierender bzw. im Entstehen befindlicher originärer lokaler Soziologien sowie als weiteren Beweis für die Existenz konterhegemonialer Strömungen.

Anmerkungen:
1 Der Fakt, dass die Soziologie als Disziplin in allen Ländern der Erde existent ist, wird hier als gegeben vorausgesetzt.

Redaktion
Veröffentlicht am
21.05.2010
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/