G. K. Bhambra: Rethinking Modernity

Titel
Rethinking Modernity. Postcolonialism and the Sociological Imagination


Autor(en)
Bhambra, Gurminder K.
Erschienen
Basingstoke 2009: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
€ 24,99
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Rüdiger Graf, Ruhr-Universität Bochum / Center for European Studies, Harvard University

In ihrer Studie Rethinking Modernity unterzieht Gurminder Bhambra die Idee der Moderne bzw. Modernisierung und ihre Stellung in der soziologischen Theoriebildung einer fundamentalen Kritik im Lichte der Debatten, die unter dem Stichwort des Postkolonialismus geführt werden. Ihre 2007 zuerst veröffentlichte Arbeit wurde im Jahr 2008 von der British Sociological Association mit dem Philip Abrams Memorial Prize als bestes soziologisches Erstlingswerk ausgezeichnet und liegt jetzt als erschwinglichere Taschenbuchausgabe vor. Auf 150 Seiten versucht Bhambra nichts weniger als den Nachweis, dass alle sozialwissenschaftlichen Theorien der Moderne bzw. der Modernisierung auf zwei falschen Annahmen beruhen, nämlich des fundamentalen Bruchs der Moderne mit früheren, traditionalen Organisationsformen und der Differenz Europas zum Rest der Welt. Darüber hinaus plädiert sie für eine adäquatere Theorie der „connected histories“. Insgesamt wird allerdings dem destruktiven Teil der Dekonstruktion des Eurozentrismus und seiner Theorien der Moderne wesentlich mehr Platz zugestanden, als dem konstruktiven Teil einer alternativen Theoriebildung, die nur am Rande vorkommt und auch im zehnseitigen Fazit nicht genau ausformuliert wird.

Bhambras Arbeit zerfällt in zwei große Teile: Im ersten Teil rekonstruiert sie in drei Kapiteln sozialwissenschaftliche Theorien der Moderne vom 18. und 19. Jahrhundert bis zu gegenwärtigen Vorstellungen von „multiple modernities“. Schon hier kritisiert sie mit Verve den Eurozentrismus dieser Theorien, das heißt „the belief, implicit or otherwise, in the world historical significance of events believed to have developed endogenously within the cultural-geographical sphere of Europe“ (S. 5). Schon bei den schottischen Moralphilosophen wie insbesondere Adam Smith diagnostiziert Bhambra die Ausblendung der globalen Bedingungen des „Reichtums der Nationen“, weil sie wichtige Faktoren wie den Sklavenhandel nicht berücksichtigten (S. 41). Auch in der klassischen sozialwissenschaftlichen Theoriebildung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts fehle der Bezug auf den Kolonialismus und damit auch die Abschätzung seiner Bedeutung für die europäische Moderne. Außereuropäische Regionen, so Bhambra, kommen nur vergleichend als der andere, noch nicht nach europäischen Standards modernisierte Teil der Welt vor. Dieses Defizit überwinde auch die Idee der „multiple modernities“ nicht, die zwar den Eurozentrismus zu vermeiden suche, aber noch immer zu eng auf Europa bezogen bleibe (S. 58). Auch Versuche, der Perspektive der Kolonisatoren eine Geschichte aus der Perspektive der Subalternen entgegenzustellen, bewertet Bhambra kritisch, weil so die koloniale Hierarchie unter umgekehrten Vorzeichen reproduziert werde (S. 33). Überzeugend spricht sie sich zudem gegen die inzwischen zur Floskel gewordene Interpretation der Entstehung der Sozialwissenschaften als Reaktion auf die Moderne aus, da die Definition der Moderne als Bruch mit traditionalen Ordnungsmodellen selbst ein Produkt sozialwissenschaftlicher Theoriebildung sei (S. 53).

Im zweiten Teil ihrer Studie widmet sich Bhambra dann drei Ereignissen, die eine zentrale Rolle in den Erzählungen, in ihren Worten „Mythen“, einer endogenen europäischen Modernisierung spielen: der Renaissance, der Französischen Revolution und der Industriellen Revolution. In allen drei Fällen versucht sie, die Beschreibung der Ereignisse als radikalen Bruch mit vorherigen Konstellationen in Frage zu stellen und darüber hinaus die enge Verbindung der europäischen Entwicklung mit der außereuropäischen Welt nachzuweisen. Gegen die Interpretation der Renaissance als Beginn der Moderne durch die Entdeckung klassischer Texte, die Entstehung des Humanismus, des historischen Bewusstseins und neue Strömungen in Kunst und Wissenschaft führt Bhambra neue Forschungen ins Feld, die in diesen Bereichen umfassende mittelalterliche Kontinuitäten herausarbeiten (S. 93). Darüber hinaus betont sie die enge Verbindung und den Austausch mit östlichen, arabischen und muslimischen Kulturen, die bei der Konstruktion einer europäischen Moderne oft ausgeblendet würden. Ganz ähnlich kritisiert sie auf der Basis neuer Forschungen zur Industriellen Revolution deren Beschreibung als eine von England ausgehende fundamentale Wandlung der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die eine grundsätzlich neue, moderne Entwicklungsdynamik geschaffen habe. Zum einen seien der Bruch und seine Anfänge nur schwer genau zu lokalisieren und periodisieren und zum anderen verdecke das Modell des „eurozentrischen Diffusionismus“ den fundamentalen Beitrag, den anderen Weltregionen – insbesondere Asien – sowie internationale Rohstoff- und Menschenhandelskreisläufe leisteten (S. 135-141). Etwas defensiver sind Bhambras Ausführungen zu den Interpretationen, die in der französischen Revolution den Beginn der Volkssouveränität und des modernen Nationalismus sehen. Die Vorstellung eines Ursprungsnationalstaates, der dann von anderen imitiert werde, sei nur eine Möglichkeit, die Geschichte zu erzählen, gegen die sie Forschungen anführt, die gerade die Kolonien als wichtige Laboratorien staatlicher Institutionen und Regierungspraktiken beschreiben (S. 122).

Grundsätzlich sind viele Kritikpunkte an einer in Bhambras Sinne eurozentrischen Theorie der Modernisierung – und daher auch ihre grundsätzlichen Vorbehalte gegen den Begriff der Moderne – sehr plausibel, aber sie sind nicht eben neu. In der umfangreichen Postkolonialismus-Diskussion der letzten zwanzig Jahre sind sie so oder zumindest so ähnlich bereits formuliert worden. Da Bhambra diese Diskussionen gut kennt und intensiv rezipiert, wirkt ihre Arbeit über weite Strecken wie ein ausgeschütteter Zettelkasten, wo zwar alle wesentlichen Autorinnen und Autoren vorkommen, sich aber deutliche Redundanzen ergeben, weil sich alle mit gleichen oder ähnlichen Fragen beschäftigten. Trotz des häufigen Gebrauchs der ersten Person Singular ist nicht immer deutlich, wo Bhambra über die zitierten Autoren hinausgeht und wo sie sie nur geschickt arrangiert. Nichtsdestoweniger eignet sich Bhambras Studie gut als Einführung in die umfangreiche postkoloniale Kritik an eurozentrischen Modernisierungstheorien, da sie äußerst klar und verständlich geschrieben ist, was man von einigen der von ihr zitierten Autorinnen und Autoren nicht behaupten kann.

Bhambras eigener Beitrag zu diesen Debatten bleibt jedoch blass, vor allem weil sie die Idee der „connected histories“ nicht hinreichend ausarbeitet. Connected histories sollen Geschichten sein, die nicht von einem einzelnen oder gar einem universalisierten Standpunkt aus geschrieben werden (S. 31). Sie seien anderen Formen der Geschichtsschreibung überlegen, argumentiert Bhambra, weil sie mehr Phänomene und Erfahrungen integrieren könnten (S. 153). Bei den connected histories scheint es sich also weniger um eine Theorie zu handeln, deren Erklärungsanspruch den sozialwissenschaftlichen Modernisierungstheorien gleich kommen könnte, als vielmehr um eine Methode oder Forschungspraxis. Wie diese genau aussehen soll und wie der eigene Standpunkt überwunden werden kann, erfährt man in Rethinking Modernity leider nicht. Auch bleibt unklar, wo sich der Standpunkt befindet, von dem aus Bhambra Geschichten als besser oder schlechter bewerten kann, nachdem sie vorher alle hegemonialen Standpunkte verabschiedet hat. Zu den forschungspraktischen Konsequenzen ihrer Destruktion eurozentrischer Modernitätstheorien hätte man sich also aus historiographischer Perspektive weitere Ausführungen gewünscht. Diese Schwäche im konstruktiven Teil nimmt allerdings der Kritik am Begriff der Moderne nichts von ihrer Schärfe und Durchschlagskraft. „Moderne“ und „Modernisierung“ sollten also besser als Quellenbegriffe in ihrer historischen Wirkmächtigkeit untersucht werden, anstatt sie zu Analysebegriffen zu erheben, aber dies hat schon Frederick Cooper festgestellt, dessen Colonialism in Question von Bhambra offenbar nicht rezipiert wurde.1

Anmerkung:
1 Frederick Cooper, Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History, Berkeley/CA 2005, S. 113-153.

Redaktion
Veröffentlicht am
29.10.2010
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension