Die Mediatorin und Friedensforscherin Andréa Eleonore Vermeer hat mit ihrem auf Englisch erschienenen Buch „Peacebuilding in Iraq“ ihre Doktorarbeit über die Rolle der irakischen Zivilgesellschaft in der Friedensarbeit publiziert.
Bei der Beschreibung des Gegenstands ihrer Arbeit zeigt sich jedoch bereits eine der Schwächen ihres Buches, nämlich der Mangel an kritischer Begriffsarbeit. Obwohl Vermeer die Zivilgesellschaft bzw. „Civil society actors“ immer wieder als zentrale Begriffe verwendet, findet sich keine Definition ihres Verständnisses von Zivilgesellschaft. Im Literaturverzeichnis fehlt Gramsci, der den Begriff im Wesentlichen prägte, völlig. Gramsci, der den Begriff allerdings anders definierte als er heute von JournalistInnen und PolitikerInnen verwendet wird, hätte es ermöglicht einen präziseren Blick auf die Wechselwirkung von Staat und Zivilgesellschaft (die ja für Gramsci neben der bürokratischen Staatsmaschine ein Teil des integralen Staates darstellt) zu gewinnen. Vermeer verwendet den Begriff der Zivilgesellschaft jedoch offenbar einfach nur als Synonym für NGOs und verpasst damit auch die Chance sich einen kritischen Begriff von Staatlichkeit zu erarbeiten. Ohne dies explizit zu begründen, steht bei ihr implizit die Zivilgesellschaft einem monolithisch vorgestellten Staat gegenüber.
Trotz dieses Mangels an theoretischer Basis ist ihre Arbeit durchaus interessant, wenn es um die Zugänge von NGOs und ihren MitarbeiterInnen, sowie die Strukturen von NGOs im Irak und ihrer Zusammenarbeit mit internationalen Geldgebern geht. In der auf 40 qualitativen Interviews basierenden Arbeit lässt Vermeer irakische Friedensaktivisten darstellen, „wie sie ihre Projekte zur Unterstützung von Demokratisierungsprozessen, Stärkung der Zivilgesellschaft und die Einführung von Menschenrechten einschätzen. Hierbei war die zentrale Fragestellung, welche Rolle Normen und Werten in einer traditionellen eher kollektiv geprägten Gesellschaft spielen und inwieweit diese im Gegensatz zu jenen Werten und Normen der konkreten Friedensarbeit stehen und somit Auswirkungen auf irakische und kurdischen Friedensaktivisten hat.“ (S. 9)
Auch hier wäre es schön gewesen, wenn die Autorin genauer definieren würde, wen sie zu dieser Kategorie der „Friedensaktivisten“ zählt bzw. was jemanden im Irak zu einem Friedensaktivisten macht. Anhand der im Buch behandelten NGOs lässt sich dies nur schwer nachvollziehen, da die beschriebenen NGOs in sehr unterschiedlichen Bereichen aktiv sind. Trotzdem ergeben sich in der Folge interessante Einblicke in die Arbeit der unterschiedlichen beschriebenen NGOs und ihrer Sichtweisen auf ihre eigenen Gesellschaften.
Im Mittelpunkt ihrer Analyse steht die Iraqi Al-Amal Association, die bereits 1992 nach dem zweiten Golfkrieg gegründet wurde und die bis 2003 überwiegend in den autonomen Gebieten Irakisch-Kurdistans aktiv war. Nach dem Sturz Saddam Husseins verlegte die NGO ihren Sitz jedoch sofort nach Bagdhad und wurde in den neu befreiten überwiegend arabischsprachigen Gebieten aktiv. Dabei erhielt die NGO immer wieder finanzielle Unterstützung internationaler Geldgeber.
Vermeer fokussiert die Interviews mit den AktivistInnen der Iraqi Al-Amal Association und anderer NGOs zunächst auf das, was sie als ‚Tradition‘ und ‚Kultur‘ beschreibt, wobei sie zu dem Schluss kommt, dass diese für irakische Kurdinnen und Kurden sehr ähnlich wären wie für arabische oder turkmenischen Iraqis: „the interviewees share the same norms and values, for one it is Kurdish, for the other Arabic or Turkish.“ (S. 44)
Neben der Frage nach dem Einfluss von Kultur und Tradition auf die AktivistInnen versucht Vermeer den Fragen nachzugehen, welches Verhältnis lokale AktivistInnen von NGOs zu ihrer Gesellschaft haben und wie sie mit normativen Systemen umgehen, die sich gegen soziale Veränderungen wehren. Sie fragt danach, wie die AktivistInnen selbst ihren Einfluss auf die Gesellschaft einschätzen und welche Auswirkungen die policy internationaler GeldgeberInnen auf die Arbeit vor Ort hat.
Dabei kommt sie zum Schluss, dass die Arbeit von ‚Civil society organizations‘ (SCO) zu Konflikten für AktivistInnen führen kann: „One could conclude that the impact of peacebuilding activities on the social order in Iraq and ist maintenance are compelled to execute specific actions because of their deprivation.” (S. 241)
Schließlich unterbreitet Vermeer konkrete Vorschläge, die zu einer Stärkung der Zivilgesellschaft führen sollen. Sie empfiehlt Kooperationen mit dem Bildungssystem, ein stärkeres Selbstbewusstsein zivilgesellschaftlicher AktivistInnen, die Inklusion religiöser Gruppen und die die Adaption des Konzepts von Insider Mediatoren: „The concept of insider and outsider mediators could be a major task […] to work with insiders, who have in-depth knowledge of the situation in Bagdhad, as well as close relationship to the ethnic and religious parties. The advantage is a ‚cultural and normative closeness between mediator and the conflict parties.’” (S. 247)
Hier wäre es interessant gewesen auch die Risiken dieser Strategien zu diskutieren. Selbstverständlich sind religiöse, tribale und ethnische Gruppen im Irak Teil der sozialen Realität, die nicht ignoriert werden darf. Trotzdem würde es wohl an der konkreten Art der Einbeziehung religiöser und tribalen Akteure liegen, ob damit tatsächlich eine Stärkung der Zivilgesellschaft und nicht eine Stärkung der religiösen und tribalen Akteure verbunden wäre.
Auch wenn es hier durchaus weiteren Diskussionsbedarf gäbe, ist das Buch vor allem aufgrund seiner qualitativen Interviews mit unterschiedlichen NGO-AktivistInnen interessant. Von FriedensaktivistInnen, PolitikerInnen, WissenschafterInnen, ÄrztInnen, JournalistInnen bis hin zu Hausfrauen wurden sehr unterschiedliche Gruppen befragt. Im Fokus steht dabei die Frage wie die einzelnen Personen ihre eigenen individuellen Zugänge und Ansprüche mit kollektiven Interessen der Gesellschaft ausgleichen können und wie sie mit daraus resultierenden Konflikten umgehen. Diese Interviews werden auch in längeren Passagen zitiert und geben durchaus authentische Perspektiven irakischer NGO-AktivistInnen wieder. Ob trotz der ausführlich dargelegten Methodik die theoretischen Ansätze zur Interpretation dieser Interviews ausreichend sind, ist jedoch fraglich. Vermeers Arbeit ist im Sinne Emile Durkheims sehr stark auf die Wertefrage konzentriert und blendet materielle Lebens- und Arbeitsbedingungen weitgehend aus. Ihr Ansatz betrachtet die beschriebenen NGOs als „Werte-Unternehmen“ (S. 10) und reduziert Gesellschaft damit tendenziell auf einen Markt, auf dem unterschiedliche Werte miteinander konkurrieren. Ob ein solcher, an der liberalen Marktwirtschaft angelehnter Zugang, geeignet ist die irakische Gesellschaft und das Wirken von NGOs in ihr zu beschreiben, werden die LeserInnen ihrer Arbeit vermutlich höchst unterschiedlich beurteilen.