Studien zu europäischen Kolonialreichen haben seit einiger Zeit Konjunktur. Aber auch der japanische Kolonialismus ist in den letzten Dekaden sowohl im englischsprachigen Raum als auch in Japan und den ehemaligen Kolonien selbst verstärkt in den Blickwinkel der Forschung geraten. Insbesondere seit den 1990er-Jahren entstanden zudem Untersuchungen zur japanischen Kolonialherrschaft in Taiwan, die im Vergleich zur Herrschaft in Korea oder der Mandschurei lange wenig beachtet wurde. Die seit einigen Jahren unternommenen Forschungen befassen sich oft mit dem Phänomen einer „kolonialen Moderne“, Aneignungsprozessen der kolonisierten Bevölkerung oder Zivilisierungsprogrammen im Rahmen der von der japanischen Regierung propagierten Herrschaftsform des wissenschaftlichen Kolonialismus. In dieses Feld einordnen lassen sich insbesondere zahlreiche chinesischsprachige Publikationen zur japanischen Kolonialmedizin in Taiwan, oder auf Englisch etwa die eindrucksvolle Studie von Mirjam Ming-Cheng Lo.1
An derartige Untersuchungen, die sich oft auf die jüngste angloamerikanische Kolonialismusforschung und deren Thesen beziehen, schließt das Buch von Michael Shiyung Liu „Prescribing Colonization: The Role of Medical Practices and Policies in Japan-Ruled Taiwan, 1895-1945“ an. Liu formuliert drei Ziele, die er mit dem Buch erfüllen möchte. Erstens geht es ihm darum, zu beschreiben, wie sich die japanische Kolonialmedizin in Taiwan formiert hat. Zweitens zielt er darauf ab, die Erfahrungen in Taiwan in den Kontext internationalen Transfers von medizinischem Wissen zu stellen. Drittens schließlich sollen in dem Buch Faktoren analysiert werden, die den Plan der japanischen Kolonialmedizin maßgeblich beeinflussten. Dabei handle es sich, so der Autor, um die erste Untersuchung, die zeitgenössische Diskurse innerhalb des japanischen Kolonialismus in Bezug setzt zu der Welle der Globalisierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zudem ist es ein Anliegen Lius zu zeigen, dass die Analyse der japanischen Kolonialmedizin in Taiwan Theorien modifizieren kann, die seines Erachtens von zu vereinfachten Narrativen ausgehen, um zu erklären, wie westliche Wissenschaftsmodelle sich in nicht-europäischen Weltregionen verbreitet hätten. Im Gegensatz zu derartigen Ansätzen möchte er die Kolonialmedizin Japans als einen „comparative counterpart“ und nicht eine „copycat“ der britischen Kolonialmedizin porträtieren (S.17). Der Autor sieht die Entstehung einer japanischen Kolonialmedizin stattdessen in enger Verbindung mit der japanischen Übernahme einer deutschen Staatsmedizin. Dies ist jedoch kein Ansatz, der nicht ebenfalls bereits seit längerem in der Forschung vertreten wird.
Im ersten Kapitel nach der Einleitung erfährt man deshalb auch, wie in Japan selbst Modelle von Sozialmedizin, Sozialhygiene und eben Staatsmedizin insbesondere nach dem deutschen Vorbild modelliert wurden, aber teilweise auch mit Ideen aus der traditionellen Medizin verschmolzen. Dieser Schluss ist an sich nicht neu, so bezieht sich Liu in diesem Kapitel auch größtenteils auf Sekundärliteratur und kaum auf Quellen.
Im zweiten Kapitel geht es um die Umsetzung der japanischen Medizin im kolonialen Taiwan. Dabei führt Liu insbesondere den Mediziner und Kolonialbeamten Gotô Shinpei auf und betont, dass die Adaption der kolonialen Medizin sich von der Kolonialmedizin in britischen Kolonien unterscheide und stattdessen das Augenmerk auf die deutschen Einflüsse zu richten sei. Das Argument leuchtet insofern nicht ein, als dass der Autor nur auf die Zustände in den britischen Kolonien verweist und nicht auf diejenigen in den deutschen Kolonien, denn dort wäre er wohl sogar noch weniger auf mit der taiwanesischen Situation vergleichbare Formen einer deutschen Kolonialmedizin gestoßen. Zudem lassen sich ja nicht Einflüsse einer in der deutschen Metropole entwickelten Staatsmedizin mit der britischen kolonialen Situation vergleichen, sondern dann müssten die medizinischen Zustände in England selbst als Vergleichsebene herangezogen werden. Liu weist zudem darauf hin, dass Gotô sich bei der Umsetzung medizinischer Strukturen in Taiwan auch auf chinesisches Wissen gestützt hat (zum Beispiel S. 50). Dieser sehr interessante und im Gegensatz zu den deutschen Einflüssen bisher wenig untersuchte Aspekt hätte vielleicht in Hinblick auf die Frage vertieft werden können, in welchem Verhältnis die beiden standen und welche Hybridisierungsprozesse sich durch die unterschiedlichen Aneignungen abspielten.
Auf Hybridisierungen der so genannten deutschen Staatsmedizin in den 1920er-Jahren in der Kolonie Taiwan kommt das dritte Kapitel zwar zu sprechen, doch geht es dabei vielmehr um soziale und wirtschaftliche Komponenten. So beschreibt der Autor Aneignungen seitens der Kolonisierten – wie sie unter anderem bereits ausführlich in der Untersuchung von Mirjam Ming-Cheng Lo beschrieben wurden –, andererseits aber auch professionelle Unterscheidungen und Machtasymmetrien zwischen etwa der klinischen Medizin, der Labormedizin und der Pharmakologie, wie Liu die einzelnen Bereiche benennt. Bemerkenswert sind dabei die Passagen zu Hybridisierungsprozessen zwischen unterschiedlichen medizinischen Herangehensweisen. So nennt Liu einerseits durch die Kolonialmacht auf die Insel gebrachte Vorstellungen von Tropenmedizin und die Behandlung von Krankheiten, die als soziales Phänomen eingestuft und mit chinesischen, unzivilisierten Verhaltensmustern gleichgesetzt wurden. Andererseits diskutiert er den Verkauf und die Anwendung chinesischer Medizin insbesondere im Bereich der Pharmakologie.
Im vierten Kapitel geht Liu auf die medizinischen Entwicklungen in den 1930er- und 1940er-Jahren ein. Besonders aufschlussreich sind seine Ausführungen zu den Veränderungen, die sich im Zuge der japanischen Vorbereitungen für den Pazifik-Krieg und die so genannte Südexpansion ergaben. Überzeugend stellt der Autor dar, welche Rolle taiwanesische Forschungsinstitutionen in der Entwicklung von neuen Programmen der „Entwicklungsmedizin“ (kaihatsu igaku) und „Südseemedizin“ (nanpô igaku, von Liu allerdings fälschlicherweise als nanhô igaku bezeichnet) spielten. Mit letzterer sollte eine spezifisch japanische Variante der Tropenmedizin geschaffen werden, um sich damit von den europäischen Kolonialmächten abzusetzen. Ebenfalls zur Sprache kommen Transfers des taiwanesischen Modells der Medizin in andere japanische Kolonien. Dabei bespricht Liu die Verbindungen zwischen Taiwan und der Mandschurei insbesondere mit Bezug auf das Forschungsinstitut der Mandschurischen Eisenbahn. Auch beschreibt er in diesem Zusammenhang die Zusammenarbeit zwischen chinesischen Forschern und japanischen Medizinern in einer Forschungsinstitution in Shanghai, wobei er auch auf politischen Implikationen verweist.
Abschließend fasst der Autor die einzelnen Kapitel noch einmal zusammen, wobei er – wie bereits vorher mehrfach thematisiert – noch einmal betont, dass es sich bei der Kolonialmedizin in Taiwan zwar um ein „tool of empire“ gehandelt habe, doch die Effekte dieses Instruments sehr variantenreich gewesen seien.
Nicht ganz zu überzeugen vermag in Lius Untersuchung der beständige Bezug zur deutschen „Staatsmedizin“ (er verwendet hier auch das deutsche Wort), denn im Laufe der Studie tauchen dann doch immer wieder Verweise zur britischen Kolonialmedizin auf, während keine einzige Verbindung zu den deutschen Kolonien gemacht wird. Hinsichtlich des mehrfach aufgeführten Arguments, dass Taiwan den Japanern als „Laboratorium“ für medizinische Untersuchungen gedient hätte, ließe sich die Diskussion über den Nutzen des Laborbegriffs für die Analyse kolonialer Situation in der neueren Forschung integrieren. Etwas überraschend sind die zahlreichen Fehler bei der Umschrift japanischer Begriffe, so etwa auch bei Schlüsselbegriffen wie der Bezeichnung für die traditionelle chinesische oder japanische Medizin (kanbô anstatt kanpô) oder der bereits erwähnten Südseemedizin. Zudem sind Namen zentraler Akteure falsch: beispielsweise Max von Pettenköfer anstatt Max von Pettenkofer oder Nagano Sansai für Nagano Sensai.
Besonders gelungen hingegen sind die Ausführungen zur Ausstrahlung der Kolonialmedizin von Taiwan ins gesamte japanische Imperium. Die Untersuchung versteht sich auch als ein Beitrag zur Geschichte der Statistik der taiwanesischen Kolonialgeschichte, wobei der Autor den durch die japanische Kolonialregierung erhobenen Daten kritisch gegenübersteht. Ebenfalls sehr interessant sind seine Ausführungen, dass die Verringerung der Sterberate während der japanischen Kolonialzeit in Taiwan nicht auf medizinischem Fortschritt – wie bisher behauptet – sondern auf ökonomische Errungenschaften und damit einhergehende bessere Ernährung zurückzuführen sei. Insgesamt trägt Lius Studie zu einem differenzierten Bild der Geschichte der japanischen Kolonialmedizin in Taiwan bei, wobei jedoch viele seiner Thesen nicht ganz neu sind.
Anmerkung:
1 Mirjam Ming-Cheng Lo, Doctors within Borders. Profession, Ethnicity, and Modernity in Colonial Taiwan, Berkeley 2002.