M. W. Ghachem: The Old Regime and the Haitian Revolution

Title
The Old Regime and the Haitian Revolution.


Author(s)
Ghachem, Malick W.
Published
Extent
350 S.
Price
€ 78,32
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Andreas Hübner, Justus-Liebig-University Giessen

Im Rahmen der 200jährigen Unabhängigkeit der Haitianischen Republik ist seit 2004 eine große Zahl von geschichtswissenschaftlichen Studien zum kolonialen Saint-Domingue und späteren Haiti sowie zur Haitianischen Revolution erschienen. Dass diese Welle bis heute nicht abgeebbt ist, zeigt auch die hier zu rezensierende Studie des Rechtshistorikers Malick W. Ghachem. Ghachem erörtert die Rolle des Rechts des Ancien Régime in Zeiten der Haitianischen Revolution. Dabei betont er vor allem den Einfluss des Code Noir von 1685 und seiner Ergänzungen im 18. Jahrhundert.
Ghachems Studie ist vor dem Hintergrund der ständig wachsenden Forschungsliteratur zur Geschichte Haitis einzuordnen. Neben Detailstudien, wie zum Beispiel Doris Garraways Forschungen zu den Repräsentationen der französisch-kolonialen Karibik1, wurde die Forschungsliteratur in der jüngsten Vergangenheit um überblicksartige Arbeiten erweitert, die getrost als Standardwerke der kommenden Jahre angesehen werden dürfen. Zu nennen wären die Studien von Laurent Dubois, John Garrigus und David Geggus.2 Gemeinsam ist all diesen Arbeiten, dass sie sowohl die Geschichte des kolonialen Saint-Domingue als auch die des späteren Haiti auf Basis von Konzepten der Global, Transnational oder Atlantic History untersuchen und die Ereignisse der Haitianischen Revolution innerhalb des so genannten „Age of Revolutions“ verorten.3

Die Studie von Ghachem unterscheidet sich von diesen Ansätzen in zwei wesentlichen Punkten: Erstens konzentriert sich Ghachem vorwiegend auf die Ereignisse in Haiti. Die Geschehnisse im atlantischen Raum klammert er zu Gunsten einer rechtsgeschichtlichen Betrachtung des kolonialen Saint-Domingue und der Haitianischen Revolution aus. Hierzu bezieht er die juridischen Entwicklungen während des Ancien Régime und des revolutionären Frankreich in seine Argumentationen ein, wofür er unter anderem auf Montesquieu und sogar Jean Bodin zurückgreift.
Zweitens sieht Ghachem in der Haitianischen Revolution ein Kontinuum der kolonialen Vergangenheit und erkennt die Emanzipation und Unabhängigkeit von Haiti als „long-term product of its colonial history“. (S. 3) Auf diese Weise löst Ghachem zum einen den Bruch zwischen den Entwicklungen im kolonialen Saint-Domingue und der Haitianischen Revolution auf, den viele HistorikerInnen erkennen wollen; zum anderen liefert er so einen Beitrag zur Geschichte der Antisklaverei und des Abolitionismus in den Amerikas.
Ghachems Argumentationen sind von zwei Prämissen geleitet: erstens seien die Haitianische Revolution und ihr Weg in die Unabhängigkeit Haitis nicht nur als Folge von militärischen Konflikten verschiedener Parteien zu verstehen. Vielmehr habe, so Ghachem, das Recht des Ancien Régime auch in der revolutionären Phase fortgewirkt, in juridischen Erlassen und Pamphleten Niederschlag gefunden und somit die Ereignisse in Haiti maßgeblich beeinflusst. Beispielhaft nennt Ghachem die Gewährung der Bürgerrechte für die Gens de Couleur libres im April 1792 sowie die Emanzipation der Sklaven im Februar 1794. Knoten- und Referenzpunkt für diese Entwicklungen, so Ghachem zweitens, seien der Code Noir von 1685 sowie dessen Ergänzungen im Laufe des 18. Jahrhunderts gewesen. Zwar habe der Code Noir zu einer Institutionalisierung der Sklaverei im kolonialen Saint-Domingue beigetragen. Mit den Einschränkungen der Gewalt von Sklavenhaltern, der Möglichkeit von Manumissionen sowie der Garantie von Bürgerrechten habe der Code aber auch Wege der Emanzipation für Sklaven, Freigelassene und Gens de Couleur libres aufgezeigt.

Ghachems Argumentation spiegelt sich in den folgenden fünf Kapiteln wider. Einleitend erläutert er die politischen und juridischen Grundüberlegungen zur Sklaverei im Frankreich des Ancien Régime und identifiziert, wie gesagt, den Code Noir von 1685 als wesentlichen Knoten- und Referenzpunkt. Neben der Institutionalisierung der Sklaverei hätte der Code vor allem einen Versuch des Ancien Régime dargestellt, die Sklaverei im Sinne der Krone zu regulieren und die Macht der kolonialen Akteure innerhalb der Sklavengesellschaften einzugrenzen. Schließlich, so Ghachem, beschränkte der Code die absolute Macht der Sklavenhalter über ihre Sklaven, stellte übermäßige Gewaltausübungen sowie Folter unter Strafe und räumte sogar das Recht der Manumission ein.4 Gewalt der Sklavenhalter und Manumissionen, so Ghachem in Kapitel 2 und 3, hätten dann die weiteren Entwicklungen von Gesetzen, Debatten und Diskursen um die Sklaverei vor der Haitianischen Revolution dominiert. Im Zentrum der Entwicklungen hätte ein „collective-action problem“ gestanden: „a situation in which the uncoordinated actions of individual ‚players‘ may lead to ‚suboptimal‘ outcomes for the group as a whole“. (S. 67)
Auf das koloniale Saint-Domingue übertragen argumentiert Ghachem: Während die Anwendung von Folter und Gewalt die Macht einzelner Sklavenhalter auf ihren Plantagen festigen konnte, hätten diese Instrumente der Machterhaltung aus Sicht der juridischen Theoretiker und Entscheidungsträger in Frankreich das System der Sklaverei generell gefährdet. Im Umkehrschluss hätten Strafverfolgungen von gewalttätigen Sklavenhaltern und die Möglichkeiten von Manumissionen, wie sie im Code Noir verankert wurden, das System der Sklaverei grundsätzlich und damit einhergehend die Macht der Krone festigen können. In diesem Sinne versteht Ghachem den Code Noir als eine Art „strategic ethics of slavery“. In dieser Ethik ginge es nicht darum, das Unrecht und die Unrechtmäßigkeit der Sklaverei zu maßregeln, sondern zum Nutzen der Krone die Kontrolle, Stabilität und Effizienz des Systems zu garantieren. Allerdings, so Ghachem thesenhaft weiter, hätten der Code Noir und dessen Ergänzungen in den 1780er Jahren damit stets rechtliche Anknüpfungspunkte für Sklaven und Gegner der Sklaverei geboten, die diese zu ergreifen durchaus bereit waren.
Diese Thesen und Überlegungen liegen den abschließenden Kapiteln 4, 5 und 6 zu Grunde. Dabei gelingt es Ghachem besonders in Kapitel 4 mit seiner Lesart des Code Noir und der mit ihm zusammenhängenden Diskurse und Ereignisse zu überzeugen. Minutiös analysiert Ghachem den Fall des Sklavenhalters Nicolas Lejeune, der sich ab März 1788 für die Folter und Misshandlung einiger seiner Sklaven mit Todesfolge verantworten musste. Offenbar war Lejeune von überlebenden Sklaven vor ein Gericht gebracht worden, das mit seiner Anklage einen Präzedenzfall für den Widerstand von Sklaven auf juridischer und juristischer Basis im kolonialen Saint-Domingue geliefert hatte. Zwar wurde Lejeune letztlich in fast allen Punkten der Anklage freigesprochen, der Code Noir und seine emanzipatorischen Potentiale waren aber entlarvt worden.
Diese These baut Ghachem in den Kapiteln 5 und 6 weiter aus und interpretiert die Haitianische Revolution „as a strategic implementation of human rights that was marked through and through by the traces of Old Regime law“. (S. 216) Fortan sucht Ghachem die juridischen Spuren des Ancien Régime im revolutionären Haiti. Dezidiert erläutert er in diesem Kontext die Gewährung von Bürgerrechten für die Gens de Couleur libres im April 1792, die Emanzipation der Sklaven im Februar 1794, die Verfassung von Toussaint Louverture von 1801 sowie die Unabhängigkeitserklärung unter Jean-Jacques Dessalines von 1804. Durchaus selbstkritisch räumt Ghachem ein, dass seine Argumentationen von nun an auf einer sehr selektiven Quellenauswahl beruhten. Trotz einiger anschaulicher Beispiele, er verweist unter anderem auf das Cahier contenant les plaintes, doléances & réclamations des citoyens libres & propriétaires de couleur, des isles & colonies françoises von 1789, gelingt es Ghachem nicht, überzeugend zu argumentieren. Zu eingeschränkt erscheint sein Blick, der die Spuren von Emanzipation und Unabhängigkeit allein im Ancien Régime verorten will.
Stattdessen, so müsste eingewandt werden, hätte Ghachem die Spuren der juridischen Widerstände gegen die Sklaverei auch im kolonialen Afrika suchen können. Schließlich war die Institution der Sklaverei hier seit Langem etabliert und durch islamisches oder lokales Recht reglementiert.5 Ebenso wenig zieht Ghachem, der bei seiner Spurensuche immer wieder auf die Ergänzungen zum Code Noir von 1685 verweist, den Code Noir von 1724 für seine Argumentation heran. Nur an einer Stelle verweist er auf den dezidiert für Louisiana erlassenen Code. Gerade von einem Vergleich der Codes von 1685 und 1724, so scheint es, hätten Ghachems Überlegungen zum „collective-action problem“, zu den „strategic ethics of slavery“ sowie zu den Spuren von Emanzipation und Unabhängigkeit im Ancien Régime aber profitieren können.6

Dennoch überdecken diese Kritikpunkte den insgesamt überzeugenden Eindruck der Studie nicht. Sehr nachvollziehbar zeigt Ghachem aus rechtsgeschichtlicher Perspektive, wie die juridischen Debatten und Diskurse sowie das Recht des Ancien Régime nicht nur das System der Sklaverei und die Krone bestärkten bzw. bestärken sollten, sondern dazu genutzt werden konnten, die Macht der Sklavenhalter einzuschränken, Manumissionen und Emanzipation einzuleiten und letztlich den Weg in die haitianische Unabhängigkeit zu begleiten. Es bleibt daher zu hoffen, dass eben Ghachem sich der Defizite seiner Arbeit annimmt, dass er, zum Beispiel, selbst die Bedeutungen des afrikanischen Rechts für die Ereignisse des kolonialen Saint-Domingue und der Haitianischen Revolution aufspürt. Schließlich sind Ghachems Thesen, Lesarten und Überlegungen durchaus innovativ und erfrischend.

Anmerkungen:
1 Siehe Doris L. Garraway, The Libertine Colony. Creolization in the Early French Caribbean, Durham 2005.
2 Siehe Laurent M. Dubois, Avengers of the New World. The Story of the Haitian Revolution, Cambridge 2004; ders., A Colony of Citizens: Revolution and Slave Emancipation in the French Caribbean, 1787–1804, Chapel Hill 2004; siehe auch: John D. Garrigus, Before Haiti. Race and Citizenship in French Saint-Domingue, New York 2006, David P. Geggus, Haitian Revolutionary Studies, Bloomington 2002; ders. (Hrsg.), The Impact of the Haitian Revolution in the Atlantic World, Columbia 2001; ders. / Norman Fiering, The World of the Haitian Revolution, Bloomington 2009.
3 Siehe u.a. Jane G. Landers, Atlantic Creoles in the Age of Revolutions, Cambridge 2010; Jeremy D. Popkin, You are all Free. The Haitian Revolution and the Abolition of Slavery, Cambridge 2010, sowie mit aktuellen Forschungsüberblicken, Jeremy D. Popkin, A Concise History of the Haitian Revolution, Malden 2012; Alyssa G. Sepinwall, Haitian History. New Perspectives, New York 2012.
4 Manumission: „the act of freeing individual slaves while the institution of slavery continues“, Rosemary Brana-Shute und Randy J. Sparks, „Editors‘ Note“, in Paths to Freedom: Manumission in the Atlantic World, hrsg. Rosemary Brana-Shute / Randy J. Sparks, Columbia 2009, vii–viii, hier vii.
5 Paul E. Lovejoy, Transformations in Slavery. A History of Slavery in Africa, Cambridge 32012[1983].
6 Ansätze hierfür liefert zum Beispiel Robert Chesnais (Hrsg.), L’esclavage à la française. Le Code Noir (1685 et 1724), Paris 2005, S. 5–34.

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04.01.2013
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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