„Was heißt und leistet ‚Raum’ in sozialer Praxis?“ (pg. 22) Diese Frage ergründet Bernd Belina in seinem aktuellen Buch „Raum“, welches in der Reihe „Einstiege“ erschienen ist. Diese Reihe möchte „Einstiege“ in zentrale Begriffe und Ideen der Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie erleichtern. Folglich ist auch der Band „Raum“ an ein interessiertes Publikum gerichtet, das einen Überblick über Raumkonzepte und –theorien erhalten möchte. Anders als andere Einführungswerke präsentiert Belina jedoch keinen „bunten Strauß an Theorien und Ansätzen“ (S. 7) zum Thema ‚Raum’. Stattdessen führt er, mit einem Fokus auf die Werke von Henri Lefebvre und David Harvey, in das Raumverständnis des historisch-geographischen Materialismus ein. Dabei bezieht er auch aktuelle Forschungsthemen der Politischen Geographie mit ein.
Dabei gelingt es Belina durchweg seine/n Leser/in abzuholen und die Grundlagen, auf die er im Buch zurückgreift, in kurzen Zwischenkapiteln und Exkursen selbst zu legen. So schließen sich an die Einleitung, in der die Theoretiker Lefebvre und Harvey vorgestellt werden, zwei kurze Einführungskapitel an. Im Ersten (Kapitel 2) führt Belina in die zentralen Begrifflichkeiten des Marxismus und historischen Materialismus ein. Von einem konstruktivistischen Verständnis von Gesellschaft, Begriff, Abstraktion und Dialektik ausgehend zeigt Belina, dass die soziale Praxis in konkreten gesellschaftlichen Kontexten der Ansatzpunkt für das wissenschaftliche Arbeiten sein muss. Im Zweiten (Kapitel 3) verdeutlicht er die Bedeutung dieses Anspruches für das Raumverständnis des historisch-geographischen Materialismus. Dieses verbindet die räumliche Praxis mit dem Konkreten. Da jede soziale Praxis Auswirkungen auf den physisch-materiellen Raum sowie das Raumverständnis hat, so die Argumentation, ist jede soziale Praxis gleichzeitig eine räumliche (S. 24). Wie relevant dabei Raum letztlich ist, kann nur im Zusammenhang mit der konkreten sozialen Praxis im Rahmen konkreter Produktions- und Aneignungsprozesse von konkreten Räumen beobachtet, untersucht und verstanden werden.
Anschließend fokussiert sich Belina auf die Werke von Lefebvre und Harvey und ihr Raumverständnis. Entsprechend der Zielstellung des Buches wird dabei kein umfassender Überblick über die Werke der beiden Theoretiker gegeben. Ihr Raumverständnis wird vielmehr im Rahmen einer marxistischen Theorietradition diskutiert. Belina, zeigt, dass die Kategorie ‚Raum’ in Abgrenzung zum „Raumfetischismus des Vulgärmaterialismus“ (Kapitel 4.1) und „Raumexorzismus des Idealismus“ (Kapitel 4.2) in den historischen Materialismus integriert wurde. Der historisch-geographische Materialismus distanziert sich somit einerseits von der Vorstellung, dass der physisch-materielle Raum außerhalb der Gesellschaft liegt und auf diese einwirkt. Obwohl die Kategorie Raum folglich gesellschaftliche Phänomene nicht erklären kann, ist der physisch-materielle Raum doch relevant und zwar „in der praktischen Aneignung der physischen Materie“ (S. 41). Aus diesem Grund werden andererseits Raumkonzepte abgelehnt, die Raum ausschließlich als Idee, Diskurs oder Vorstellung begreifen.
Drei Aspekte der räumlichen Praxis sind dabei für den historisch-geographischen Materialismus von besonderer Bedeutung: 1.) Aneignung und Produktion von konkreten Räumen, 2.) Zuschreibung von Bedeutungen zu konkreten Räume sowie 3.) dominante Vorstellungen über die Kategorie Raum. In ihrer anschließenden Diskussion zeigt Belina immer wieder, wie die drei Aspekte miteinander verwoben sind und erst durch die soziale Praxis entstehen. Die sich daraus ergebene Prozesshaftigkeit und Unstetigkeit wird dabei ebenso betont wie ihnen innewohnende aber verdeckte Macht- und Diskriminierungsmechanismen. Anhand von Harveys und Lefebvres Ansätzen zum Raumverständnis im Kapitalismus wird erklärt, dass Raum im Kapitalismus als abstrakt angesehen wird. Dies ermöglicht, Raum zu vermessen und in eine Ware zu verwandeln, welche letztendlich gegen Geld getauscht werden kann. Somit ist das Grund- und Privateigentum die Grundlage dafür, dass „ ‚Raum’ als Quelle dieses Geldes [erscheint]“ (S. 76). Eben diese sozialen Praktiken im Rahmen kapitalistischer Wirtschaftssysteme produzieren und reproduzieren die gegenwärtig dominante Vorstellung von einem abstrakten Raum.
Belina gibt in diesem ersten Teil des Buches (Kapitel 2-4) einen guten theoretischen Überblick über das Raumverständnis im historisch-geographischen Materialismus. Die Raumtheorien von Harvey und Lefebvre setzt Belina zueinander und zu anderen Raumansätzen in Bezug. So ermöglicht er auch Einsteigern_innen Ansätze und Aussagen zu vergleichen und sich entsprechend weiter zu informieren. Im praxisorientierten zweiten Teil des Buches (Kapitel 5-8) rücken konkrete Raumformen und Prozesse der Raumaneignung in den Fokus. Belina argumentiert, dass Raumproduktion und -aneignung ein strategisches Mittel zur Ausübung von Macht und Herrschaft darstellen. Dies verdeutlicht er anhand der Raumformen und Aneignungsprozesse Territorium und Territorialisierung; Scale und Scaling; Place und Place-Making sowie Netzwerk und Networking. Diese Auswahl möchte Belina als erweiterbar verstanden wissen, wenn die entsprechende Raumform zum besseren Verständnis eines bestimmten gesellschaftlichen Phänomens beiträgt. Die Unterkapitel bieten dabei erstens greifbare Beispiele für die bis dahin eher theoretisch aufgearbeitete Kategorie ‚Raum’. Zweitens, präsentiert Belina nicht nur das who-is-who des jeweilig vorgestellten Teilfeldes der Politischen Geographie. Darüber hinaus setzt er die einzelnen Theoretiker und ihre Ideen zueinander, zu Harvey und Lefebvre als auch zu den im Vorfeld diskutierten drei Aspekten der räumlichen Praxis in Bezug.
Inwiefern wir in unserem Alltag von diesen Raumformen und Aneignungsprozessen betroffen sind, skizziert Belina anhand der sozialen Kategorien ‚Kapital’, ‚Staat’, ‚Identität’ (Kapitel 7) und ‚Karten’ (Kapitel 8). Auch hier appelliert Belina dafür, mit der eigenen Forschung verdeckte Machtmechanismen aufzudecken, indem man die handelnden Akteure sichtbar macht. Die gegenwärtigen sozialen Raumpraktiken und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen müssen offen gelegt und verstanden werden, damit sie verändert werden können. Dieser politische Anspruch des historisch-geographischen Materialismus und der Politischen Geographie durchzieht das gesamte Buch und wird vor allem im praxisbezogenen zweiten Teil des Buches explizit.
Belina wird seinem Anspruch gerecht und liefert mit seinem Buch „Raum“ eine Einführung, welche den „Einsteig“ in das neomarxistische Raumverständnis vereinfacht und sinnvoll vorstrukturiert. Die raumtheoretischen Ausführungen zu Harvey und Lefebvre bieten einen fundierten Ausgangspunkt um sich tiefgründiger mit dem historisch-geographischen Materialismus oder den umfassenden Werken der zwei Theoretiker zu befassen. Gerade die Anknüpfung an aktuelle Debatten in der Politischen Geographie macht dieses Buch auch für jene relevant, die sich nicht ausschließlich oder explizit mit dem historisch-geographischen Materialismus beschäftigen wollen, sondern Zugang zu den komplexen humangeographischen Ansätzen der Raumproduktion und –aneignung suchen. Die zitierte Literatur und das Literaturverzeichnis des Buches sind eine wahre Goldgrube für alle, die sich in das ein oder andere Teilgebiet der Politischen Geographie einarbeiten wollen. Darüber hinaus ermöglicht der Index ein schnelles Auffinden ausgewählter Inhalte. Das Querlesen und Einlesen entsprechend des eigenen Interesses wird dabei nicht nur von der Form des Buches, sondern auch durch die im Text vielfach vorhandenen Rückverweise unterstützt. Besonders angenehm während des Lesens ist, dass Belina sich selbst und seine Position sichtbar macht und sich nicht hinter „Kaskaden von Passiv-Formulierungen“ (S. 11) verschwindet. Einerseits werden die präsentierten Theorien und Ansätze dadurch verständlicher. Andererseits thematisiert Belina damit, dass Forschung und Wissensproduktion immer subjektiv und ebenfalls sozial konstruiert ist.1 Es ist immer explizit an welcher Stelle Belina selbst sich zu Wort meldet und „dass die [...] dargestellte Variante ‚Raum’ zu verstehen, zentral auf den Arbeiten von Marx, Lefebvre und Harvey sowie vieler anderer Autor_innen aufbaut, dabei aber doch die [seine] ist“ (S. 10).
Anmerkung:
1 Dazu auch: Jörg Gertel, Empirische Methoden und ihre Bedeutung bei der Konstruktion von Wissen, in: ders. (Hrsg.), Methoden als Aspekte der Wissenskonstruktion. Fallstudien zur Nomadismusforschung, Halle/Saale 2005, S. 1-16.