Die Erforschung der Kommunikationswege des karolingischen Großreiches samt den zugrunde liegenden Organisationsstrukturen bildet ein weites wissenschaftliches Feld, welches verschiedene Aspekte des frühmittelalterlichen Informationsaustausches in sich vereint. Der Interaktion zwischen säkularen Amtsträgern wie auch jener unter kirchlichen Würdenträgern und dem in beiden Fällen maßgeblichen Informationsaustausch mit der königlichen Zentralgewalt ist gesondert Aufmerksamkeit geschenkt worden.1 Innerhalb seiner Dissertation untersucht Martin Gravel die Strukturen, Mittel und Grenzen der Übermittlung von Nachrichten während der Herrschaftszeit der ersten beiden karolingischen Kaiser. Zwei Aspekte werden dabei in den Vordergrund gestellt: Der Faktor der Distanz zwischen der herrschaftlichen Institution des Königtums und den jeweiligen Befehlsempfängern an der Peripherie des Reiches und daraus resultierend die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der zeitgenössischen Kommunikationsmethoden, auf welche Karl der Große und sein Sohn Ludwig der Fromme bei der Ausübung, Sicherung und Repräsentation ihrer Herrschaft angewiesen waren.
Gravel teilt seine Arbeit in zwei thematische Hauptteile ein. Innerhalb des ersten Großabschnitts erarbeitet und analysiert er die verschiedenen Mittel der frühen karolingischen Kaiser ihr Imperium zu realisieren. So betont Gravel den seines Erachtens konstitutiven Charakter der direkten Begegnung zwischen Herrscher und Untertan im Reich der Karolinger. „Le face-à-face visuel, auditif et tactile“ (S. 27, 93) gilt Gravel als der wahre locus vivendi der Spezies Mensch. Umso bedeutender müsse diese Praxis in einer Gesellschaft gewesen sein, deren Kommunikationswege und Reisemöglichkeiten noch durch Entfernung und natürliche Hindernisse geprägt wurden. Infolgedessen gelte es, „l‘efficacité des déplacements que permettaient la rencontre entre les élites et l‘empereur“ (S. 28) zu ergründen und deren Nutzen zu bemessen, was sich jedoch für den Historiker vorindustrieller Zeiten als äußerst schwierige Aufgabe erweise.
So vermag es Gravel in der Folge, eindrucksvoll die Disproportionalität zwischen steigender Distanz und zeitlicher Dauer der Übermittlung einer Botschaft zu illustrieren. Dies geschieht innerhalb der den zweiten Teil der Arbeit bildenden Fallstudie, in deren Rahmen die erarbeiteten Axiome und Thesen des vorangegangenen ersten Abschnitts konkret an der Herrschaftspraxis der Karolinger in Aquitanien geprüft werden. Während sich bei einer Reise zwischen Aachen und Narbonne in Relation zu einer Reise zwischen Aachen und Regensburg die geographische Distanz lediglich verdoppelte, so verdreifachte sich die zeitliche Dauer der Unternehmung. Somit gelingt es Gravel anschaulich darzulegen, welche logistischen Herausforderungen die karolingischen Herrscher bei der Errichtung effizienter Kommunikationswege zu meistern hatten.
Zugleich legt der Autor ein funktionierendes karolingerzeitliches System an Boten offen, welches zwar nicht mehr mit der Effizienz und Schnelligkeit des einstigen römischen Systems arbeitete aber dennoch eine relativ zügige und reibungslose Kommunikation zwischen den Herrschern und den entfernten Eliten ermöglichte. Gerade Karl der Große und auch Ludwig der Fromme seien sich des korrelierenden Effekts zwischen aktuellen Informationen über die politische Lage in ihrem Reich und der eigenen herrschaftlichen Autorität bewusst gewesen (S. 146f.). Dabei behandelt Gravel exemplarisch die Eindämmung oder Verbreitung von Gerüchten, indem er einerseits auf deren verheerende Wirkung verweist, welche diese auf die Untertanen ausüben konnten, andererseits aber auch die gezielte Verbreitung von Falschinformationen als politisches Mittel darlegt. Den Reichsversammlungen gesteht Gravel eine maßgebliche Bedeutung zu, da hier schließlich „un espace essentiel à la validation du geste politique“ (S. 133) geschaffen wurde, in dessen Rahmen die geistliche wie weltliche Elite mit dem Herrscher politisch interagieren konnte.
In einer doppelten Hierarchie der Herrschaftsdelegation (S. 213, 225), welche parallel den weltlichen (Herrscher, Missi, Grafen, weitere Beamte) wie auch den geistlichen (Herrscher, Erzbischöfe, Bischöfe, Äbte) Teil der Gesellschaft durchdrang, identifiziert Gravel das zentrale Mittel der frühen karolingischen Kaiser, um – neben einer symbolischen Präsenz und Mediatisierung ihrer Herrschaft mittels Pfalzen, Münzen und auch Gerüchten – ihren Willen und Herrschaftsanspruch bis in die entlegensten Winkel ihres Reiches ausüben und verwirklichen zu können, wobei Gravel zugleich nicht die Gefahren verkennt, die ein solchen System in sich bergen konnte (S. 228, 234).
Die von Gravel innerhalb des ersten Teils seiner Arbeit für maßgeblich erachtete persönliche Begegnung zwischen den Großen an der Peripherie des Reiches und dem karolingischen Herrscher wird unter anderem an den spanisch-stämmigen Siedlern des südwestlichen Raumes des Frankenreiches geprüft (S. 346–355). Allein jene, die es sich leisten konnten persönlich vor dem karolingischen Herrscher vorzusprechen, bildeten innerhalb dieser Gruppe die politische und ökonomische Elite. So wird durch Gravels Arbeit letztlich – wenn auch unerwähnt – die Abkömmlichkeit im Weberschen Sinn abermals in ihrer Bedeutung unterstrichen.
Es ist bereits an anderer Stelle auf die stark positivistisch ausgelegte Argumentationsstruktur der Arbeit verwiesen worden und der damit einhergehenden teils sehr selektiven Auswahl an Forschungsliteratur durch den Autor.2 Doch wie gestalten sich diese Probleme genau? Genannt sei die zumindest hinsichtlich der Methodik fragwürdig erscheinende, oftmalig erfolgende Begrenzung der Quellenbasis auf die erste Hälfte des 9. Jahrhunderts. Zugleich opfert Gravel zuweilen gegenteilige Forschungspositionen zugunsten einer stringenten Argumentation3 und neigt zu rhetorisch überspitzen Formulierungen.4 Bei aller so angebrachten Kritik muss dennoch das prinzipiell hohe stilistische Niveau des Autors unterstrichen werden, welches das Werk zu einer angenehm zu lesenden Lektüre macht, ohne die notwendige fachliche Autorität und Kompetenz – abgesehen von den genannten Einschränkungen – vermissen zu lassen. Martin Gravel ist es somit gelungen, ein innovatives, wenn auch streitbares Werk abzuliefern, das vielfältige neue Erkenntnisse über die karolingerzeitlichen Kommunikationswege und -methoden liefert, den Leser in durchaus positiver Weise zur steten Reflektion der behandelten Thematik verleitet und nicht zuletzt durch vielfältige neue Ansätze zu überzeugen vermag.
Anmerkungen:
1 Vgl. mittlerweile grundlegend Karl Ferdinand Werner, "Missus – Marchio – Comes". Entre l’administration centrale et d’administration locale de l’Empire carolingien, in: Werner Paravicini/Karl Ferdinand Werner (Hrsg.), Histoire comparée de l’Administration (IVe-XVIIIe siècles), Zürich 1980, S. 191–241. Noch nicht erschienen ist die Habilitationsschrift von Volker Scior, Boten im frühen Mittelalter. Studie zur zeitgenössischen Praxis von Kommunikation und Mobilität, Osnabrück 2009. Vgl. ders., Bemerkungen zum fühmittelalterlichen Boten- und Gesandtschaftswesen, in: Walter Pohl (Hrsg.), Der frühmittelalterliche Staat – europäische Perspektiven, Wien 2009, S. 315–330.
2 Linda Dohmen, Rezension zu M. Gravel: Distances, Rencontres, Communications, in: Francia-Recensio 2014/1, Mittelalter – Moyen age (500–1500), <http://www.perspectivia.net/content/publikationen/francia/francia-recensio/2014-1/MA/gravel_dohmen> (11.06.2014)
3 So illustriert Gravel gekonnt die verschiedenen Argumente und Positionen Gerd Althoffs beziehungsweise Philippe Bucs hinsichtlich der Problematiken rund um rituelle Handlungen in der Karolingerzeit und ihrer Darstellung in den kontemporären Quellen. Jedoch stellt Gravel die Bedenken Bucs gewissermaßen in den Dienst seiner Argumentation. Indem Buc auf die „diffusion tendancieuse des rapports des mises en scène du pouvoir“ (S. 127) insistiere, komplettiere Buc vielmehr die Arbeit Althoffs über die Taten der Akteure. Auch wenn eine solche Interpretation durchaus legitim ist, so lässt sich nicht verleugnen, dass Gravel somit Gefahr läuft, weniger getreu seines Ansatzes ein Mittel der karolingerzeitlichen Kommunikationsmethoden zur Herrschaftsausübung zu analysieren, sondern dieses vielmehr schlicht in seiner Darstellung so referiert, wie es allein der Autor einer frühmittelalterlichen Quelle intendiert hat.
4 Wenngleich man Matfrid von Orléans gerade in den 820er-Jahren eine herausragende Rolle am Hofe Ludwigs des Frommen und innerhalb der dortigen Kommunikationsstrukturen zugestehen kann, so erscheint es dennoch etwas übertrieben, ihm den offiziösen Titel eines ‚Meisters der Anfrage‘ („il tient […] une fonction officieuse de maître de requête“; S. 171) zu verleihen.