Warum ist transnationale Geschichte in Korea wenig populär? Mit Ausnahme des auf internationaler Ebene sehr aktiven Professors Lim Jie-hyun, Direktor des Research Institute of Comparative History and Culture (RICH) an der Hanyang University in Seoul, werden transnationale Ansätze von einem Großteil der koreanischen Historiker mit Skepsis betrachtet. Ein beständiges Unbehagen gegenüber transnationalen Ansätzen spürte der Autor dieser Rezension auch innerhalb der Studentenschaft, als er zwei Jahre an der Korea University in Seoul Bachelor- und Masterstudenten unterrichtete. Henry Em, seit 2013 Professor am Underwood College der Yonsei University, ebenfalls in Seoul, bietet in seiner Studie „The Great Enterprise: Sovereignty and Historiography in Modern Korea“ Ansätze zur Beantwortung der eingangs gestellten Frage. So legt er dar, wie im aktuellen historiographischen Diskursfeld Koreas linke Historiker ihre Legitimation aus der Opposition zu den diktatorischen Regimes ziehen, welche bis 1987 das Land regiert haben. Sie verstehen sich als Fürsprecher eines durch Fremdherrschaft und Diktatur (aber auch globalen Turbokapitalismus) unverdorbenen, jedoch stets unterdrückten Kerns des Koreanerseins (minjung), dessen Emanzipation sie voranzutreiben versuchen. Dies macht ihren Ansatz von Grund auf nationalistisch, ohne an dieser Stelle diesem Begriff eine positive oder negative Bewertung mitgeben zu wollen.
Postkoloniale Ansätze und der Globalisierungsdiskurs wurden hingegen zuerst von der „Neuen Rechten“ aufgegriffen, um die hegemoniale Stellung der nationalistischen Linken in Frage zu stellen. Das zeigt sich insbesondere in einer alternativen, das heißt weniger kritischen Bewertung der japanischen Kolonialherrschaft von 1910 bis 1945. Im koreanischen Diskursfeld sind also „Linke“ und anti-systemischer Nationalismus sowie „Rechte“ und Infragestellung dieses Nationalismus bzw. Befürwortung des autoritären Entwicklungsstaates miteinander verwoben, eine temporäre und problematische Konstellation, die nicht beständig sein muss. Dies erklärt die geringe Attraktivität explizit transnationaler Fragestellungen, da sich auch in Korea viele Historiker und Studenten als „kritisch“ und „links“ sehen. Diese Situation kontrastiert beispielsweise mit dem deutschen Diskurs, wo es vor allem eher linke Historiker waren, welche sich früh transnationalen Ansätzen zugewandt haben, da sie so eine Möglichkeit sahen, einen von der Rechten propagierten Nationalismus zu unterminieren.
Ems Ausführungen zu Südkorea in der Zeit nach der japanischen Kolonialherrschaft nehmen leider nur wenig Raum im letzten Kapitel in Anspruch. Die Studie beschäftigt sich hauptsächlich mit der Zeit von 1876 bis 1910, der sogenannten Zeit der geöffneten Häfen zwischen Landesöffnung und Annexion, sowie der Kolonialzeit, welche sich über dreieinhalb Dekaden bis 1945 erstreckt. Mit dem titelgebenden Terminus „great enterprise“ übersetzt Em den koreanischen Ausdruck dae (san)eob, welchen er in Quellen verschiedener Perioden aufgespürt hat. Dieser Begriff verkörpert für Em den Anspruch politisch denkender Akteure, das gesellschaftliche Geschick in die Hand zu nehmen und im Sinne des Gemeinwohls voranzubringen. Er bringt damit eine Idee zum Ausdruck, die den Kern des Konzeptes von Souveränität ausmacht. Mit dem Einbrechen des europäischen Imperialismus und in dessen Folge der Idee des westfälischen Staatensystems gesellte sich die nationale Unabhängigkeit zu diesem Gedankenkomplex hinzu. Ems Studie, die an der Schnittstelle von Ideen- und Historiographiegeschichte angesiedelt ist, untersucht „the pleasures that derive from the idea of being sovereign, possessing a subjective will, capable of reconstituting life, language and labor“ (S. 3). Er beschäftigt sich mit der „historicity of sovereignty, its complicity with power, and its creative, productive capacity, and also the conventions, rationalities, and subjectivities that sovereignty elicited“ (S. 3). Kurzum, für Em besteht die „große Unternehmung“ im Untersuchungszeitraum darin, die Herstellung eines mit den anderen Nationen der Erde gleichwertigen, souveränen Nationalstaates voranzutreiben.
Em betont zunächst den asymmetrischen Charakter der Aneignung neuen Wissens im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die koreanischen Intellektuellen, welche sich das Know-how der von ihnen als westlich angesehenen Zivilisation aneigneten, waren in seinem Verständnis keine kreativ-offensiven Erfinder und Reformer. Mithilfe des Theoriegerüsts der postkolonialen Studien und insbesondere im Rückgriff auf Michael Hardt und Antonio Negri versucht Em zu zeigen, dass sie Getriebene waren, die sich defensiv den westlichen und japanischen Imperialismen zu stellen hatten. Übersetzungsleistungen bedeuten für ihn das Überstülpen eines kapitalistischen Korsetts. Dies spiegelte sich auch auf persönlicher Ebene wider, wie Em am Beispiel des zum Protestantismus konvertierten Intellektuellen Yun Chi-ho (1864–1945) darlegt. Dieser entwarf für sich selbst eine neue Art der Subjektivität, als er sich entschloss, sein Tagebuch nicht mehr auf Koreanisch sondern auf Englisch zu schreiben. Diesen Zusammenhang illustriert auch das Titelbild des Bandes, auf dem ein amerikanischer Missionar des Board of Translators of the Old Testament leger in seinem Schreibtischstuhl sitzt, während ihm zwei lernbegierige koreanische Mitarbeiter assistieren. Besser lässt sich das Einschreiben einer „(Christian) liberal-bourgeois subjectivity“ (S. 75) nicht symbolisieren.
Em zeigt, wie sich die koreanische Historiographie das Konzept der Souveränität aneignete, als es darum ging, ab dem späten 19. Jahrhundert Korea und seine Geschichte in die moderne globalisierte Welt einzuschreiben. Indem Historiker fortan Strukturen und Ereignisse identifizierten, welche die koreanische Souveränität herausstellten, förderten sie den Nationsbildungsprozess. Dies bedeutete zunächst eine Loslösung von China, welches bis dahin als zivilisatorischer Standard gegolten hatte. Die koreanische Silbenschrift Hangeul beispielsweise, welche – im 14. Jahrhundert entwickelt – bis dahin ein Schattendasein führte, wurde nun als nationale koreanische Schrift angesehen und die allgegenwärtigen Schriftzeichen als ‚chinesisch’ diffamiert. Der Journalist und Historiker Sin Chae-ho (1880–1936) entwickelte die Idee eines homogenen Nationalstaates, welcher nach außen deutlich abgegrenzt und autonom ist. Er führte die Idee der ethnischen Nation (minjok) als abstraktes Konzept ein, mit dem sich alle Koreaner identifizieren konnten. Diese Idee umfasste ein emanzipatorisches, demokratisches Element, da sie gegen ältere historiographische Traditionen gerichtet war, die lediglich auf die dynastische Herrschaftslinie Bezug nahmen. Ferner brachte er die mythische Figur Dangun als Gründer der koreanischen Ethnie ins Spiel. Auch wenn diese Ideen heutzutage selbstverständlich erscheinen und aus nationalen Diskursen nicht wegzudenken sind, waren sie für ihre Zeit radikale Neuerungen.
Die Bestrebungen der koreanischen Historiker richteten sich zunehmend gegen den japanischen Imperialismus. Denn auf der anderen Seite zeigt Em, wie die Erfindung einer Nationalgeschichte auch das Projekt der Kolonialisierung Koreas durch Japan untermauern konnte. Der in Deutschland promovierte japanische Ökonom Fukuda Tokuzô (1874–1930) entwickelte seine Theorie, Korea sei auf der Stufe Japans im 10. Jahrhundert stehen geblieben, was eine Kolonialisierung unausweichlich mache. Die Entdeckung der buddhistischen Seokguram-Grotte 1909 und ihre anschließende Restaurierung durch die japanische Kolonialmacht erinnerte an die alte Größe Koreas, welche die Kolonialmacht, glaubt man ihren Diskursen, jetzt wiederherzustellen bestrebt war. Entgegen der weitverbreiteten Annahme, dass es den Kolonialherren darum ging, die koreanische Identität auszurotten, zeigt Em, dass es Ziel der Japaner war, den Koreanern eine den Japanern untergeordnete, aber klar artikulierte koreanische Subjektivität anzuerziehen. Hier schließt er an die Arbeiten Stefan Tanakas an, die gezeigt haben, wie sich Japan als Bewahrer und Repräsentant der asiatischen Kunst gegenüber dem Westen in Szene setzte.1 Sowohl die nationalistische koreanische Historiographie als auch die koloniale Geschichtsschreibung japanischer Historiker erfanden Korea als spezifische, nach außen abgeschlossene Einheit. Diese Art der Geschichtsschreibung konzeptualisierte die Geschichte Koreas außerhalb der Weltgeschichte. Nur wenige Historiker versuchten, Korea in größere geschichtliche Zusammenhänge einzuordnen, wie Em am Beispiel des Marxisten Baek Nam-un (1894–1979) und der späten Werke Sin Chae-hos zeigt.
Kritisch lässt sich zu Ems Studie anmerken, dass die meisten empirischen Befunde bereits seit längerem historiographisch ausgewertet sind und zu den klassischen Episoden der koreanischen Geschichtswissenschaft gehören. Einen Teil des Stoffes hat Em auch selbst schon in früheren Publikationen verarbeitet, was insbesondere auf die Abschnitte zum Historiker Sin Chae-ho zutrifft.2 Em gebührt jedoch der Verdienst, die Befunde in einem stringenten, auf die Idee der Souveränität zugespitzten, Narrativ gebündelt zu haben, auch wenn seine sich stets auf hohem Abstraktionsniveau befindende Sprache streckenweise sehr theoretisch daherkommt.
Anmerkungen:
1 Stefan Tanaka, Japan’s Orient. Rendering pasts into history, Berkeley, CA 1993.
2 Siehe beispielsweise den grundlegenden Aufsatz Henry H. Em, Minjok as a modern and democratic construct: Sin Ch’aeho’s historiography, in: Gi-Wook Shin and Michael Robinson (Hrsg.), Colonial modernity in Korea, Cambridge, MA 1999, S. 336–361.