K. Iwata-Weickgenannt u.a. (Hrsg.): Visions of Precarity in Japanese

Titel
Visions of Precarity in Japanese Popular Culture and Literature.


Herausgeber
Iwata-Weickgenannt, Kristina; Roman Rosenbaum
Reihe
Routledge Contemporary Japan
Erschienen
Abingdon 2015: Routledge
Anzahl Seiten
XXIII, 223 S.
Preis
€ 106,97
Rezensiert für Connections. A Journal for Historians and Area Specialists von
Anna-Frederike Kramm, Deutsches Seminar, Universität Tübingen

Spätestens seit der Jahrtausendwende gewinnen Erzählungen des Prekären an Prominenz, um – in Anlehnung an sowie gleichzeitiger Abgrenzung von älteren Formen des Proletarischen als Armuts- und Klassenbegriff – neue Formen der Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Unsicherheit in spätkapitalistischen Verhältnissen zu bezeichnen. Meist werden mit dem Prekären unsichere Lohnarbeitsverhältnisse beschrieben, die den Betroffenen keine Chancen des sozialen Aufstiegs ermöglichen oder sogar den sozialen Abstieg bzw. die Sorge darum bedeuten. Besonders in literarischen Arbeiten zum Thema ist zu beobachten, dass gegenwärtig neue Erzählweisen entstehen, die neben materieller Entbehrung auch eine emotionale Dimension des Prekären in den Mittelpunkt stellen. Prekarität funktioniert also als Gegenentwurf zu den als sicher geglaubten Arbeits- und Lebensverhältnissen, wie sie in den überwiegend westlichen Industrienationen der Nachkriegszeit entstanden sind. Isabell Lorey spricht diesbezüglich gar von „Prekarisierung als Regierungsinstrument“, einer neuen Herrschaftsform, in der die fundamentalen Unsicherheiten aus der Erwerbssphäre in alle Bereiche menschlicher Existenz eindrängen und Unsicherheit zur Grundlage von Regierungsweisen würde.1 Damit verhindern Prekarität und Prekarisierung biografische Zukunftsentwürfe und politische Utopien (Bourdieu), bieten aber auch Potenzial für neue Allianzen in politischen Kämpfen (Butler).2

Im Hinblick auf eine inflationäre Verwendung von Begriffen des Prekären ist es jedoch erforderlich, diese genauer zu differenzieren. Angedacht ist dies bereits in der Unterscheidung von Prekarität als Zustand des Mangels und Prekarisierung als Prozess der Entsicherung, wobei jedoch stets danach gefragt werden muss, wann was für wen eigentlich prekär ist. So hat Mona Motakef beispielsweise darauf hingewiesen, dass der gegenwärtige Prekaritätsdiskurs zwar zu Recht auf neue Formen der Unsicherheit und Ausbeutung in den Erwerbsverhältnissen hinweist, jedoch gleichzeitig Gefahr läuft, die Normalität weißer männlicher Dominanz in der Lohnarbeit zu reproduzieren. Denn Erzählungen des Prekären verschleiern oftmals, dass heutige Formen der Unsicherheit für viele Menschen gar keine neuen Erfahrungen sind, u.a. für Frauen, Migrant/innen und die LGBTQ-Community.3

Der Sammelband „Visions of Precarity“ bietet einen wichtigen Beitrag zur interdisziplinären Prekaritätsforschung in und über Japan. Hierbei wird das heterogene Spektrum literarischer und popkultureller (Re-)präsentationen prekärer Inhalte in den Blick genommen, die sowohl innerhalb als auch außerhalb Japans seit Ende der 1990er-Jahre großes Interesse erlangt haben. Anknüpfend an globale Debatten über Prekarisierungsprozesse und deren Erfahrungen, problematisiert der Sammelband die Wirkmächtigkeit von Prekarität als soziologischen Begriff und popkulturelles Phänomen. Elf Beiträge beleuchten verschiedenste Dimensionen und Facetten von Prekarität als literarischem Modus und loten die Entfaltung spezifischer prekärer Narrative und Poetiken aus. Diese schlagen sich in Konfigurationen genuiner Tropen und Archetypen nieder, und werfen die Frage auf, ob sich hier gar ein neues Genre der Prekariatsliteratur ausbildet.

Eine erste Annäherung an Ursachen und Paradigmenbildung von Prekarität in Japan erfolgt durch Hinweise auf Wechselwirkungen zwischen globalen Prekarisierungsdynamiken sowie spezifischen Fehlentwicklungen in Japan. Deren Auswirkungen ließen eine individuell gefühlte Zuversicht und Sicherheit vieler Japanerinnen und Japaner erodieren (Suzuki Sadami). Vor dem Hintergrund der Entstehung einer globalen Nomenklatur für neue gesellschaftliche Spaltungs- und Prekarisierungstendenzen und eines neuen diffusen Krisengefühls, hat sich auch in Japan eine ganz eigene Begriffslandschaft ausgebildet. Nicht zuletzt unter dem Einfluss von Atom- und Naturkatastrophen zeigte sich in Protestaktionen, akademischen Veröffentlichungen sowie insbesondere auch (pop-)kulturellen Repräsentationen eine immer deutlicher werdende Unzufriedenheit, ein Gefühl der Bedrohung und Unsicherheit (Roman Rosenbaum).

Die einzelnen Beiträge in „Visions of Precarity“ analysieren ein breites Spektrum an prekären Topoi in Literatur und (Pop-)Kultur, die eine Arena für die Diskussion kulturellen und sozio-ökonomischen Wandels sowie ihre Rückkopplungen auf die individuellen Alltagsgeschichten bieten. Es ist zu beobachten, dass individuelle Reaktionen auf prekäre Gegebenheiten und deren psychologischen Auswirkungen zunehmend in der Literatur Ausdruck finden, dabei bestehende literarische Stile ausweiten und zu etwas Neuem wenden (Kristina Iwata-Weickgenannt; Yasuo Claremont). Ähnlich verhält es sich in anderen medialen Repräsentationen wie Film, Fernsehserien, Anime und Manga, in denen ebenso affektive Ergebnisse unsicherer Lebenswelten erzählt werden. Stile und Erzählweisen sind durch gegenwärtige Prozesse der Entfremdung, schwindende Emotionen und instabile Beziehungsgefüge charakterisiert und etablieren eine neue Ästhetik der Unsicherheit und des prekären Bewusstseins (Maria Grăjdian). Ebenso zeigen Analysen des Niedlichen (kawaii) in Bezug auf Umweltthemen, wie neue Poetiken als affektive Vermittler entstehen, um beispielsweise die emotionalen Reaktionen der Hoffnungslosigkeit und Angst zu kanalisieren und zugleich Handlungsmöglichkeiten des politischen Selbstausdrucks zu verschaffen (W. Puck Brecher).

Bemerkenswert ist zudem die neuerliche Popularität proletarischer Literatur der Zwischenkriegszeit, die für Narrative des Prekären in neuerer Literatur und (Pop-)Kultur signifikante Impulse liefern. Dadurch werden in Japan bestehende Erzählungen sozialer Spaltungs- und Ausbeutungsprozesse aktualisiert und mit gegenwärtigen Unsicherheiten in Dialog gebracht. Das große Interesse an derartigen Themen kann als Barometer für gesellschaftliche Nöte und Stimmungen interpretiert werden; die Verfügbarkeit, Popularität und – im Kontext der vorherrschenden Kulturindustrie – Konsumierbarkeit von Narrativen des Prekären bieten sogar Potenzial für neue Identifikationsangebote (Roman Rosenbaum; Mats Karlsson). Anders jedoch als im proletarischen Kontext der 1920er- und 1930er-Jahre fallen die Lösungsvorschläge prekärer Texte weniger programmatisch und kämpferisch aus. Denn neben einer kritischen Veranschaulichung prekärer Lebenswelten und ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse auf Kosten des individuellen Glücks bleibt oft die ungebrochene Glorifizierung von Arbeit und Familie in einem neoliberalen Japan bestehen (Chris Perkins). Das Ausloten von Handlungskompetenzen endet meist in hilfloser Resignation oder lähmender Ambivalenz; die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens außerhalb des gesellschaftlichen Gefüges und jenseits eines materialistisch geprägten Fortschritts- und Arbeitsimperativs erscheint oft nur in einem fragenden Konjunktiv (Maria Roemer). Dabei gilt es jedoch sich immer wieder zu vergegenwärtigen wer wann über Prekarität spricht und diese erfährt. Ritu Vij geht dieser, meines Erachtens zentralen, Frage zum Thema Prekarität in ihrer feministischen Kritik nach, indem sie aufzeigt, dass gegenwärtige Prekaritätskonzepte die prekäre Position von Frauen ausblenden oder lediglich instrumentalisieren. Ihr versöhnlicher Vorschlag ist, „Prekarität als geteilte ontologische Verwundbarkeit“ (S. 170) zu begreifen, womit sie ganz ähnlich wie Butler Prekärsein als Bedingung menschlichen Lebens theoretisiert.

Mit einer kritischen kultur- und literaturwissenschaftlichen Herangehensweise an (pop)kulturelle Repräsentationen prekärer Inhalte in Japan bietet „Visions of Precarity“ einen Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit einem vielschichtigen und schwer fassbaren Forschungsgegenstand. Die Auswahl und Schwerpunktsetzung der Beiträge spiegeln sowohl Komplexität als auch Diffusität des Themas Prekarität wider, bilden jedoch Synergien durch gemeinsame inhaltliche und methodische Bezugspunkte sowie Verweise zwischen den einzelnen Kapiteln. Der interdisziplinär angelegte und in sich stimmige Sammelband kann somit eine Lücke für ein internationales Publikum schließen. Allerdings wäre eine stärkere Bezugnahme auf konzeptionelle Verknüpfung von Prekarität und Gouvernementalität, wie sie Judith Butler und Isabell Lorey vornehmen, wünschenswert.

Denn auch „Visions of Precarity“ bleibt kritisch gegenüber einer vereinfachenden Verwendung und politischen Instrumentalisierung des Prekaritätsbegriffs. Die gesellschaftliche Rolle von Prekariatsliteratur kann den Anspruch einer Proletariatsliteratur als gesellschaftlicher Spiegel und programmatisches Manifest nicht vollständig einlösen, denn sie bleibt einer postmodernen Überhöhung der Form unterworfen. Entstanden in gesellschaftlichen Machtverhältnissen eröffnen sich durchaus Räume für subversives Schreiben und Handeln, das jedoch stets an literarischen Produktionsprozessen und dem konsumorientierten Imperativ der Unterhaltung unterliegt.

Anmerkungen:
1 Isabell Lorey, Die Regierung des Prekären, Wien 2012, S. 85ff.; vgl. ebenso Anne Allison, Precarious Japan, Durham 2015.
2 Pierre Bourdieu, Prekarität ist überall, in: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion, Konstanz 1998, S. 97; Judith Butler, Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence, London 2004.
3 Mona Motakef, Prekarisierung, Bielefeld 2015, S. 6–11.

Redaktion
Veröffentlicht am
07.04.2017
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