Carlo Moos, emeritierter Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich, begibt sich mit „Habsburg post mortem. Betrachtungen zum Weiterleben der Habsburgermonarchie“ auf Spurensuche nach Kontinuitäten des Habsburgerreiches, die bis in die Gegenwart hereinreichen und beschäftigt sich mit der Frage, wie es zur nachträglichen Verklärung dieses 700 Jahren alten Imperiums kommen konnte.1 Vorausgegangen ist dieser Studie eine langjährige Beschäftigung mit der Habsburger Monarchie, die unter anderem aus einer Vielzahl an Lehrveranstaltungen über das Ende dieses Reiches an der Universität Zürich bestand (S. 12). Ebenso spielten persönliche Motive eine nicht unerhebliche Rolle, befindet Carlo Moos doch das Verschwinden dieses Reiches, mag es auch für einen Schweizer möglicherweise unverständlich sein, als ausgesprochen bedauerlich (S. 13).
Im Mittelpunkt der vorliegenden Studie steht nach Moos die Suche nach Spuren, die die Habsburgermonarchie „post mortem“, also nach ihrem Ende, hinterließ, mithin die Suche nach einem Weiterleben nach dem Tod und nach Kontinuitäten, die sich auf allen möglichen Feldern aufspüren lassen (S. 9). Somit ist diese Studie, was die Einordung in die Forschungslandschaft anbelangt, eindeutig der Geschichte der Habsburgermonarchie zuzuordnen. Wiederholt bezieht sich Moos dabei auf das mehrbändige Standardwerk „Die Habsburgermonarchie 1848–1918“, bemängelt dabei aber das Fehlen eines eigenen Bandes über das Haus Habsburg.2 Bereits zu Beginn seiner Ausführungen betont der Autor, auf ein abschließendes Literaturverzeichnis zu verzichten, da er sich Quellen sehr unterschiedlicher Art und Qualität bedient. Moos stellt von Anfang an klar, dass es ihm nicht darum gegangen ist, einfach ein weiteres Habsburg-Buch zu verfassen (deren gibt es in der Tat viele), seine Studie setzt im Gegensatz zu den bisher vorliegenden Werken zur Habsburger Monarchie gerade mit dem Ende des Reiches ein und beschäftigt sich in erster Linie mit dessen Nachleben (S. 14).
Die Gliederung des 414 Seiten umfassende Werks spiegelt Carlo Moos‘ langjährige Auseinandersetzung mit der Habsburger Monarchie wider, wobei sich Teil I (S. 19–157) vorwiegend mit dem Politischen beschäftigt, Teil II (S 159–280) eine Art Schnittfläche der zwei hauptsächlichen Interpretationsschienen bildet und Teil III (S. 281–396) überwiegend das Kulturelle thematisiert.
Teil I, der die Kapitel 1 bis 3 umfasst, beschäftigt sich unter anderem mit der bis heute nicht honorierten politischen Leistung Otto Bauers in seiner Funktion als Staatssekretär für Äußeres um den Staatsvertrag von St. Germain (S. 45). Moos versucht hier Licht auf die Möglichkeiten zu werfen, die sich der jungen Republik geboten hätten, wenn es gelungen wäre, die Nachkriegs-Koalition weiter zu führen. Hervorzuheben ist auch Kapitel 3, das territoriale und ethnische (Folge-)Konflikte in und unter den Nachfolgestaaten bis in die 1990er-Jahre und teilweise noch darüber hinaus thematisiert. Auch „mental laps“ und ihre Konkretisierung in der topographischen Realität werden dabei angesprochen (S. 120).
Der zweite Teil der Studie (Kapitel 4 bis Kapitel 6) erhellt die breite Schnittfläche zwischen den Interpretationsschienen der politischen Themen im ersten und der Kulturthemen im dritten Teil. Hier stehen die Habsburger im Mittelpunkt des Interesses, wobei betont werden muss, dass es Moos nicht primär um eine Geschichte des Hauses Habsburg geht, weshalb er auch nur überblicksmäßig auf die letzten zwei Kaiser und den Thronprätendenten Otto eingeht; sein Hauptinteresse gilt den Habsburg-Nostalgismen. Das Habsburg-Gesetz von 1919, das die Enteignung und den Landesverweis der Mitglieder des einstigen Herrscherhauses festschrieb, und die damit verbundenen Probleme, werden in Kapitel 5 eingehend behandelt.
Im dritten Teil (Kapitel 7 bis Kapitel 9) geht es vornehmlich um Kulturhistorisches: Hier wird der Habsburg-Mythos ausführlich analysiert, das oftmals idealisierte und verklärte Bild von Österreich-Ungarn und seinem Kulturleben in den Jahrzehnten und Jahren vor dem Untergang des Reiches (S. 282). Nach Ansicht von Moos kam der ‚eigentliche‘ kulturelle Bruch allerdings nicht mit dem Ende der Monarchie 1918, sondern zwanzig Jahre später mit dem „Anschluss“ an NS-Deutschland, der einen beispiellosen kulturellen und wissenschaftlichen Exodus auslöste, von dem sich nicht nur Österreich nie mehr erholen sollte.3
Das beeindruckende literarische und das musikalische Erbe wird in den Kapiteln 8 und 9 thematisiert. Erwähnt seien an dieser Stelle nur Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ und der Roman „Radetzkymarsch“ von Joseph Roth; letzterer ein unvergleichlicher Habsburg-Mythisierer, der mit diesem Roman als einer der ‚eigentlichen‘ Stifter eines weit über die eigene Lebenszeit wirkenden Mythos gelten kann (S. 323).
Wie immer man auch das Ende der Habsburgermonarchie interpretieren will, so Moos abschließend, ob selbstverschuldet oder nicht, ob jahrelang vorbereitet oder als Resultat eines militärischen Zusammenbruchs, entscheidend sei die Frage, weshalb sich dieses heterogene Gebilde lange vor 1914 ausgerechnet an die Seite des martialischen Deutschen Reiches stellen konnte und bis zum bitteren Ende an dessen Seite blieb. Im Prinzip, so Moos Überzeugung, wäre das Ende der Monarchie vermeidbar gewesen wäre; wobei es ihm aber fernliegt, ein idealisiertes multikulturelles Kitschbild der Habsburger Monarchie zu zeichnen.
Obwohl sich die Habsburger Monarchie im Herbst 1918 in ihre von einer umstrittenen Friedensregelung nachträglich fixierten Bestandteile aufgelöst hat, hat sie, so Carlo Moos, niemals ganz zu existieren aufgehört. Denkmäler, Inschriften aller Art, Bauten, literarische Werke und natürlich auch die Strahlkraft des musikalischen Erbes sind Zeugen dieser Zeit und leben bis heute fort. Mit Betrachtungen und Impressionen unterschiedlicher Art habe er versucht den Lesern und Leserinnen eine Illustration zu dem Urteil von Brigitte Mazohl zu liefern, wonach „das von der nationalen Propaganda rund um den Ersten Weltkrieg ‚als Völkerkerker‘ verunglimpfte“ und „von wohlmeinenden Zeitgenossen als ‚lebender Anachronismus‘ bezeichnete Länderkonglomerat“ zugleich jener Staat war, „der als Modell für ein einigermaßen friedliches Mit- und Nebeneinander unterschiedlicher Volksgruppen und Nationen in einem größeren gemeinsamen politischen Verbund gesehen werden kann.“ Der Versuch kann als gelungen betrachtet werden.
Anmerkungen:
1 Carlo Moos, Habsburg post mortem. Betrachtungen zum Weiterleben der Habsburgermonarchie Wien 2016; Franz Joseph I. Ärgerliche Vermarktung. Interview Carlo Moos, in: ZEIT ONLINE, 14.11.2016, http://www.zeit.de/2016/47/franz-joseph-i-verklaerung-modernes-oesterreich-carlo-moos (11.07.2017).
2 Adam Wandruzka / Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburger Monarchie 1848–1918, Bd. I bis Bd. VI., 1973–1995; Helmut Rumpler / Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburger Monarchie 1848–1918, Bd. VII. bis Bd. XI., 1995–2016.
3 Peter Weibel / Friedrich Stadler (Hrsg.), Vertreibung der Vernunft. The Cultural Exodus from Austria, Wien 1993.