„We show ourselves at least your equals in scientific butchery, and at once we are admitted to your council table as civilized men“1. Mit diesem ironischen Kommentar anlässlich der Einladung Japans zur Hager Friedenskonferenz brachte im Jahre 1899 ein japanischer Diplomat gegenüber einem europäischen Kollegen einen Grundsachverhalt der internationalen Beziehungen zum Ausdruck: In der Wahrnehmung der Akteure gründete sich ein Staat auf seine Fähigkeit und sein Recht, Gewalt auszuüben, nach innen und nach außen.
Der amerikanische Publizist Jonathan Schell hat es sich in seinem Buch zum Ziel gesetzt, dieses klassische Terrain der Philosophie und Theorie der internationalen Beziehung neu zu vermessen und die „Frage von Krieg und Frieden, Vernichtung und Überleben neu [zu] stellen“ (S. 16). Er folgt dabei nicht philosophischen Prinzipien, sondern greift auf historische Argumente zurück. Der deutsche Titel des Buchs – „Politik des Friedens“ – ist missverständlich. Nicht so sehr um den Inhalt einer solchen Politik ist es Schell zu tun, sondern um die Gründe dafür, warum „Friedenspolitik“ zu Beginn des 21. Jahrhundert mehr denn je geboten sei. Der englische Originaltitel ist da präziser: „The Unconquerable World“ ist Schells Untersuchungsgegenstand. Mehr denn je seien im 20. Jahrhundert die Aporien der Verbindung von Gewalt und Politik zum Ausdruck gekommen; ihre Verknüpfung sei deshalb obsolet geworden. Daraus ergibt sich Schells Fundamentalkritik an der Außenpolitik der Regierung Bush: Internationale Macht könne nicht mehr auf dem Einsatz von Gewalt und auf Eroberungen gründen; allein eine gewaltfreie Politik, welche weltweit auf die Stärke liberaler Ideen und auf die Rationalität der Bevölkerung setze, sei der Situation angemessen.
Schell entwickelt sein Argument dialektisch. Einerseits habe das 20. Jahrhundert in seiner blutigen Bilanz Gewalt in „phantastischen Mutationen und Steigerungen“ (S. 13) gezeigt. Andererseits fanden, so Schell, zugleich „stille und tiefreichende Veränderungen in der Welt“ statt: „Waffen und der Mensch haben sich in einer Weise verändert, daß beides so groß ist wie nie zuvor: die Gefahr einerseits und die Aussicht auf Frieden andererseits.“ (S. 20) Dieser Dialektik entsprechend, analysiert Schell im ersten Teil seines Buchs in großem Bogen zunächst die Geschichte der Gewalt als „Staatsgewalt“ und als gesellschaftliche Gewalt in Bürgerkriegen. Laut Schell machen zwei Entwicklungen die in der frühen Neuzeit entstandene Staatenordnung, von Schell „Kriegssystem“ genannt, obsolet.
Erstens habe die Verbreitung von Kernwaffen Krieg unführbar gemacht. Schon während des „Kalten Krieges“ sei das Kriegssystem zu einem Anachronismus geworden; Schlachten zwischen den Großmächten seien nun vor allem auf psychologischer Ebene geschlagen worden; der Primat der Gewalt sei zu einem „Primat der Erscheinung“ geworden (S. 71). Zweitens mache, so Schell, die zunehmende Bedeutung des Volkskrieges die Befriedung der Welt mit Hilfe von Gewalt unmöglich – imperiale oder auch nur hegemoniale Herrschaft sei undenkbar geworden, da unersättliche „Dämonen nationaler, ethnischer, religiöser und klassenbedingter Haßgefühle“ walteten (S. 17).
Das 20. Jahrhundert habe aber, so der Autor, zugleich eine neuartige Methode zur Konfliktregulierung hervorgebracht, deren Geschichte er im zweiten Teil seines Buchs umkreist: die Gewaltfreiheit. In breiten Zügen schildert Schell hier Mohandas K. („Mahatma“) Gandhis Kampf gegen die britische Kolonialherrschaft und zieht Parallelen zur englischen Glorious Revolution (1688) und zur Implosion des Ostblocks seit Mitte der 1980er-Jahre. Im dritten Teil des Buches skizziert Schell die Grundlage für die Umsetzung seiner Ideen: den Siegezug der Demokratie im 20. Jahrhundert, die Bedeutung von Recht und freiheitlicher Ordnung sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. Im abschließenden Teil präsentiert Schell seine Synthese. Nach dem 11. September 2001 sei die „Logik des Friedens“ besonders deutlich sichtbar geworden. Das Datum sei ein genauso zentraler zivilisatorischer Wendepunkt wie der Erste Weltkrieg; auch jetzt ginge es ganz grundsätzlich um die Entscheidung zwischen gewaltsamen und friedlichen Mitteln der Friedenssicherung. Im Anschluss an Hannah Arendts Konzept der „Kooperationsmacht“ argumentiert Schell, dass allein die gewaltfreie Konfliktregulierung im Bewusstsein eines gemeinsamen menschlichen Interesses in die Zukunft weise: „In unserer Zeit einer fortdauernden demokratischen Revolution wird die Macht, die Regierungen durch Furcht erzeugen, ständig durch die Macht in Frage gestellt, die aus der Freiheit der Menschen erwächst, sich für ihre Interessen und Überzeugungen einzusetzen.“ (S. 384)
Freilich könnte man Schells Vorstellungen internationaler Ordnung aus realistischer Warte kritisieren und auf die mangelnde Durchsetzungschancen dieser Vorschläge verweisen. Es erscheint allerdings lohnender, einige Grundannahmen zu analysieren, welche Schells Argumenten ihren spezifischen Charakter verleihen. In gewisser Weise erscheint Schells Werk als Versuch einer „kulturellen Demobilmachung“ der amerikanischen Gesellschaft nach dem 11. September 2001. Durch eine entsprechende Codierung erscheint Frieden als gemeinschaftsstärkende Kraft auf allen Ebenen: Während er die Übersetzung der Ideale der Menschheit vor allem in konkreter Interaktion sieht, für Schell „Frieden“ also zur sozialen Praxis wird, erscheint Krieg als Resultat der Agglomeration von Gewalt in großem Stil.
Aus der Funktion des Buches erklärt sich denn auch Schells Scheu, seinen zentralen Analysebegriff, die „Gewalt“, analytisch präziser zu packen. Zwar erwähnt Schell die wechselseitige Bezogenheit von Gewaltbereitschaft und Gewaltbegrenzung in der Geschichte, begrenzt „Gewalt“ auf „physische Gewalt“ und interpretiert Gewalt als Teil von Macht. Er argumentiert aber doch aus implizit anthropologischer Warte, dass der Mensch gut sei. Es hätte weiter geführt, im Anschluss an neuere Entwicklungen in der Gewaltsoziologie, Gewalt als kontingente und unter allen Bedingungen jederzeit mögliche Option menschlichen Handelns zu definieren. So hätte Schell die Paradoxie „gewaltbewältigender Gewalt“ wesentlich fruchtbarer analysieren können.2
Dennoch versteht sich Schell nicht als Pazifist, da er nicht unter allen Umständen und kategorisch den Einsatz von Gewalt ablehne. Er argumentiert in guter angelsächsischer Tradition aus der Perspektive von Kosten und Nutzen. Letztlich versucht Schell, den liberalen Internationalismus des US-Präsidenten Woodrow Wilson mit seiner Betonung von Demokratie, Recht, kooperativer Konfliktregulierung und internationaler Kooperation wieder zu beleben. Das Ganze ist unterlegt mit einem für den amerikanischen Diskurs typischen Sendungsbewusstsein, welches in einer mitunter religiös eingefärbten Sprache zum Ausdruck kommt. Schells Vertrauen, aus der Geschichte lernen zu können, weist ihn ebenso als einen „progressive“ aus wie seine Gegenüberstellung von im Grunde rationalen Gesellschaften und kriegstreibenden Regierungen. Seine Ideen schöpft er also aus der Sozialkultur eines eng umgrenzten politischen Milieus in den Vereinigten Staaten, welches zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch transatlantisch orientiert war, heute allerdings nur noch unter einigen Intellektuellen der amerikanischen Ostküste in Reinform anzutreffen ist. So reiht sich Schell mit seinem Werk in die Reihe jener auf beiden Seiten des Atlantiks diskutierten Intellektuellen wie Norman Angell und David Mitrany ein, welche schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts aus pragmatischen Gründen Gewalt als Mittel des Konfliktaustrags für obsolet erklärt haben 3. Vor dem Hintergrund der Diskussionen um die amerikanische Außenpolitik nach 09/11 erhält das Buch seine besondere Bedeutung. Es erhält seinen Wert daher vor allem als Quelle für eine noch zu schreibende Geschichte der Gegenwart.
Anmerkungen:
1 Zitiert nach Best, Geoffrey, Restraints on Land War before 1945, in: Howard, Michael (Hg.), Restraints on War. Studies in the Limitation of Armed Conflict, Oxford 1979, S. 23.
2 Vgl. Popitz, Heinrich, Phänomene der Macht, Tübingen 1992, S. 61-66; Nedelmann, Birgitta, Kommentar, in: Ziemann, Benjamin (Hg.), Perspektiven der Historischen Friedensforschung, Essen 2002, S. 101-109, hier S. 109.
3 Vgl. Angell, Norman, The Great Illusion. A Study of the Relationship of Military Power to National Advantage, New York 1913; Mitrany, David, A Working Peace System, London 1943; vgl. dazu: Howard, Michael, War and the Liberal Conscience, London 1978.