Es ist schon ein Kreuz mit den Übersetzungen. „Something New Under the Sun“ heißt John McNeills Buch im amerikanischen Original. Die aus dem Alten Testament entlehnte Formulierung spielt auf die Leitthese dieses Buches an: Das 20. Jahrhundert fällt mit Blick auf die Intensität der ökologischen Veränderungen aus dem Rahmen. Da aber ein deutscher Lektor bei „unter der Sonne“ vermutlich gleich an Bülow und wilhelminische Großmachtpolitik denkt, musste ein anderer Titel her. Warum nicht den blauen Planeten beschwören? Aber bitteschön auf Englisch, weil das wirkt so schön kosmopolitisch: „Blue Planet“ heißt das Resultat, und auf dem Cover prangt ebendieser Planet dann auch in bekannter Schönheit. Zieht so etwas noch?
Dabei hätte das Buch solche Mätzchen gar nicht nötig. Denn dieses Buch, das 2000 im englischen Original erschien und nun in etwas betulicher Übersetzung auf Deutsch herausgekommen ist, stellt eine imponierende Synthese der Forschung dar. Umweltgeschichte wird hier vor allem als Geschichte der natürlichen Umwelt verstanden; erst ganz zum Schluss findet sich ein Kapitel über „Ideen und Politik“, das an einigen Stellen doch arg knapp ausgefallen ist. Im Zentrum des Buches steht eine umfassende Bestandsaufnahme des ökologischen Wandels im Industriezeitalters: des menschlichen Einflusses auf Boden, Atmosphäre, Hydrosphäre und Biosphäre, stets unter der doppelten Frage nach den Einwirkungen des Menschen und den getroffenen Gegenmaßnahmen. Mit sicherer Hand zeichnet McNeill die großen Linien der Entwicklung nach, ohne dabei den Blick für die kleinen erhellenden Details zu verlieren. So erfährt man etwa, dass sich unter den illegalen Walfängern der 1950er Jahre auch der griechische Tankerkönig Aristoteles Onassis befand, der dafür auch noch steckbrieflich gesuchte norwegische Nazikollaborateure anheuerte. Und man lernt, dass Gerhard Schröder nicht der erste war, der dank einer Flutkatastrophe eine Wahl gewann: Vor der Präsidentschaftswahl 1928 hatte sich Herbert Hoover als Handelsminister bei der Bekämpfung der Mississippiflut im Vorjahr profilieren können. (Im folgenden Jahr kam dann aber bekanntlich die Weltwirtschaftskrise, Hoover verlor seine Wiederwahl, und das Weiße Haus gehörte für 20 Jahre der Opposition.)
Vollständigkeit war bei dieser Aufgabenstellung von vornherein nicht zu erwarten – zumal diese den Leser vermutlich weitaus schneller erschöpfen würde als das Thema. Aber es ist schon bemerkenswert, wie sehr sich McNeill einen globalen Blick zueigen gemacht hat und munter Befunde aus ganz unterschiedlichen Regionen der Welt zu einem Gesamtbild zusammenführt. Sein Blick ist dabei weniger komparativ als synthetisierend: McNeill konzentriert sich auf die Gemeinsamkeiten, die typischen Trends. Auch wenn sich McNeill um Vollständigkeit bemüht, spiegelt sein Buch doch auch die Schwerpunkte der umwelthistorischen Forschung wider. Die Ausführungen zum Boden fallen etwa deutlich kürzer aus als jene zu Luft und Wasser, und auch der Walfang im südlichen Eismeer erlangt mehr Beachtung, als ihm aus einer strikt ökologischen Sicht eigentlich zustünde. Beschwerden sollten sich allerdings weniger an McNeill richten als an Greenpeace International.
„Mut zur Lücke“ muss die Devise für jeden lauten, der eine Synthese von derartiger Spannbreite schreiben will. McNeill interpretierte dies als „Mut zur Fallstudie“: Die Konkretisierung allgemeiner Trends gelingt in vielen Fällen durch die Wahl einzelner Beispielfälle. Die Entwicklung der großstädtischen Luftverschmutzungsprobleme werden etwa durch Skizzen der Entwicklungen in London, Pittsburgh, Los Angeles, Athen, Mexiko-Stadt, Kalkutta, Ankara und Cubatao transparent gemacht: Die ersten beiden Städte repräsentieren das Zeitalter des Kohlenrauchs, die nächsten beiden jenes des automobilen Smogs, die übrigen Städte der Dritten Welt in unterschiedlichen Stadien der Problembewältigung. Natürlich ist eine solche Wahl anfechtbar: Warum wählt McNeill Los Angeles und nicht Houston, das trotz günstigerer topographischer Lage inzwischen ein Problem von ähnlichen Dimensionen besitzt? Und muss Athen im europäischen Zusammenhang nicht eher als Nachzügler gelten? Aber solche Fragen ignorieren den Wert der bewussten Beschränkung auf einzelne, besonders aufschlussreiche Fallstudien im Rahmen dieser Monographie. Und nebenbei bemerkt lässt McNeill auf diesem Weg auch viel Raum für zukünftige Forschungen.
In der Einleitung gelobt McNeill Zurückhaltung mit Werturteilen, „weil Umweltveränderungen für gewöhnlich gut für die einen Menschen sind und schlecht für die anderen.“ (S. 15f) Das wirkt nach der Lektüre des Opus allerdings ein wenig maniriös; denn insgesamt gesehen präsentiert das Buch in weiten Teilen durchaus eine Geschichte von Verschwendung und Verschmutzung. Und ist es denn so falsch? In der Zeit nahm Rolf Peter Sieferle das Buch bereits zum Anlass, dem populären Umweltbewusstsein Blindheit zu attestieren. Tatsächlich dokumentiert das Buch nachdrücklich, nicht zuletzt durch seinen betont nüchternen Tonfall, wie sehr sich das 20. Jahrhundert in seinen Auswirkungen auf die natürliche Umwelt von früheren Zeiten unterscheidet. Trotzdem verzichtet McNeill auf politische Bekenntnisse – und erklärt dazu augenzwinkernd: „Besonders enttäuscht werden aber diejenigen sein, die es bevorzugen, gesagt zu bekommen, was sie denken sollen.“ (S. 16)
Am Anfang dieses Buches stand Paul Kennedys Aufforderung, eine Umweltgeschichte des 20. Jahrhunderts für die von ihm herausgegebene Global Century-Reihe zu schreiben. Das Ergebnis ist deutlich mehr geworden: ein Buch, das die aktuellen Umweltprobleme in historischer Perspektive betrachtet und sich um künstliche Jahreszahlen nicht sonderlich kümmert. So blickt McNeill dort, wo es angebracht ist, unbekümmert ins 19. Jahrhundert und in die Frühe Neuzeit zurück, stets souverän und auf dem Stand der wissenschaftlichen Literatur. Nur bibelfest ist der Autor nicht – und so verlegt McNeill den Schöpfungstag des Menschen nach dem ersten Buch Moses um einen Tag nach vorne. Aber einem Autor, der eine Umweltgeschichte des 20. Jahrhunderts schreiben sollte und viel mehr geliefert hat, mag man einen solchen Lapsus verzeihen. Zumal die Sache mit der Schöpfung nun wirklich lange vor dem 20. Jahrhundert war.