Der Berliner Universitätshistoriker Marc Schalenberg hat mit seiner Dissertation einen vorzüglichen Beitrag gleich zu mehreren aktuellen Diskussionen geliefert.
Seine Analyse des Umgangs mit dem Humboldtschen Hochschulkonzept in Frankreich und Großbritannien fügt sich in die Debatte ein, inwieweit die Berliner Universitätsgründung von 1810 gewissermaßen zum Idealtypus für die moderne Hochschulentwicklung geworden sei – ein Mythos, der sich hartnäckig bis in die gegenwärtigen Reformdiskussionen hält, in denen noch immer einflußreiche Autoren glauben, daß die (dann meist nicht näher beschriebene) Rückkehr zu Humboldt ausreichen würde, um deutsche Universitäten wieder den ihnen gebührenden Spitzenplatz in der Welt wie um 1900 zu sichern. Daß es nicht das Humboldtsche Vorbild, sondern die mit seiner mythischen Stilisierung verknüpfte Wissenschaftspolitik der Althoff und Harnack (um die preußischen Exponenten zu nennen) war, die Deutschland internationales Ansehen und zahlreiche akademische Besucher auf der Suche nach Nachahmenswertem bescherte, bleibt dabei ausgeblendet, ebenso wie die schmerzliche Einsicht, daß Opportunismus und Regimetreue der meisten deutschen Hochschullehrer in die Kriege des 20. Jahrhunderts hinein jene Isolation provozierte, die den Anschluß an eine zunehmend von den USA beeinflußte Internationalisierung verpassen ließ. Vielleicht verbindet die heutige Universitätssituation mit Humboldt am meisten, daß er schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereit war, die vorgesehene Autonomie (und ihre ökonomischen Grundlagen) zur Disposition zu stellen, weil sie angesichts des Europa dominierenden (napoleonischen) Auslands zu riskant erschien. Nicht „Einsamkeit und Freiheit“, sondern staatliche Alimentierung und Beamtentum bestimmten die universitäre Wirklichkeit, von der der Mythos Humboldt gründlich zu unterscheiden ist.
Hatte das Humboldtsche Universitätsmodell, sei es in seiner realen Gestalt, sei es in einer irgendwie mythischen Überhöhung, den ihm oft zugesprochenen Einfluß auf die Ausprägung der Wissenschaftslandschaft in anderen europäischen Gegenden? Schalenberg nähert sich der Frage, indem er wie bei einer Zwiebel Schale für Schlage abträgt. Zunächst diskutiert er nach einer ausführlichen Referierung des Forschungsstandes die Genese und Bedeutung des nur noch in Anführungszeichen präsentierbaren „deutschen Universitätsmodells“. Es folgt eine Einführung in die französische Hochschulsituation. Zwischen die Erörterung der Pariser Institutionen und die Analyse der in der Université Impériale stark vernachlässigten Provinz (an den Beispielen Toulouse und Strasbourg) schiebt der Vf. eine Darstellung der Deutschlandrezeption von Mme de Stael bis zu den Nachwuchswissenschaftlern, die der Reform von Victor Duruy mit ihren Berichten aus deutschen Hochschulen zuarbeiteten.
Auf ähnliche Weise ist das Kapital IV. zu den britischen Hochschulen gegliedert, nur daß hier keine so ausführliche Behandlung der Betrachtung deutscher Universitäten nötig und möglich ist – die Inspiration am deutschen Vorbild blieb wesentlich marginaler als in Frankreich. Schalenberg liefert mit diesen beiden großen Kapiteln seiner Arbeit zu französischen und englischen Entwicklungen eine gelungene Synthese der einschlägigen Forschungen aus Frankreich und Großbritannien, und man kann nur hoffen, daß wenigstens diese beeindruckende „Übersetzungsleistung“ hierzulande rezipiert und für die weitere Erörterung der sog. Angleichung im Bologna-Prozeß berücksichtigt wird.
Denn die Pfadabhängigkeit der jeweiligen Hochschulsysteme ist eklatant, ihre Beschreibung hätte sogar noch verstärkt werden können, wenn der Vf. die Reformperiode 1790-1820 insgesamt vergleichend betrachtet hätte, die durch den Einsatz seiner Studie mit dem allein für Berlin bedeutsamen Jahr 1810 gewissermaßen zerschnitten wird.
Nach der detaillierten Beschreibung der drei Hochschulsysteme und ihrer Veränderungen zwischen 1810 und 1870 bildet das „Ergebnisse“ überschriebene Kapitel den eigentlichen Kern der Arbeit Schalenbergs, indem es eine differenzierte Antwort auf die im Titel angedeutete Ausgangsfrage liefert, inwieweit die Humboldt-Idee und die Realität der Humboldtschen Universitätsgründung tatsächlich auf Reisen gegangen seien. Zuerst resümiert der Autor, was eigentlich rezipiert wurde. Bewunderung für Leistungskraft der deutschen Kollegen und deren institutionelle Bedingungen verbinden sich sowohl in Frankreich wie in Großbritannien mit einem Gefühl grundsätzlicher Fremdheit angesichts des zugrundeliegenden Selbstverständnisses für akademisches Wirken.
Diese Konstellation wird zum Ausgangspunkt nicht für die Übernahme eines irgendwie charakterisierten „deutschen Universitätsmodells“ (dem stand die Überzeugung von der Fremdartigkeit, oder eben der Pfadabhängigkeit, bei den Zeitgenossen entgegen), wohl aber für eine Benutzung der deutschen Hochschulqualität als Argument: wie aus einem Steinbruch sollten Elemente dieses erfolgreichen Musters isoliert und zur Behebung von Defiziten des je eigenen Systems importiert werden.
Was dafür nicht interessierte (wie die gravierenden Unterschiede in der Verwaltungsstruktur und Rechtsstellung durch einzelstaatliche Zuständigkeit), blieb ausgeblendet, so daß es gerade der hier untersuchte Transfervorgang war, der paradoxerweise die Nationalisierung des Bildes von den deutschen Universitäten beförderte.
Schalenberg kommt schließlich zu eben jenen Schlußfolgerungen, die auch schon die Begründer der Kulturtransferforschung herausgestellt hatten: Vorrang der Importperspektive gegenüber jeglicher Ausstrahlungs- und Einflußforschung; Selektivität der Perzeptions- und Imitationsmotivation angesichts konkreter Defizite im eigenen System; Intensivierung einer transnationalen Erfahrungsgemeinschaft der hochschulpolitisch Interessierten, ohne daß damit die Renationalisierung der Ergebnisse bei der Betrachtung ausländischer Strukturzusammenhänge gehindert worden wäre.
Gerade dieser letztere Zusammenhang führte auch dazu, daß das Interesse an „Humboldt auf Reisen“ nach 1900 nachließ: waren vorher die Innovationen des Seminarbetriebes, der Umgruppierung der klassischen Fakultäten und der Praxisorientierung in Frankreich und (in geringerem Umfang) in Großbritannien aufmerksam verfolgt und teilweise übernommen worden, so erlahmte diese Neugier später. Die Grundlage dafür war eine doppelte: eine neue Generation von Hochschullehrern glaubte das eigene Universitätssystem so fortentwickelt zu haben, daß es dem Vergleich nun standhielt, und zugleich war es gelungen, die ausländischen Anregungen als logische Konsequenz der eigenen nationalen Entwicklung darzustellen und nicht als Übernahme des Fremden. Überdies hatten sich nach 1870, also außerhalb des von Marc Schalenberg in den Blick genommenen Zeitraumes, wiederum deutsche Hochschulpolitiker und Universitätslehrer umgekehrt an ausländischen Modellen inspirieren lassen, wenn man nur an die zuvor vehement abgelehnten französischen Spezialschulmodelle und ihre Wirkung auf die Gründung Technischer Hochschulen denkt.
Der Vf. liefert eine systematische Darstellung eines Gegenstandes, das die Kulturtransferforschung in den letzten 15 Jahren zu ihren wichtigsten Experimentierfeldern gemacht hat, und er führt, darin liegt ein nicht zu unterschätzendes Verdienst, die bislang eher parallel verfolgten Ansätze der deutsch-britischen und deutsch-französischen Transferstudien vergleichend zusammen. Man kann Marc Schalenbergs Dissertation also auch außerhalb ihres universitätsgeschichtlichen Zuschnitts als einen gelungen Beitrag zur Methodendebatte um Transfer und Vergleich lesen. Aus all den genannten Gründen bleibt dem Band eine breite Rezeption zu wünschen.