Marcel van der Linden dürfte als Forschungsdirektor des Internationalen Institutes für Sozialgeschichte (IISG) in Amsterdam und Mitherausgeber der Zeitschriften sozial.geschichte (ehemals: 1999) und International Review of Social History eineR der profiliertesten und agilsten HistorikerInnen der Arbeiterbewegung sein. Diese HistorikerInnen hatten in den 1970er und 1980er-Jahren traditionellerweise die institutionellen Aspekte der Arbeiterbewegung und auch vorrangig die Verhältnisse in einigen industrialisierte Nationen des globalen Nordens im Fokus. Van der Linden nun ist ein aufmerksamer Beobachter der internationalen Forschung zur Geschichte der Arbeiterbewegung und auch das IISG hat seit Mitte der 1980er-Jahre seine Sammlungstätigkeit und Erwerbungspolitik von seinem Eurozentrismus befreit und den Mittleren Osten, China, Zentral-, Süd- und Südostasien stärker erforscht und Sammlungen dazu angelegt.
Van der Linden nennt auch die Gründe für diesen Perspektivenwechsel in der Sammlungspolitik und der Forschung(-sförderung): Erkenntnisreiche Vergleiche über das, was in der eigenen Geschichte spezifisch und was allgemein ist, seien nur sinnvoll, wenn sie länderübergreifend getätigt werden. Hinzu kommt, dass sich die ArbeiterInnen noch nie an nationalstaatliche Grenzen gehalten haben und Wanderarbeit, temporäre Migration oder Einwanderung immer zum Verhalten der arbeitenden Klasse gehört haben. Der Nationalstaat, in dessen geografischem, juristischem und politischen Rahmen sich Arbeiterbewegung und Arbeitergeschichte bewegt hätten, sei als Orientierungspunkt eh zu überprüfen.
Mit dem hier anzuzeigenden Buch hat van der Linden neun Fallstudien sowie drei theoretische Beträge zusammengestellt, von denen zehn schon an unterschiedlichen Orten veröffentlicht worden waren. Die Beiträge versuchen einen transnationalen approach und geben den Unterschieden, Annäherungen und Interaktionen zwischen verschiedenen Ländern (und den dazugehörigen Arbeiterbewegungen und -parteien) eine wichtige Rolle. Van der Linden versteht sein Buch als Beitrag zu einer “truly global labour history” (S. 6). Die Inhalte der Aufsätze befassen sich u.a. mit der ersten Generation der kommunistischen Parteien, mit der europäischen Sozialdemokratie, deren Entwicklungswege van der Linden anhand der geografischen Scheidelinie der Alpen separiert oder mit dem impact, den “1968” auf die damals sehr unterschiedlich situierten Arbeiterbewegungen von Großbritannien, Italien, Frankreich oder (West-)Deutschland hatte.
Weiteren Forschungsbedarf sieht er in der Untersuchung der verschiedenen Formen von “Arbeitsverhältnissen”, die es weltweit gibt: Sklaverei, unfreie Arbeit, Lohnarbeit, bäuerlicher Arbeiter, Arbeitskraftunternehmer und so weiter. Zu diesem Aspekt findet sich in dem Band nur ein Aufsatz, der schon auf deutsch vorliegt und konstatiert, dass das Normalarbeitsverhältnis längst nicht so normal ist, wie lange Zeit angenommen. Der Kapitalismus trage nicht – wie üblicherweise angenommen – zu einer Verallgemeinerung der Lohnarbeit bei, sondern bringe viele unterschiedliche Arten von “Arbeit” hervor. Heute – und erst recht im weltweiten Vergleich – seien Sklaverei, Zwangsarbeit, reguläre Lohnarbeit, Halb- und Teilpacht, Arbeitskraftunternehmer, Selbständigkeit und Scheinselbständigkeit anzutreffen. Dies habe zur Folge, um nur zwei Konsequenzen zu nennen, dass die Unterschiede zwischen “Stadt” und “Land” (oder auch “Erster” und „Dritter Welt”) längst nicht so eindeutig seien, bestünden doch enge, ökonomisch begründete Verbindungen zwischen urbanen ArbeiterInnen und ihren Dorfgemeinschaften. Zweitens wäre der Haushalt oder der verwandtschaftliche Kontext von Arbeit wieder stärker zu erforschen, da ein Haushalt oftmals nicht nur Lohnarbeit als Einkommensquelle habe – und damit der Brückenschlag zur Geschlechtergeschichte zu machen.
Fehlstellen hat der auch ein detailliertes Register enthaltene Band, und dies problematisiert van der Linden selbst, in der Untersuchung weitergehender Prozesse von Klassenformierungen und -neuzusammensetzungen sowie der kultureller und symbolischer Praktiken. Die mehr als überfällige Problematisierung des Verständnisses, das von masculinities (Männlichkeiten) in der Arbeiterbewegung herrschte und herrscht, also die Kritik der fiktiven Figur des freien, weißen, männlichen, nichtbehinderten, vollzeitarbeitenden Lohnarbeiters, fehlt z.B. wiedereinmal. Van der Linden versteht seine Aufsätze als “only first steps towards a distant goal” einer globalen ArbeiterInnengeschichte und hat damit recht. Es bleibt zu hoffen, dass er diesen beschwerlichen, aber dringenden notwendigen Weg nicht allein (weiter-)gehen muss. In den 1970er und 1980er-Jahren, als in Reaktion auf die Krise des Fordismus und der Sozialdemokratie nicht nur die westdeutsche Arbeitergeschichtsschreibung einen nostalgischen Aufschwung nahm, hätte er viele MitstreiterInnen gehabt. Heute, angesichts von “Globalisierung” und “Neoliberalismus” müssen überraschenderweise die wenigen an einer global labour history interessierten ForscherInnen und AktivistInnen schon weltweit zusammenarbeiten – was eindeutig zu begrüßen ist, aber auch ihre Vereinzelung anzeigt.