M. Sabrow u.a. (Hrsg.): 1989 - Eine Epochenzäsur?

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Title
1989 - Eine Epochenzäsur?.


Editor(s)
Sabrow, Martin; Siebeneichner, Tilman; Weiß, Peter Ulrich
Series
Geschichte der Gegenwart
Published
Göttingen 2021: Wallstein Verlag
Extent
307 S.
Price
€ 29,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Max Trecker, Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO), Leipzig

Die Eskalation des Krieges der Russischen Föderation gegen die Ukraine im Februar 2022 hat viele alte Gewissheiten ins Wanken gebracht. Bundeskanzler Olaf Scholz hat bereits wenige Tage nach Ausbruch des Krieges von einer „Zeitenwende“ gesprochen. Viele andere Akteure aus Politik, Wissenschaft und Medien haben ihm sekundiert. Ein nicht-provozierter Krieg zwischen zwei souveränen Ländern – so zumindest die in Europa und Nordamerika dominierende Sichtweise – stelle einen Bruch mit der Nachkriegsordnung dar. Der Einmarsch der russländischen Armee in die Ukraine mit dem Ziel, große Teile des Landes zu annektieren, hat die Illusion zerstört, dass alle Grenzfragen in Europa geklärt seien und sich die Katastrophe der zwei Weltkriege, die in Europa ihren Anfang nahmen, nie wiederholen werde. Das Konzept der „Zeitenwende“ ist ein Rationalisierungsversuch, das scheinbar Unverständliche zu verstehen und mental zu verorten.

Dahinter steht zumindest die implizite Annahme, dass sich das Nachkriegs-Europa von 1945 bis 2022 in einem Kontinuum befunden habe, in einer Phase des Friedens und der Prosperität, die nun zu Ende gegangen sei. Dies wirft die Frage auf, welche Rolle „1989“ in zeithistorischen Narrativen zur Erklärung der Gegenwart spielen kann. Zwischen 1989 und 1991 haben sich die staatssozialistischen Regime im östlichen Europa aufgelöst. Das sowjetische Imperium ist hierbei weitgehend friedlich und an seinen Sollbruchstellen aufgebrochen. Ist die „Nachkriegsordnung“ von Jalta und Potsdam lediglich transformiert worden oder hat bereits 1989-1991 eine tiefe Zäsur, eine „Zeitenwende“, stattgefunden, deren Tragweite bis heute noch nicht vollkommen verstanden wurde? Diese Frage hat durch die Ereignisse der letzten Monate eher an Aktualität gewonnen als verloren.

Der vorliegende Band ist noch vor der Eskalation des seit 2014 gegen die Ukraine stattfindenden Krieges erschienen. Die Autorinnen und Autoren konnten sich in ihren Beiträgen daher nicht mehr auf die Ereignisse seit Februar 2022 beziehen. Dennoch stellt der Band in Summe einen hoch aktuellen und wichtigen Beitrag zur zeithistorischen Forschung dar. Der Band ist aus einer Ringvorlesung an der Humboldt-Universität Berlin im Wintersemester 2019/2020 hervorgegangen. Ihm fehlt eine klassische Einleitung, als eine Art Leitartikel fungiert der Beitrag von Martin Sabrow mit dem Titel „Mythos ‚1989‘“, der direkt auf das knapp gehaltene Vorwort folgt. Sabrow geht es in seiner Verwendung des Begriffs Mythos vor allem um die Art und Weise, wie die mit dem Jahr 1989 verbundenen Ereignisse Eingang ins kulturelle Gedächtnis gefunden haben und erinnert werden – zum Teil losgelöst vom tatsächlichen Geschehen. Am offensichtlichsten zeige sich die mythische Qualität der Revolution von 1989 in der „Harmonisierungskraft, die die Unterschiede zwischen den zeitgenössischen Zielvorstellungen und den historischen Ergebnissen einzuebnen vermochte“ (S. 14).

Sabrow verweist mit dem analytisch-sezierenden Blick des Historikers am Beispiel der DDR darauf, dass die Akteure des Herbstes 1989 mehrheitlich auf einen reformierten Sozialismus drängten und nicht auf eine bedingungslose Übernahme des westlichen Systems. Erst die Enttäuschung über den unerwarteten Ausgang der Volkskammerwahl im März 1990 habe zu einer Abkehr der Bürgerrechtler von der Suche nach einem idealen Sozialismus und einer politischen Autotransformation hin zum Konservatismus geführt. Sabrow konstatiert, dass sich nach der Wiedervereinigung schnell der nüchterne Begriff „Wende“ etabliert habe und der Begriff „Revolution“ aus dem politischen Leben in etwa zeitgleich mit den ostdeutschen Akteuren von 1989 verschwunden sei. Erst mit den Feierlichkeiten zum Mauerfall 2009 habe der Begriff „friedliche Revolution“ Einzug in die Öffentlichkeit gehalten, wodurch ostdeutschen Akteuren wieder mehr Handlungsmacht zugestanden ist. Sabrow betont, dass es sich bei den Ereignissen von 1989 nicht ausschließlich um eine Geburtsstunde der liberalen Demokratie gehandelt habe, sondern dass auch Rechtspopulisten Anspruch auf das Erbe von 1989 erheben könnten. Bereits Ende November 1989 hätten sich in Ostdeutschland Ortsverbände rechtsextremer Parteien gegründet und bei der Leipziger Montagsdemo am 22. Januar 1990 sei es zu Ausschreitungen und Gewalt gegen linke Jugendgruppen gekommen. Schade ist, dass sich Sabrows Aufsatz lediglich auf die DDR bezieht. Die Erfahrungen der anderen ost(mittel)europäischen Länder bleiben unberücksichtigt.

Diese Aufgabe obliegt anderen Autoren des Sammelbandes wie etwa Jan C. Behrends, der sich primär der Sowjetunion widmet. Er betont einerseits den Zäsur- und Revolutionscharakter von 1989 für das kommunistische Ostmitteleuropa, hält andererseits eine eindeutige Bewertung für die Sowjetunion und vor allem für den größten Nachfolgestaat – die Russische Föderation – für wesentlich schwieriger. Im Gegensatz zu den ostmitteleuropäischen Ländern habe es in Moskau keinen „Runden Tisch“ gegeben, an dem Macht neu verhandelt worden sei. Bei den Machtkämpfen, die sich ab 1989 in der Sowjetunion – respektive Russland – abgespielt haben, seien Gesellschaft und Öffentlichkeit weitestgehend Zuschauer geblieben. Nicht unproblematisch ist, dass Behrends Aufsatz ein Hauch von Essentialismus umweht. Eine solche Sichtweise ist auch in russischen liberalen Dissidentenkreisen durchaus populär. Es ist jedoch zumindest fraglich, ob der russische Mensch per se auf absehbare Zeit nicht in der Lage dazu ist, eine liberale und demokratische Gesellschaft zu bauen. Andere Stimmen – wie Stephen Kotkin – haben auch nach den Ereignissen vom Februar 2022 wiederholt geäußert, dass es keinen fundamentalen Grund gebe, warum Russland nicht einen ähnlichen Entwicklungspfad einschlagen könne wie Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Zusammenbruch seines Imperiums.

Besonders gelungen ist der Beitrag von Dieter Segert über populistische Bewegungen in Ostmitteleuropa. Segert setzt sich analytisch und nüchtern mit dem Phänomen auseinander und fragt nach der Bedeutung von „1989“. Er definiert Populismus hierbei als eine Politik, „die von der Entfremdung zwischen der politischen Klasse und der von ihr repräsentierten Bevölkerung zu profitieren versucht“ und ein ambivalentes Verhältnis zur Demokratie aufweise (S. 76). In der zunehmenden Anziehungskraft des politischen Populismus sieht der Autor nicht nur Gefahren, sondern auch Chancen für Akteure mit einem positiven Demokratieverständnis zur Überwindung der Demokratiekrise beizutragen. Die Populisten könnten zwar keine Lösungen anbieten, sie verwiesen aber auf real existierende Probleme. Letzteres erkläre in Teilen ihren anhaltenden Erfolg. Segert sieht im Erfolg populistischer Bewegungen und völkisch-nationaler Politik in Ostmitteleuropa mehrere historische Ursachen, die auch auf „1989“ verweisen. So hätten die kommunistischen Parteien in der Region bereits in der Spätphase des Kommunismus versucht, über die Karte des Nationalismus an Legitimität zu gewinnen. Die populistischen Parteien stünden daher in den Fußstapfen des Nationalkommunismus. Der Zusammenbruch des Kommunismus habe die Suche nach einer neuen Identität erfordert, hierdurch sei das Erbe der autoritären Zwischenkriegszeit aufgewertet worden. Darüber hinaus habe die Transformation der 1990er Jahre viele Menschen entwurzelt oder zumindest stark verunsichert. Zwischen 2005 und 2013 sei zudem das Parteiensystem, das sich post-1989 gebildet hatte, zusammengebrochen. Dieses Vakuum sei von den populistischen Bewegungen gefüllt worden.

Die anderen Beiträge seien hier aus Platzgründen nur teilweise umrissen. Sie beschäftigen sich unter anderem mit dem Wandel der Medienlandschaft (Mandy Tröger/Peter Ulrich Weiß/Matthias Warstat), Sportgeschichte (Jutta Braun) und Umweltgeschichte (Astrid Mignon Kirchhof) sowie Spezialthemen wie Ehegattenunterhalt in der Scheidungsrechtspraxis (Anja Schröter). Mehrere Beiträge widmen sich der Genese der intellektuellen Aufarbeitung des kommunistischen Erbes nach 1989 (Gerhard Sälter/Peter Brandt/Nenad Stefanov). Die Qualität der einzelnen Beiträge schwankt. Manche Aufsätze sind eher analytisch, andere deskriptiv veranlagt. Vereinzelt kann das Versprechen, sich kritisch mit der Bedeutung von 1989 in einer ‚longue durée‘-Perspektive auseinanderzusetzen und lieb gewonnene Narrative zu hinterfragen, nicht eingelöst werden. Dies gilt etwa für den Beitrag André Steiners über das ökonomische Erbe von 1989, der in Narrativen aus den 1990er Jahren verharrt. Die höchsten Weihen des Genres bleiben diesem Sammelband verwehrt. Die einzelnen Beiträge nehmen keinen Bezug aufeinander, sondern stehen eher nebeneinander. Der ansonsten sehr gelungene Beitrag von Sabrow kann dieses Manko durch den alleinigen Bezug auf Ostdeutschland nur in Teilen ausgleichen. Trotz dieser Einschränkungen handelt es sich um einen lesenswerten Band, der zum Nachdenken anregt und an Relevanz in den letzten Monaten gewonnen hat.

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03.11.2023
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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