„Imperien“ sind eine Universalie der Weltgeschichte; es macht Sinn und erklärt Voraussetzungen unserer Gegenwart, wenn wir von Akkad bis zum Britischen Weltreich in Bezug auf dieses Konzept vergleichen, aber auch nach Interaktionen und Entwicklungen fragen.1 „Imperium“ wird hier im Unterschied zu „System“ gesehen. Wird in ersterem eine „Welt“ unter einer Regierung zusammengefasst, so wird in letzterem über die (jeweilige) Welt in Konkurrenz zwischen verschiedenen Mächten entschieden. Eines dieser Systeme war das europäische, innerhalb dessen die Nationalstaaten gebildet wurden. Dabei sind viele neue Nationen an den Peripherien alter Imperien entstanden, und viele Reiche sind von den Rändern her aufgerollt worden.2 Seit William Appleman Williams wird diskutiert, ob die USA ebenfalls in die Reihe der Imperien gehören.3
Der Verein für Geschichte des Weltsystems 4 hatte mit Unterstützung der Volkshochschulen Hannover und Calenberger Land zu einer Tagung eingeladen, bei der eine Vielfalt von Beziehungen zwischen den Regionen in Imperien vorgestellt und diskutiert wurde. Ausgangspunkt war die Erneuerung der Debatte über Imperien, die in der deutschsprachigen akademischen Öffentlichkeit von Herfried Münkler vorangebracht worden ist.5 Der Veranstalter HANS-HEINRICH NOLTE (Wien) begründete zur Einführung, warum er gegenüber Münklers politikwissenschaftlichem Begriff ein historisches, an Quellenbegriffen und engen Kriterien orientiertes Konzept nach wie vor für wissenschaftlich ergiebig hält.6 Er wies aber auch darauf hin, dass die Geschichtsschreibung als per definitionem „danach“ arbeitende Wissenschaft durch politischen Gebrauch von Geschichte überholt werden kann, z.B. wenn eine politisch einflussreiche Gruppe es zu ihrem Programm erhebt, ein Imperium zu gründen. Dann kann der politikwissenschaftliche Begriff mit historischen Bruchstücken aufgeladen werden, wie das mit dem deutschen „Dritten Reich“ oder dem italienischen „Imperio“ vorexerziert worden ist.
Und in der Tat bezeichnen zunehmend nicht nur linke Kritiker wie Benjamin Barber, Noam Chomsky oder Jean Ziegler die USA als Imperium, sondern auch konservative Amerikaner nehmen den Begriff auf. Ein moderner, wenn auch mit historischen Konnotationen arbeitender Imperiumsbegriff wird auch deshalb denkbar, weil die reale Macht der USA fraglos hegemonialen und globalen Charakter besitzt - nicht nur militärisch und kulturell, sondern auch z. B. in der Kontrolle von Daten. Falls die USA wirklich die Errichtung eines Imperiums zu ihrem politischen Ziel machten, wäre das nicht von vornherein aussichtslos. Denkbar wäre auch ein Kondominium mit China – um im historischen Bild zu bleiben: mit einem Kaiser im Westen und einem im Osten.
Legitimation dieser neuen Imperien könnte das Versagen von Nationalstaaten werden, den inneren Frieden zu sichern – nicht nur in Somalia oder Syrien, sondern auch in den Philippinen oder Russland, wo die reichen Minderheiten körperlich gefährdet sind.7 Auch die kontinuierliche Unfähigkeit vieler Nationalstaaten, die Ausgaben den Einnahmen anzupassen, könnte zum Argument werden - nicht, weil Imperien besser haushalten, sondern weil die Konkurrenz der Staaten am Kapitalmarkt eingeschränkt würde. Die Euphorie des „Nationbuilding“ ist jedenfalls verflogen. Jörg Fisch hat herausgearbeitet, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker erst im Kontext des Kalten Kriegs zur Norm des Völkerrechts gemacht wurde,8 ein Imperium könnte sie aushebeln.
Von dieser Perspektive aus wurden auf der Konferenz in Hannover und Barsinghausen Beispiele für die Schwierigkeiten von Imperien im Umgang mit den zugehörigen Peripherien vorgetragen. Es wurde also nach der Kompetenz von Imperien gefragt. DARIUSZ ADAMCZYK (Warschau) zeigte anhand der Funde von über 365.000 Dirhems zwischen Russland und Haithabu, dass Osteuropa zwischen dem 8. und dem 12. Jahrhundert ökonomisch eine Peripherie des Kalifats war, aus der vor allem Pelze und Sklaven exportiert wurden, also Naturprodukte und billige Arbeitskraft. Das Potential des arabischen Imperiums reichte jedoch nicht aus, um diesen Raum politisch zu organisieren, so dass Staaten entstanden seien, die (mit der Ausnahme der Khanate der Chasaren und der Wolgabulgaren) schließlich christlich wurden.
MICHAEL ZEUSKE (Köln) machte deutlich, dass die christlichen und muslimischen Sklavenhändler in der Frühen Neuzeit weithin von den innerafrikanischen abhingen, die „Agency“ beim Sklavenhandel also eher in Afrika zu suchen sei, als bei den europäischen Handelskompanien, die schon der guten Archivmöglichkeiten wegen in der Forschung im Zentrum stünden. Leider wissen wir wenig über die „Produzenten“ der Ware Mensch im Hinterland, so Zeuske. Vielleicht agierten die europäischen Handelsgesellschaften eher an der Peripherie der afrikanischen Händler als umgehrt? Noch größere Forschungslücken als zu Afrika gebe es zum Sklavenhandel im Indischen Ozean.
HANS-HEINRICH NOLTE (Wien) stellte den Wandel in der Duldung der Muslime im Russischen Imperium, in der UdSSR sowie in der Russischen Föderation am Beispiel der Tataren dar: von der personalen Toleranz von Adligen und Freibauern, die in der Moskauer Periode auch eine Bestandssicherung umfasste, über die soziale Dequalifizierung der petrinischen Periode, bis zu den Territoriumsbildungen der sowjetischen Periode, auf denen die heutigen muslimischen Republiken am Ural beruhen. Die Beschreibung der recht starken Stellung der heutigen Republik Tatarstan im Rahmen der Föderation provozierte eine engagierte Debatte über „Russlandversteher“ und „Russlandkritiker“. Insgesamt wurde deutlich, dass die immer wieder einmal unternommenen Versuche des Imperiums zur Christianisierung oder gar Russifizierung keine Erfolge hatten.
CHRISTIAN LEKON (Lefke) verglich die Stellung Zyperns im Osmanischen bzw. Britischen Imperium ab 1517 bzw. 1878. Unter der Herrschaft des Topkapi in Istanbul gehörte Zypern zur „Herde“ (r’aya) des Sultans, zahlte Steuern und alimentierte askeri. Die Beziehung wurde durch die hierokratische Position der Orthodoxen Kirche modifiziert, aber gelegentliche Förderung muslimischer Gruppen habe nicht zur Islamisierung der Insel geführt. Unter britischer Herrschaft bestanden die Fronten eher zwischen britischer und endogener Oberschicht, und die Zentrum-Peripherie-Beziehungen, so Lekon, wurden durch den entstehenden Nationalismus „unterlaufen“. Das Interesse des fernen Zentrums in London habe nicht in der Vereinheitlichung der beiden ethnischen Gruppen gelegen.
JENS BINNER (Buchenwald) schilderte sowohl den wachsenden Bedarf des Deutschen Reiches an billiger Arbeitskraft im Zweiten Weltkrieg als auch die unterschiedlichen Methoden zur Behebung des „Arbeitskräftemangels“ zwischen Werbung in Norwegen oder Frankreich und Zwangsarbeit in den besetzten Gebieten Osteuropas. Er stellte das Einwirken rassistischer Konzepte heraus, mit denen millionenfach Morde und Unterernährung legitimiert worden seien, so dass viele Arbeitskräfte, die man durch Eroberung unterjocht und verfügbar gemacht hatte, vernichtet wurden. Dies kontraproduktive Handeln in der Ausbeutung der Peripherien, so Binner, trug zum Untergang des „Reiches“ fraglos bei.
Die vorgetragenen Beispiele zeigen, dass die Fähigkeiten von Imperien, periphere Räume zu integrieren, zumindest in diesen Fällen enge Schranken hatten. Die ökonomische Prägung Osteuropas durch das Kalifat konnte nicht in politische Herrschaft umgesetzt werden; im internationalen Sklavenhandel ist strittig, wo eigentlich das Zentrum war; Zypern wurde unabhängig und zwischen den Ethnien geteilt; die politische Macht Deutschlands konnte nicht zur zweckrationalen Ausbeutung des Arbeitskräftereservoirs genutzt werden, weil die Besatzer antihumanen Ideologien folgten. Nur Tatarstan gehört noch heute zum von Russland angeführten politischen Verband. Falls die USA also wirklich „imperiale Ambitionen“9 verfolgen, ist keineswegs sicher, was sich davon wie realisieren lässt. Allerdings bietet sich dann desto mehr an, aus politikwissenschaftlicher Sicht größere Konferenzen zu Problemen der Imperien zu organisieren, als sie der kleine Verein für Geschichte des Weltsystems organisieren kann. Aber auch, falls Imperien doch Geschichte im Sinne von Vergangenheit bleiben, behält vergleichende Imperiumsforschung ihre geschichtswissenschaftliche Bedeutung.
Konferenzübersicht
Hans-Heinrich Nolte (pensioniert, Universitäten Wien und Hannover): Die aktuelle Debatte über Imperien
Dariusz Adamczyk (DHI Warschau/Universität Münster): Osteuropa als Peripherie des Kalifats
Michael Zeuske (Universität Köln): Europa als Peripherie globaler Sklavenhandels-Imperien
Hans-Heinrich Nolte (pensioniert, Universitäten Wien und Hannover): Tatarstan im Russischen Reich und in der Russländischen Föderation.
Christian Lekon (Universität Lefke, Nordzypern): Zypern im Osmanischen und Britischen Imperium
Jens Binner (Gedenkstätte Buchenwald): Die besetzten Gebiete des "3. Reiches" als Reservoir für Zwangsarbeit
Anmerkungen:
1 Vgl. zuletzt Jane Burbank, Frederick Cooper: Empires in World History, Power and the Politics of Difference, Princeton 2010; John Darwin: After Tamerlane, The Rise and Fall of Global Empires, London 2008 (Übersetzungen ins Deutsche liegen vor).
2 Hans-Heinrich Nolte: Weltgeschichte. Imperien, Religionen und Systeme, Wien 2005, bes. S. 287 – 308.
3 William Appleman Williams: Die Tragödie der amerikanischen Diplomatie, deutsch Frankfurt 1977 (Original 1959).
4http://www.vgws.org (28.06.2013).
5 Zuletzt Herfried Münkler (Hg.): Was leisten Imperien? in: Zeitschrift für Weltgeschichte 11 (2011), 2.
6 Vgl. Hans-Heinrich Nolte (Hg.): Imperien, Schwalbach 2008.
7 Amy Chua: World on Fire. How Exporting Free Market Democracy Breeds Ethnic Hatred and Global Instability, New York 2003 war lange New York Times Bestseller.
8 Jörg Fisch: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion, München 2010.
9 Noam Chomsky: Imperial Ambitions. Interviews mit David Barsamin, London 2005.