Lösungsvorschläge für konkrete Probleme lassen sich nur selten direkt aus der Geschichte übertragen. Das Wissen der historischen Forschung zu nutzen, um eigene Ideen zu entwickeln, ist hingegen sehr wohl möglich. In diesem Sinne fand am 17. Dezember 2015 in den Räumen der American Academy ein Symposium statt, das sich mit der akademischen Zwangsemigration nach 1933 aus Deutschland und Europa in die USA und den dortigen Maßnahmen zur akademischen Flüchtlingshilfe und Ausgestaltung der Integrationsprozesse auseinandersetzte. Die Veranstaltung zielte auf eine kritisch-historische Analyse, die vor dem Hintergrund aktueller Problemlagen ein Bewusstsein für die Ambivalenz akademischer Flüchtlingshilfe und damit verwobener Integrationsprozesse schaffen sollte. Damit griff die vom DHI Washington konzipierte und von der Max Weber Stiftung geförderte Konferenz ein seit der Gründung des DHI Washingtons zentrales Thema auf, dessen sich der VHD auch auf dem 50. Deutschen Historikertag 2014 angenommen hatte. Implizit ging es auch um die Frage, wie die Aufnahme und Integration geflüchteter Akademiker und Akademikerinnen erfolgen kann.
Zur Eröffnung der Konferenz zeigte GERHARD CASPER (Berlin) an den Beispielen von Hans Kelsen, Hannah Arendt und Friedrich Katz auf, wie tief Migrations- und Fluchterfahrungen von Akademikern und Akademikerinnen die Entwicklung der Disziplinen und die Biografien der Forschenden und Lehrenden bis heute prägen.
MARTIN SCHULZE WESSEL (München) machte in seinem Grußwort als Vorsitzender des Historikerverbandes auf die Chancen und Risiken aufmerksam, die es für Historiker/innen bedeute, sich zu tagespolitischen Themen zu äußern. Die Geschichtswissenschaft habe die Aufgabe, einen „Wissensspeicher, der über den Common Sense hinaus“ ginge, zu schaffen und dürfe sich einem „Diktat der Relevanz“ nicht unterwerfen. Nur durch das Einhalten dieses Grundsatzes sei es möglich sich qualifiziert zu äußern, wenn sich die gesellschaftliche und politische Lage verändere. Hierbei dürfe die Vertiefung und Kontextualisierung geschichtlicher Ereignisse ebenso wenig vergessen werden, wie das Aufzeigen von Ambivalenzen und Schwierigkeiten.
Dass nicht alles, was vergleichbar scheine, auch vergleichbar sei, betonte auch HANS VAN ESS (München). In seinem Grußwort wies der Präsident der Max Weber Stiftung explizit darauf hin, dass geisteswissenschaftliche Forschungsergebnisse selten konkret anwendungsorientiert seien, da epochenspezifische Unterschiede existierten. So sei Deutschland derzeit ein Ziel und nicht – wie im 19. und 20. Jahrhundert – ein Startpunkt der Fluchtbewegung. Weiterhin sei es entscheidend, ob man „von etwas weg oder zu etwas hin“ wolle. Auch der Unterschied zwischen Auswanderung und Flucht wurde betont. Abschließend bemerkte van Ess, dass nationalstaatliche Grenzen für historische Betrachtungen zu eng seien und sich das Denken in internationalen Kontexten bewegen müsse.
In dem ersten der beiden Einleitungsvorträge führte SIMONE LÄSSIG (Washington) differenziert in die Gesamtproblematik „Wissen auf der Flucht“ ein. Sie beleuchtete die Forschungsgeschichte zur akademischen Zwangsmigration insbesondere in die USA: In den 1970er/80er-Jahren ging es zunächst um die Analyse einzelner Schicksale, später um die Wirkungen auf verschiedene Wissenschaftsdisziplinen in Deutschland einerseits, den Emigrationsländern andererseits, wobei der seinerzeit dominierende Verlust- und Gewinndiskurs ein zunehmendes Unbehagen in der Forschung hervorrief. In den letzten Jahren richtete sich das Interesse stärker auf inter- und transnationale Wissensnetzwerke. Daran anschließend, so Lässig, setze das Symposium einen eigenständigen Akzent: Diesmal gehe es weniger um die Emigranten als um diejenigen Akteure, die Wissenschaftlern in Not geholfen haben, um deren Strategien, aber auch um eigensinnige Praktiken und nicht intendierte Folgen. Dementsprechend gab die Referentin einen systematischen Überblick über die Akteure der akademischen Flüchtlingshilfe in den USA und diskutierte Triebkräfte und Motive von Hilfsaktionen. Sehr klar arbeitete sie heraus, dass der zeitgenössische Diskurs eher utilitär denn humanitär geprägt war, was aber den Erfolg entsprechender Bemühungen sogar befördert haben mochte. Trotz starker Vorbehalte nicht weniger Amerikaner und einem prekären akademischen Arbeitsmarkt, so stellte sie abschließend fest, könne die akademische Fluchthilfe im Resultat als effektiv, langfristig integrativ und vor allem lebensrettend – insofern also im Ergebnis auch als humanitär – bezeichnet werden.
Hiernach wagte CAROLA DIETZE (Gießen) – nicht ohne Hinweis darauf, dass die historische Perspektive gegenwärtige Debatten nicht ersetzen könne – Ableitungen aus der Vergangenheit. Sie plädierte dafür, das gesammelte Wissen der Forschung zu nutzen, um die heutige Situation besser zu verstehen und politische Maßnahmen zu identifizieren, die sich nach 1933 als besonders produktiv und effektiv erwiesen haben und die, angepasst an heutige Gegebenheiten, wieder sinnvoll sein könnten. Es sei nun an der Zeit, den Wissensspeicher zu aktivieren und zu versuchen, aus der Geschichte zu lernen, mit historischen Fällen für gegenwärtige politische Maßnahmen zu argumentieren und konkret Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Not zu helfen. Wesentliche Argumente hierfür seien aus verschiedenen Perspektiven vorhanden. Zunächst sei es eine humanitäre und auch moralische Verpflichtung zu helfen, eingedenk der Tatsache, dass auch deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der Vergangenheit geholfen wurde. Weiterhin seien aus akademischer Sicht der geistige Austausch und die gemeinsame Forschung für die Entwicklung der Disziplinen ausgesprochen produktiv. Politisch argumentierte Dietze, dass geschützte Rückkehrer/innen in Zukunft entscheidend wichtig für das Herkunftsland sein würden und dass Terrorismus auch mit interkulturellem Dialog, gemeinsam gefundenen Antworten und guten Argumenten bekämpft werden könne und müsse.
„Jeder Intellektuelle in der Emigration, ohne alle Ausnahme, ist beschädigt und tut gut daran, es selber zu erkennen, wenn er nicht hinter den dicht geschlossenen Türen seiner Selbstachtung grausam darüber belehrt werden will.“ Dieses Zitat von Adorno stellte GERHARD HIRSCHFELD (Stuttgart) dem Panel „Deutsche Akademikerinnen und Akademiker auf der Flucht“ voran und rief damit der Konferenz die Beschädigungen ins Gedächtnis, die die Geflohenen erlitten.
CHRISTINE VON OERTZEN (Berlin) konzentrierte ihren Vortrag hiernach auf die Flucht von Wissenschaftlerinnen und zeigte, dass akademische Flüchtlinge und Flüchtlingshilfe nicht ausschließlich männlich waren. Die bereits 1919 in Großbritannien gegründete International Federation of University Women war ein Zusammenschluss einer großen weltbürgerlich eingestellten weiblichen Elite, die sich die Völkerverständigung sowie die Förderung und das Fortkommen von Frauen in der Wissenschaft zum Ziel gesetzt hatte. Ab 1933 engagierte sich die Organisation in der Flüchtlingshilfe mit dem seinerzeit von Johanna Westerdijk proklamierten Vorsatz: „To put into practice our principles and helping our friends in need.“ Anhand zahlreicher Beispiele schilderte von Oertzen die Aktivitäten der Federation. Sie betonte dabei die effektiven Kommunikationsstrukturen und Hilfsstrategien der Akademikerinnen sowie die neuen Dynamiken, die der Kriegsbeginn bezüglich der Flüchtlingshilfe mit sich brachte und die große Flexibilität, die vonnöten war, um diesen zu begegnen.
Die Aufnahmebedingungen der USA für die Einreise von Flüchtlingen sowie den Einfluss, den eingereiste Wissenschaftler/innen auf die amerikanische Universitätslandschaft hatten, legte CLAUS DIETER KROHN (Lüneburg) dar. Er betonte den „isolationistischen Rückzug“, den die Vereinigten Staaten nach dem Ersten Weltkrieg vollzogen hatten und die strikt regulierten Einreiseprinzipien des Landes. Ausnahmen von der Quote wurden nur gemacht, wenn im Land vakante Arbeitsstellen von Einwanderern besetzt werden konnten. Gerade privat geführte Organisationen wendeten diese Einschränkung zum Mittel der Fluchthilfe, indem sie Stellen schufen und sie mit Geflüchteten besetzten. So wurden die New School for Social Research und das Black Mountain College neu gegründet. Weiterhin inspirierten die geflohenen Akademiker vor allem die Wirtschaftswissenschaften, die Atomphysik und die Biochemie und brachten das Fach der Kunstgeschichte in die Vereinigten Staaten. So wurde das Land auch durch die Geflüchteten zu einer modernen Kulturnation.
In dem Panel „Sicht des Aufnahmelandes auf emigrierte deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler“ wies BARBARA PICHT (Frankfurt an der Oder) einleitend darauf hin, dass sich durch die Migration von Forschenden auch das Wissen selbst transformierte. Andere Sprachen und Kulturen sowie die Erfahrungen der Flucht wirkten sich erheblich auf die geistige Arbeit aus.
MALCOM RICHARDSON (Washington) ging im Anschluss daran zunächst auf die gesellschaftliche Haltung gegenüber Geflüchteten in den Vereinigten Staaten der 1930er-Jahre ein. Er machte der Konferenz deutlich, dass die öffentliche Meinung – wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage des Landes – nicht nur als ambivalent, sondern durchaus als feindlich zu bezeichnen war. Vor diesem Hintergrund sei die Arbeit der Stiftungen, die sich für geflüchtete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einsetzten, einzuschätzen. Die Erklärung der Ausübung eines humanitären Aktes allein hätte keine Unterstützung bekommen. Die Auswahl der „Produktivsten“ und die Schaffung eigener Stellen bzw. von Anschubfinanzierungen waren demnach sowohl für die Stiftungen als auch für die gesellschaftliche Akzeptanz entscheidende Maßnahmen. Weiterhin ging Richardson auf den empirischen Integrationserfolg ein. Ein Großteil der Geflohenen hatte bis zum Ende der 1940er-Jahre eine Anstellung gefunden. Gleichzeitig sei es aber durchaus problematisch, den Hilfserfolg zu messen. Entscheidend wäre hierfür auch, ob bei der Aufgabe Remigration oder Assimilation zum Ziel erklärt worden seien, wobei letztere überhaupt erst definiert werden müsste.
Im letzen Vortrag wurde die Perspektive der Konferenz durch Carola Dietze (Gießen) erweitert, die auf die europäische Sicht auf akademische Migrant/innen einging. Vor allem am Beispiel der Erfahrung Helmut Plessners in den Niederlanden, aber auch für England und Frankreich, machte Dietze verschiedene strukturelle Gegebenheiten aus, die Geflüchtete nach 1933 in den Ankunftsländern vorfanden. Die Erwartung, dass die Akademiker nur kurzfristig bleiben würden, machte eine langfristige Planung für alle Beteiligten schwierig. Das Lehrstuhl-Prinzip erschwerte es, eine gesicherte Anstellung zu erreichen. Allerdings konnten etwa Stiftungsprofessuren (wie in den Niederlanden) diesem Problem entgegenwirken. Hinzu kamen für Zugereiste typischerweise schwer durchschaubare kulturelle Codes (England) oder Sprachschwierigkeiten (Frankreich). Auch bezüglich des Lebensalters der Migrierten ergaben sich Schwierigkeiten. Der wissenschaftliche Nachwuchs galt als leichter integrierbar, die Professorinnen und Professoren aber hatten durch ihre bereits erfolgte Karriere schon Kompetenzen erworben und unter Beweis gestellt. Wie wichtig besonders in den Geisteswissenschaften das kollegiale Netzwerk war, betonte Dietze ebenfalls. So gab es in den Extremen entweder die Möglichkeit, geistig zu vereinsamen oder es wuchs neues Wissen durch die Arbeit mit neuen Kolleginnen und Kollegen sowie durch Reflexionen über das Exil.
In der abschließenden Diskussionsrunde „Flucht damals und heute“, die von der Journalistin ANNA-LENA SCHOLZ (Berlin) moderiert wurde, beschäftigte sich die Konferenz vor allem mit der gegenwärtigen Situation akademischer Geflüchteter.
Zunächst schilderte AMMAR ABDULRAHMAN (Damaskus / Koblenz) kurz die komplexe und schwierige Situation in Syrien und an der Universität in Damaskus und machte darauf aufmerksam, dass das Lehrstuhl-Prinzip an deutschen Universitäten für die Aufnahme von geflüchteten Akademikerinnen und Akademikern problematisch sei. Die Kriterien zur Evaluation der Exzellenz von wissenschaftlichen Beiträgen und zum Vergleich von Leistungen stellten in ihrer derzeitigen Gestalt große Hindernisse dar. STEFAN LEDER (Beirut) informierte die Konferenz über die Unterstützung von bzw. die Zusammenarbeit mit akademischen Flüchtlingen aus Syrien am Orient-Institut in Beirut und verwies auf die eingeschränkten Möglichkeiten, nach denen nur diejenigen eingestellt werden könnten, die Familie im Libanon hätten.
Für die Alexander von Humboldt Stiftung berichtete ULRIKE ALBRECHT (Bonn) von der jüngst eingerichteten Philipp Schwartz Initiative, die es Universitäten ermöglicht, sich um 20 Stipendien für von ihnen ausgewählte Scholars at Risk zu bewerben. Es sei wichtig, den Universitäten die Entscheidung zu überlassen, wie das Geld eingesetzt würde, nur so könne die zukünftige Zusammenarbeit an den Instituten gewährleistet werden. Zusammenarbeit war auch das Anliegen von MOHAMMAD M. MOJAHEDI (Berlin), der auf die Schwierigkeiten aufmerksam machte, die eine einseitige „Willkommenskultur“ mit sich bringen könnte. Er machte sich dafür stark einen bevormundenden „Guten Willen“, mit dem das Gastland entscheide, was am besten sei, durch eine konstruktive Zusammenarbeit der globalen akademischen Gemeinschaft zu ersetzen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die nun in die Aufnahmeländer kämen, seien gut ausgebildet und hätten eine große Expertise bzgl. ihrer Herkunftsländer. Sie seien dementsprechend nicht als Problem, sondern als „Teil der Lösung“ zu betrachten.
Im Verlauf der Diskussion verwiesen mehrere Anwesende auf das große Potenzial, das in einer Zusammenarbeit dieser großen Zahl von eingesessenen und eingereisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern liege. Auf neutralem Boden könnten beispielsweise sogar neue Antworten auf „Süd-Süd-Konflikte“ gefunden werden. Hierzu müssten aber Sprachbarrieren überwunden werden und die Möglichkeit zum Publizieren in arabischer Sprache auch von den Aufnahmeländern aus gegeben sein. Vorurteile, die trotz gesprochener political correctness spürbar seien, müssten zugunsten einer Gemeinschaft, die geprägt ist von „Recognition, Representation and Solidarity“ (Mojahedi) abgebaut werden. In diesem Sinne, so bekräftige Ulrike Albrecht, wollen Initiativen und Stiftungen, wie das Scholars at Risk Network, der Scholars Rescue Fund und die Alexander von Humboldt Stiftung Plattformen bieten, Workshops organisieren und die gemeinsame Arbeit und das gemeinsame Lernen befördern. Weiterhin wurde auf die bereits bestehende Kiron University für geflüchtete Studierende hingewiesen und auch auf die Tatsache, dass bei den angestrebten Bemühungen zur Unterstützung und Integration auch die Menschen berücksichtigt werden müssten, die schon vor einiger Zeit nach Deutschland immigriert sind. Die Forderung, sich an in der Vergangenheit erfolgeichen Modellen zu orientieren und mehr Initiativen zu schaffen, die konkret helfen, wurde abschließend bekräftigt und im Anschluss an die Veranstaltung in einem Memorandum festgehalten.1
Konferenzübersicht:
Begrüßung
Gerhard Casper (American Academy)
Martin Schulze Wessel (Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands)
Hans van Ess (Max Weber Stiftung)
Einführung
Simone Lässig (Deutsches Historisches Institut Washington)
Carola Dietze (Universität Gießen)
Deutsche Akademikerinnen und Akademiker auf der Flucht
Moderation: Gerhard Hirschfeld (Universität Stuttgart)
Christine von Oertzen (MPI für Wissenschaftsgeschichte)
Claus Dieter Krohn (Universität Lüneburg)
Sicht des Aufnahmelandes auf emigrierte deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
Moderation: Barbara Picht (Europa-Universität Viadrina)
Malcolm Richardson (Washington)
Carola Dietze (Universität Gießen)
Flucht „damals und heute”
Moderation: Anna-Lena Scholz (Die ZEIT)
Stefan Leder (Orient-Institut Beirut)
Ulrike Albrecht (Alexander von Humboldt Stiftung)
Mohammad M. Mojahedi (Freie Universität Berlin)
Ammar Abdulrahman (Universität Konstanz)
Anmerkung:
1 Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands: Wissen auf der Flucht. Ein Memorandum, 18.12.2015, in: VHD, <http://www.historikerverband.de/verband/stellungnahmen/wissen-auf-der-flucht-ein-memorandum.html> (11.01.2016).